Tolérance – Toleranz

Was ist Toleranz? Toleranz ist die Lebensader der Humanität. Wir alle sind voller Schwächen und Irrtümer: Vergeben wir uns gegenseitig unsere Dummheiten! – dies sei das erste Gesetz der Natur.
Wenn an der Börse von Amsterdam, in London, in Surat oder Basra der Anhänger Zarathustras, Banians1, der Jude, der Mohammedaner, der gläubige Chinese, der Brahmane, der griechisch-katholische Christ, der römisch-katholische Christ, der protestantische Christ, der christliche Quäker miteinander Handel  treiben, so zücken sie nicht ihre Messer gegeneinander, um Seelen für ihre Religion zu gewinnen. Warum haben wir uns dann seit dem Konzil von Nicäa2 fast pausenlos die Hälse durchgeschnitten?  Konstantin begann mit einem Erlass, der alle Religionen erlaubte, doch er endete als Verfolger. Vor ihm erhob man sich gegen die Christen nur, wenn sie anfingen, sich in die Staatsgeschäfte einzumischen. Die Römer ließen jede Religion zu, sogar die der Juden und die der Ägypter, welche sie so sehr verachteten. Warum tolerierte Rom diese Religionen? Weil weder Ägypter noch Juden versuchten, die alte Religion des Imperiums auszulöschen, weil sie nicht über Land und Meer auszogen, um Anhänger zu machen, sie waren nur darauf bedacht, Geld zu verdienen, aber es ist unbestreitbar, dass die Christen ihre Religion zur allein herrschenden  machen wollten. Die Juden wollten die Jupiterstatue nicht in Jerusalem dulden, aber die Christen wollten sie nicht auf dem römischen Kapitol. Der heilige Thomas gab ehrlich zu, dass die Christen die Kaiser nur deshalb nicht vom Thron gestürzt haben, weil sie es nicht konnten. Ihre Meinung war, die ganze Welt hätte christlich zu sein. Also waren sie notwendig solange Feinde der ganzen Welt, bis diese bekehrt sein würde.
Sogar untereinander befehden sie sich wegen jedem einzelnen Punkt ihrer Meinungsverschiedenheiten. Hat man Jesus Christus zuallererst als Gott anzusehen, verbannt man diejenigen, die dies leugnen als Ebioniten3 welche ihrerseits wiederum die Jesusanbeter verdammen. Sind einige unter ihnen  dafür, das Eigentum gemeinschaftlich zu gebrauchen, wie es  – behauptet man – zur Zeit der Apostel gewesen war, bezeichnen ihre Gegner sie als Nikolaiten4 und beschuldigen sie der niederträchtigsten Verbrechen. Streben andere nach mystische Hingabe, nennt man sie Gnostiker5 und verfolgt sie mit rasender Leidenschaft. Ringt Marcianus6 um die Dreifaltigkeit, wird er als Götzendiener geschmäht. 
Tertullian, Praxeas, Origines, Novar, Novatianus, Sabellius, Donatus7 wurden alle noch vor Konstantin von ihren Glaubensbrüdern verfolgt, kaum hatte Konstantin der christlichen Religion zur Macht verholfen, zerrissen sich Athanasier8 und Eusebier9  auch schon gegenseitig  und seither watet die Kirche in Blut, bis auf unsere Zeit.
Das jüdische Volk war, ich gebe es zu, ein ebenso barbarisches Volk. Es erwürgte erbarmungslos die Einwohner eines unglücklichen kleinen Landes, auf das es nicht mehr Anrecht besaß als auf  Paris oder London. 

