Todesurteil gegen Pierre-Paul Sirven, Antoinette Sirven
– Jeanne und Anne Sirven lebenslang verbannt.
Im Jahr 1760, zur selben Zeit, als in Toulouse Jean Calas zum Tode verurteilt wurde, verfügte der Bischof von Castres, dass Elisabeth, die neben Anne und Jeanne zweitälteste Tochter der protestantischen Familie Sirven in ein 1686 gegründetes, auf Zwangskonversionen spezialisiertes „Kloster der schwarzen Damen“ eingesperrt werden sollte, um ihren Übertritt zur katholischen Kirche zu erzwingen.
Als man sie aber wieder freiließ, hatte sie nicht den katholischen Glauben angenommen, sondern den Verstand vollends verloren (es gibt Hinweise darauf, daß sie schon vorher gestört war, ihr Zustand im Kloster muss sich extrem verschlimmert haben).
Sirven (1709-1777 ) beschwerte sich über die Behandlung seiner Tochter, wurde aber nicht angehört, sondern sogar noch gezwungen, Elisabeth selbst regelmäßig dem Klostergottesdienst zuführen. Die Sirvens zogen daraufhin nach St. Alby bei Mazamet, um der klerikalen Schikanierung zu entgehen.
Kurz danach, am 4. Januar 1762, wurde Elisabeths Leiche in einem Brunnen der Gemeinde Saint-Alby gefunden.
Der örtliche Richter erließ einen Haftbefehl gegen die ganze Familie Sirven. Er verdächtigte sie, ihre Tochter umgebracht zu haben, um sie daran zu hindern, zum katholischen Glauben überzutreten. Der Familie gelang die Flucht in die Schweiz, wo ihr die Stadt Lausanne ( nicht aber Genf) Asyl gewährte.
Unterdessen (am 29.3.1764) hatte das Gericht in Mazamet die Eltern Sirven in Abwesenheit zum Tode verurteilt, die beiden Töchter sollten, nachdem sie die Vollstreckung des Todesurteils gegen ihre Eltern hätten mitansehen müssen, lebenslang verbannt werden. Der gesamte Besitz der Familie wurde konfisziert, das Urteil vor der Kirche in Mazamet in effigie (an Strohpuppen) vollstreckt.
Voltaire nahm sich der Familie an (Antoinette, die Mutter, hatte die Strapazen der Flucht und die ständige Angst nicht überstanden und war inzwischen verstorben) und mobilisierte den selben Unterstützerkreis, den er schon im Falle Calas aufgebaut hatte (er erwähnt: König von Dänemark, Kaiserin von Rußland, König von Polen, König von Preußen, Landgräfin von Hessen, Gräfin von Dachesen-Gotha, Prinzessin von Nassau-Saarbrücken, Markgräfin von Bayreuth, Prinzessin von Darmstadt, Frau von Geoffrin, Gräfin von Enville, Graf von Choiseuil, Maréchal de Richelieu, Graf von Villars).
Zunächst (1768) wird die Wiederaufnahme des Prozesses abgelehnt. Doch schließlich haben die Anstrengungen Voltaires Erfolg: Am 31. August 1769 kehrt Paul Sirven freiwillig nach Mazamet zurück, um den Prozess wieder in Gang zu bringen und am 25.11.1771 – nach 9 Jahren! – wird das Urteil aufgehoben und der Familienbesitz zurückerstattet.
Sirven schrieb am 27.11.1771 (D17479) an Voltaire:
Je vous dois la vie, et plus que cela le rétablissement de mon honneur, et de ma réputation. Le parlement me jugea avant hier. Il a purgé la mémoire de feu mon épouse et nous a relaxés de l’indigne accusation imaginée par les fanatiques Castrois, m’a accordé la main levée des biens et effets saisis, avec restitution des fruits, et m’a accordé les dépens. […] Vôtre nom Monsieur, et l’intérêt que vous preniés à ma cause ont été d’un grand poids. Vous m’aviés jugé et le public instruit n’a pas osé penser autrement que vous, en éclairant les hommes vous êtes parvenu à les rendre humains.
[Ich verdanke Ihnen mein Leben und darüber hinaus die Wiederherstellung meiner Ehre, meines Rufs. Das Gericht sprach gestern das Urteil über mich. Es hat das Andenken meiner verstorbenen Frau gereinigt und uns von der unwürdigen Anklage freigesprochen, die von den Fanatikern in Castres erhoben worden war. Es hat mir die Verfügungsgewalt über mein Eigentum und das beschlagnahmte Vermögen zugesprochen, die Erträge und die Ausgaben sind wieder in meiner Verfügungsgewalt. … Mein Herr, Ihr Name und das Interesse, das sie für meinen Fall aufgebracht haben war von großer Bedeutung. Sie haben meinen Fall beurteilt und die gebildeten Kreise konnte zu keinem anderen Urteil kommen als Sie. Indem Sie die Leute aufgeklärt haben, ist es Ihnen gelungen sie in Menschen zu verwandeln. (übersetzt v. R.Neuhaus)]
Quellen:
– Voltaire: Avis au public sur les parricides imputés aux Calas et aux Sirven 1766
– www.museeprotestant.org widmet dem Fall eine Seite
– sehr schöne Internetseite über Voltaires Engagement (auf frz.): http://www.site-magister.com/voltaire.htm
Hertz, Eduard, Voltaire und die französische Strafrechtspflege im achzehnten Jahrhundert, Stuttgart: Enke, 1887. Das umfangreiche und grundlegende Werk beschäftigt sich mit dem Fall Sirven in mehreren Kapiteln.