A. Einleitung
Eine eigene Studie zur Religion Voltaires auszuführen, überstiege bei weitem die zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten unserer Stiftung. Deshalb greifen wir zu René Pomeaus 1969 erschienener Doktorarbeit La Religion de Voltaire, in der er auf über 500 Seiten untersucht, wie sich Voltaires Position zur Religion im Laufe seines Lebens veränderte.
Wir fassen das Buch Kapitel für Kapitel zusammen und bringen zu Beginn die wichtigsten Quellentexte, auf die sich der Autor in dem Abschnitt bezieht. Pomeau zeichnet am Ende seines Werkes folgendes Bild von Voltaires religiöser Haltung:
Wenn wir die Natur beobachten, entdecken wir, dass sie nach feststehenden Gesetzen, wie ein Uhrwerk funktioniert, nach Gesetzen, die sich nie ändern: Ein Apfel fällt nie zum Himmel, sondern immer zum Erdmittelpunkt, so wie sich die Gestirne um das Zentrum ihres Sonnensystems drehen. Daraus folgert Voltaire, dass dieses System mit all seinen Regeln und Gesetzen einen großen Mechanisten besitzen muss, der es eingerichtet hat, ähnlich einem Uhrmacher, der die Teile eines Uhrwerks einrichtet und zum Laufen bringt. Ebenso wie beim einmal funktionierenden Uhrwerk ist ein Eingreifen des Ingenieurs später nicht mehr erforderlich, es gibt keine Wunder, also keine Ereignisse, die nur durch das Außerkraftsetzen der bestehenden Gesetze geschehen. Es gibt auch keine Offenbarung, der Uhrmacher teilt sich seinem Uhrwerk nicht mit, genauso wenig der Schöpfer seinen Kreaturen.
Aus dieser Charakterisierung ergeben sich jedoch eine ganze Reihe von Problemen, die alle damit zusammenhängen, dass Voltaire folgende Fragen, teils energisch, verneinte:
1. Wenn es einen allmächtigen Uhrmachergott gibt, ist dann die Welt nicht wirklich die beste aller möglichen Welten (sonst hätte der Gott Fehler begangen, wäre also nicht allmächtig)?
2. Wie kommt das Böse in die Welt? Gibt es etwa einen Gegenspieler?
3. Was spricht gegen die Annahme einer Offenbarung? Könnte nicht der Mensch, weil vernunftbegabt, eine geistige Verbindung zu Gott aufnehmen?
4. Greift nicht auch ein Uhrmacher, zumindest für Reparaturmaßnahmen, in das Räderwerk korrigierend ein? Muss selbst die beste Uhr nicht von Zeit zu Zeit aufgezogen werden?
5. Gibt es eine Seele, wenn ja, ist sie unsterblich, wird sie auferstehen?
6. Gibt es ein jüngstes Gericht, eine Bestrafung und Belohnung im Jenseits?
Und noch fundamentaler: Wer muss eine Behauptung beweisen, vor allem, wenn die Existenz einer Sache – wie hier Gott – behauptet wird? Was spricht dafür, dass Platon gelebt hat? Was spricht dafür, dass Gott existiert(e)?
Welche Haltung hat Voltaire zu dieser Frage eingenommen?
Wir werden zunächst die einzelnen Kapitel des Buches von Pomeau referieren, um daran anschließend die Kritik an Pomeaus Darstellung vorzustellen, wie sie etwa von Theodore Besterman, dem unbestritten besten Voltairekenner aller Zeiten, formuliert wurde.
Th. Besterman nahm an, dass Voltaire den Atheismus aus taktischen Gründen ablehnte, um seinen antichristlichen Kampf nicht zu gefährden. Zu seiner Zeit war der Atheismus als unmoralisch verdächtig, stand im Ruf, eine Lehre zu sein, die die ganze Gesellschaft, den Staat und die absolutistische Monarchie bedroht.
Voltaire sah insbesondere sein Hauptziel gefährdet, wenn man, wie die Atheisten um d’Holbach oder auch La Mettrie, über das Ziel hinausschiesst. Voltaire hatte das Christentum im Visier, argumentierte, dass dieses sich von der wahren Religion unterscheide, dass seine Kirchen vor allem auf ihre Pfründe, auf ihre Macht bedacht wären und den Glauben aus politisch-strategischer Absicht nur heuchelten. Die mächtigste Institution seiner Zeit gehöre daher abgeschafft, um die Religion zu reinigen und sie in ihrer ursprünglichen, natürlichen Art wieder herzustellen. Forderte man, wie die Atheisten, die Religion insgesamt abzuschaffen, könnte dies einen gegenteiligen Effekt haben: die Kirche würde sich, so schlecht sie auch wäre, als Verteidigerin des Staates, der Moral, der Religion überhaupt inszenieren. Religiöse Kritiker (‚Reformer‘, wie wir sie heute nennen) der Kirche würden wahrscheinlich als Bündnispartner verloren gehen.
Ein offensiv betriebener Atheismus hätte somit in eine vorhersehbare Niederlage geführt und keiner der zentralen Kämpfe (Calas, Sirven, La Barre) wäre gewonnen worden.