Doch als Naeman10 von seinem Aussatz genas, nachdem er sich sieben Mal im Jordan untertauchte und er Elisa, aus Dankbarkeit dafür, dass er ihm dieses Geheimnis offenbart hatte, versprach, jetzt den Gott der Juden anzubeten, da behielt er sich trotzdem die Freiheit vor, in gleicher Weise den Gott seines Königs anzubeten. Er bat um Elisas Erlaubnis und der Prophet zögerte nicht, sie ihm zu erteilen.
Die Juden beteten ihren Gott an, aber es erstaunte sie nie, dass jedes Volk seinen eigenen hatte. Sie fanden es gut, dass Chamos den Moabitern ein bestimmtes Gebiet  zuwies, vorausgesetzt, dass  ihr Gott ihnen ein ebensolches gab. Jakob zögerte nicht, die Töchter eines Götzendieners zu heiraten. Laban hatte seinen Gott, wie Jakob auch.  Das sind Beispiele der Toleranz bei einem der intolerantesten und grausamsten Völker der ganzen Antike: wir haben es in seinen unsinnigen Greueln nachgeahmt, jedoch nicht in seinem Großmut.
Es ist selbstverständlich, dass ein Privatmann, der einen Anderen, seinen Bruder, verfolgt, ein Scheusal ist. Das unterliegt keinem Zweifel. Jedoch die Regierung, jedoch der Beamte, jedoch die Fürsten, wie benehmen sie sich gegenüber denen, die einer anderen Religion anhängen? Handelt es sich um Ausländer, die Macht besitzen, ist es gewiss, dass sich ein Fürst mit ihnen verbünden wird. François I., sehr christlich, verbündet sich mit den Moslems gegen den sehr katholischen Karl V.  François I. gibt deutschen Lutheranern Geld, um ihren Aufstand gegen den Kaiser zu unterstützen, aber wie üblich beginnt er damit, die Lutheraner in seinem eigenen Herrschaftsgebiet zu verbrennen.  Er bezahlt sie ganz politisch in Sachsen und verbrennt sie ganz politisch in Paris. Aber mit welchem Erfolg? Verfolgungen schaffen neue Anhänger, bald ist Frankreich voll von neu bekehrten Protestanten. Zuerst lassen sie sich hängen, dann hängen sie die anderen, es gibt Bürgerkriege. Dann kommt die Sankt Bartholomäusnacht, und dieser Flecken Erde  ist schlimmer geworden als alles, was uns die Alten und die Modernen jemals über die Hölle erzählt haben.
Irrsinnige, die ihrem Gott, der sie doch erschaffen hat, nie einen reinen Gottesdienst haben darbieten können.
Unselige, die niemals dem  Beispiel der Noachiden11, der chinesischen Schriftgelehrten, der Parsen12 und all der anderen Weisen folgen konnten. Scheusale, die ihr den Aberglauben braucht wie der Kaumagen der Raben das Aas. Man hat es euch schon gesagt und man braucht es euch auch nicht anders zu sagen: habt ihr bei euch zwei Religionen, werden sie sich die Kehle durchschneiden, habt ihr dreißig, leben sie miteinander in Frieden. Seht den Großtürken: er regiert die Guebern13, die Banianen14, die griechischen Christen, die Nestorianer15, die Römer. Der erste, der Unruhe stiftet, wird gepfählt und alle Welt ist friedlich.


1  Banian – portugiesische Bezeichnung für indische Kaufleute, die einer Variante des Hinduismus, dem Jainismus, angehörten. Banyan ist außerdem der Name des heiligen Baums Indiens, eines Feigenbaums, dessen Äste sich durch Luftwurzeln wieder mit der Erde verbinden.

2  Konzil von Nicäa, erstes ökumenisches, von Kaiser Konstantin 325 einberufenes Konzil in Nicäa, heute Iznik (Türkei). Es sollte den Streit zwischen den christlichen Anhängern der Dreifaltigkeitslehre (Trinitianer) und deren Gegner (Arianer), die die Göttlichkeit Jesu bezweifelten und an die Lehre vom ‚einen und einzigen Gott‘ glaubten, schlichten. Heraus kamen Exkommunikation und Verfolgung von Arius und seinen Anhängern, die sich jedoch lange Zeit recht erfolgreich dagegen zur Wehr setzten konnten.

3  Ebioniten, eine Art urchristliche, noch eng mit dem Judentum verbundene Gemeinschaft, die im 1 Jhdt im Ostjordanland lebte.

4  Nikolaiten Kampfbegriff der katholischen Kirche gegen Glaubensgemeinschaften , die – angeblich oder wirklich – sexuelle Freizügigkeit förderten.

5  Gnostiker,Gruppe, die Gott durch Meditation nahe kommen will und sexuelle Freizügigkeit ablehnt.

6  Marcianus, spätrömischer Kaiser (390 – 457) der die Lehre von der Gott-Mensch Doppelnatur Jesu auf dem Konzil von Chalkedon 451 (heute Kadiköy bei Konstantinopel) durchsetzte.

7  …., alles Theologen des 2. und 3. Jahrhunderts.

8  Athanasius,nach Athanasius, der im 4 Jhdt lebte und die Lehre von der Göttlichkeit Jesu fanatisch durchzusetzen versuchte.

9  Eusebier,nhänger von Eusebius von Nikomedia (bis 341), Vertreter des Arianismus, s.o. unter Anm. 3

10  Naeman, aramäischer Feldhauptmann wird von Elisa geheilt 2,Könige,5)

11  Noachiden, Anhänger/Nachfahren Noahs

12,13  Parsen, Guebern, den Lehren Zoroasters anhängende Perser

14  Banian,siehe unter Anm. 1

15  Nestorianer,Anhänger Nestors, bis 431 Patriarch von Konstantinopel – Die religiös-kirchlichen Auseinandersetzungen der Spätantike beschreibt verständlich – und das ist eine nicht ganz einfache Aufgabe – Karlheinz Deschner in : Kriminalgeschichte des Christentums, Band 2 Die Spätantike, Hamburg 1988,677 S.