Wer sich über La Mettrie informieren will, sollte nicht zu diesem Buch greifen, in dem man weder zusammenhängend erfährt, wie La Mettrie gelebt, noch was er gelehrt hat. Er sei ein ‚Meister der vorläufigen Meinung‘, ein Holist, und habe die These vertreten, dass es zum Glück des Menschen keine Theologie braucht, die seit Menschengedenken immer nur missbraucht (sic) worden sei, um Menschen zu unterjochen (160). Wieviel mehr wäre über La Mettries Lehre zu sagen, wie etwa, dass er der erste war, der in dem durch die Erziehung eingepflanzten Schuldgefühl eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit sah, oder dass er mit seinem Probedenken, eben gerade kein ‚Meister der vorläufigen Meinung‘ war, sondern vielmehr ein Meister freiheitlichen Denkens, der Phantasie, ein Vorläufer des Surrealismus gar. Und nicht zuletzt wäre er als vehementer Verteidiger der Sinnesfreuden, der Wollust, der Sexualität zu entdecken gewesen. Gerade um letzteres aber macht Schuchter einen riesigen Bogen.
Auf geradezu manische Art fällt Schuchter indessen über Voltaire her, indem er die Äußerungen, in denen er sich kritisch zu La Mettrie äußert, immer wieder in seinen Text einbaut, ohne die vorhandenen positiven Äußerungen auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Bezeichnend, wie er Voltaires witzig gemeinte Mitteilung zum Tod La Mettries an Kardinal Richelieu (so bezeichnet ihn der Autor – es war aber der Marschall, Großneffe des berühmten Kardinals; wenn ein ‚Historiker‘ wie Schuchter solches nicht weiß, hätte er, wie er es an anderen Stellen auch tat, bei Wikipedia nachsehen sollen…) als Beweis für Voltaires lebenslange Feindschaft anführt, jedoch den früheren Brief Voltaires an den befreundeten Richelieu, indem er ihn bittet, für La Mettries Rückkehr nach Frankreich den Weg zu bahnen, auslässt. Ähnlich verfährt er, wenn er aus Voltaires Leben gleich an drei Stellen erzählt, dass dieser sich ein ‚de‘ vor seinen Namen setzte, obwohl er gar nicht adlig war (schlimm, schlimm, welche Anmaßung!), dass er die Lotterie gesprengt, nachtragend als Mensch gewesen sei und die Religion zur Eindämmung der Kriminalität für nützlich erachtete.
Kein Wort verliert Schuchter dagegen über Voltaires Engagement in den Fällen Jean Calas, Sirven und Chevalier de la Barre, wo er der Kirche ihre Inquisitionskeule endgültig aus den Händen schlug – wofür ihn das französische Volk liebte und ihm im Jahr III der Revolution ein Ehrengrab im Pantheon einrichtete. Stattdessen behauptet er, Voltaire sei in seinen Werken für Gerechtigkeit und Moral eingetreten, habe aber privat an sich gedacht und „sein Vermögen vermehrt“, was er wiederum schlimm zu finden scheint, kurz: die alte böse klerikale Leier wird hier und an anderen Stellen heruntergeschuchtert.
Wie das Leben für die Philosophen am Hofe Friedrichs II. aussah, die zwar seinen Schutz genossen, aber sich reihum dem Intrigenspiel Friedrichs II. ausgesetzt sahen, interessiert Schuchter nicht im Geringsten. Wie hat sich La Mettrie verhalten, als Voltaire in der Hirschel-Affäre vom König bloßgestellt wurde? Warum warnte La Mettrie Voltaire in einem vertraulichen Gespräch vor Friedrichs Absicht, ihn „wie eine Orange auszuquetschen und dann die Schale in den Müll zu werfen (J’aurai besoin de lui encore un an, tout au plus; on presse l’orange et on en jette l’écorce)“? Besitzen wir Hinweise, worauf sich Voltaires Einschätzung La Mettries (kein ernsthafter Philosoph) stützte? Welches waren die inhaltlichen Differenzen der beiden? Es hätte dem Buch gut getan, wenn sich Schuchter wenigstens ansatzweise mit solchen Fragen auseinandergesetzt hätte, statt seitenlang die Geschichte der Syphilis, oder die der Automaten bis hin zu E.T.A. Hoffmann wikimäßig nachzuerzählen.
Was nicht in diese Strategie passt, wird ausgelassen, wie etwa bei der bereits erwähnten Stelle aus Voltaires Brief an den ‚Kardinal‘ Richelieu: „Dieser La Mettrie…mitsamt seiner strotzenden Gesundheit und seinen verrückten Ideen, er ist soeben zu Grunde gegangen“. Ohne die Auslassungen heißt der Satz auf Französisch so: « Ce La Mettrie, cet homme-machine, ce jeune médecin, cette vigoureuse santé, cette folle imagination, tout cela vient de mourir..» also : Dieser La Mettrie, diese Mensch-Maschine, dieser junge Mediziner, diese kraftvolle Gesundheit, diese verrückte Einbildungskraft, all dies ist gerade verstorben. Klingt in diesem Satz, vollständig zitiert, nicht so etwas wie Bewunderung und in dem Nachsatz all dies ist gerade verstorben (und eben nicht: zu Grunde gegangen!) nicht so etwas wie Trauer mit?
Schuchters Buch folgt einem mittlerweile bekannten Muster: die Aufklärung treffen, indem man den Hauptvertreter der Aufklärung verächtlich macht, sich dabei als unverdächtig erweisen, indem man ihm einen anderen Protagonisten der Aufklärung als positives Beispiel entgegenstellt, dabei jedoch von dessen Gedanken und Positionen nur so wenig wie unbedingt nötig vermittelt. Wer das Buch gelesen hat, schreibe auf ein Blatt Papier, was ihm von dem zu La Mettrie Gesagten noch im Gedächtnis geblieben ist. Es wird nicht viel mehr sein, als dass er in Berlin am übermäßigen Genuss einer Pastete starb, von seinen Gedanken aber bleibt absolut nichts hängen. Das ist bedauerlich wenig und äußerst verdächtig dazu. Um solches festzustellen, lohnt sich ein Kauf des Buches natürlich nicht, man lese stattdessen: La Mettrie, Der Mensch als Maschine, mit einem Essay von Bernd A. Laska, Nürnberg: LSR, 1985.
Zur Übersicht hier die Textstellen, an denen sich der Autor als eingefleischter Antivoltairianer präsentiert:
Schuchter zu Voltaire
– Der Säulenheilige der Aufklärung/ 15
– nachtragend als Mensch/ 15
– beleidigte La Mettrie/üble Nachrede/ 17
– ließ mit seinem Spott (in Candide!) niemand aus/am allerwenigsten Leibniz/ 20
– er knackte die Lotterie / 21 und 126
– Voltaire hat die Trüffelgeschichte erfunden: „ein fast zynischer Witz“/ 22
– er stellte sich das de vor den Namen!/ 31
– V. sei ein lebenslanger Feind La Mettries gewesen/ 73
– wieder: nicht adlig, eitel und: Versuch einer biographischen Skizze/ 123-128
– V. freut sich über den Tod La Mettries „wie kaum ein Feind“ schreibt an Richelieu über die Fasanenpastete/167
– V. Wenn es Gott nicht gäbe./ 172
Rainer Neuhaus 3. Juni 2021