Helene Luise Köppel: Der Fall Calas

Was soll man einem Menschen antworten, der einem sagt, dass er lieber Gott gehorche als Menschen und der sich folglich sicher ist, sich den Himmel zu verdienen, wenn er einen erwürgt?“

schreibt Voltaire im Artikel ‚Fanatismus‘ seines Phiolosophischen Wörterbuchs. Diese Warnung bezieht sich auf die ‚Fundamentalisten‘ seiner Zeit –  im besonderen Maße aber auf den Fall des Hugenotten Jean Calas, für dessen Rehabilitierung er sich 1762 mit großer Zähigkeit und erheblichem finanziellen Engagement eingesetzt hat.

Jean Calas, ein bis dahin rechtschaffener, unbescholtener und geachteter Tuchhändler in Toulouse, gehörte zu den wenigen Reformierten der Stadt, die es zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatten. Er wurde gemeinsam mit seiner Familie angeklagt, seinen Sohn Marc-Antoine erhängt zu haben. Begründung des Gerichts: Marc-Antoine habe sich vom reformierten Glauben abgewandt, um zum Katholizismus überzutreten. 

Rue des filatiers
Haus Jean Calas
Toulouse, rue des filatiers
Wohnhaus Calas,
Rue des filatiers

Was genau geschah am 13. Oktober 1761 in Toulouse, in der Rue des Filatiers 50?

Lavaisse, ein junger Freund der Familie kommt zu Besuch. Jean Calas, seine Frau und seine Kinder laden ihn zum Abendessen ein. Man speist gemeinsam, unterhält sich über familiäre Dinge und über die „Altertümer auf dem Rathaus“ (umstrittene Kunstwerke). Man lacht miteinander.

Doch die Familienidylle ist trügerisch …

Voltaire schreibt ein Jahr später über diesen Abend (er leiht seine Stimme der Ehefrau und Mutter):

„Da wir am Nachtische waren, steht dieses unglückliche Kind, ich meine meinen ältesten Sohn Marc-Antoine, von der Tafel auf und geht durch die Küche, wie es seine Gewohnheit war, hinweg. Die Magd sagt zu ihm: Frieren Sie, Herr Calas? Wärmen Sie sich hier! 
Nichts weniger, antwortet er, ich bin im Gegenteil ganz erhitzt! Um ungefähr 9 3/4 Uhren nahm unser Besuch Abschied von uns, wir gaben unserem zweiten Sohn die Fackel, den Gast zu begleiten und den Weg zu weisen. Sie gingen miteinander hinunter. Im Augenblick aber, als sie drunten waren, hören wir lautes Geschrei und Lärm, konnten aber nicht unterscheiden, was man redete. Mein Mann lief hinzu, ich aber blieb zitternd auf der Galerie, ich durfte nicht hinunter gehen, ich wusste nicht, was es wohl sein möchte …“ 

Was es wohl sein möchte?

Marc-Antoine hängt tot am Türrahmen des im Keller befindlichen, väterlichen Kontors. Hat er sich umgebracht, weil man ihm, als Hugenotte, nach abgeschlossenem Jurastudium die Ausübung des Berufes verbot? Marc-Antoine war in den Wochen zuvor schwermütig gewesen.

Jean Calas, sein Vater, 64 Jahre alt – entsetzt, erschüttert –  weiß, wie man in Toulouse mit Selbstmördern verfährt: Sie werden mit dem Gesicht nach unten zum Richtplatz geschleift, man bewirft sie mit Steinen und hängt sie an den Galgen. 
Diese Schmach will er seiner Familie und seinem toten Sohn ersparen. Und nun begeht Jean Calas den größten Fehler seines Lebens: Er beschließt, den Suizid als Mord hinzustellen:  Ein Fremder muss das Abscheuliche getan haben! Das ist für ihn, in dieser furchtbaren Stunde, die Wahrheit! Das Unglück spricht sich noch in der Nacht wie ein Lauffeuer herum und ruft die Bruderschaft der Weißen Büßer * auf den Plan, erbitterte Feinde der Hugenotten, fanatische katholische Glaubenswächter. Die Büßer, gekleidet in weiße Kutten und lange spitze Kapuzen mit Augenschlitzen, nutzen die Situation, um es den Hugenotten wieder einmal zu zeigen. Sie rotten sich zusammen, eilen zum Haus der unglücklichen Familie, schreien: 
„Es  ist sein Vater und seine protestantische Blutsverwandtschaft, die ihn ermordet hat; er hat wollen katholisch werden, er sollte den folgenden Tag abschwören, sein Vater hat Hand an ihn gelegt und ihn erwürget. „
Die Gerichtsbüttel kommen. Die Stimmung heizt sich weiter auf. Die halbe Stadt läuft zusammen. Obwohl die katholische Magd ihren langjährigen Arbeitgeber und auch alle anderen Anwesenden entlastet, wird die gesamte Familie verhaftet, auch die Magd. Alle werden sie an „Eisen und Band“ geschlossen, das Familienvermögen wird, wie es jahrhundertelang die Inquisition hielt, eingezogen. Jean Calas klagt man des Kindesmordes an; den Hausgast Lavaisse bezichtigt man, Henker einer protestantischen Versammlung zu sein, „die jeden erwürgte, der die Religion ändern wolle“. Dies sei „die gewöhnliche Jurisprudenz der Protestanten“, heißt es in der Stadt. Gerüchte laufen von Haus zu Haus, von väterlichen Drohungen ist die Rede. Nicht wenige Leute bilden sich ein, Marc-Antoines gellende Stimme in der Nacht gehört zu haben.

Die Toulouser Richter
Die Richter des Toulouser ‚Parlaments‘ (das Gericht) …

Das Urteil 
Am 9. März 1762 sprechen die Richter mit einer Mehrheit von acht zu fünf Stimmen Jean Calas schuldig und verurteilen ihn zum Tode durch das Rad. Sein jüngster Sohn Pierre wird auf Lebenszeit aus Frankreich verbannt, die Töchter ins Kloster gesteckt, die anderen Angeklagten werden freigesprochen. Weil Jean Calas auch nach dem Urteil kein Geständnis ablegt, kommt die Folter zum Einsatz. 
Mit Feuer bringt man seine Zehen und Finger zum Platzen und enthäutet sie. Doch er bleibt standhaft.
Seine letzten Worte waren: „Ich habe die Wahrheit gesagt, ich sterbe unschuldig …“ Danach zerschlug ihm der Henker mit einer Eisenstange Knochen und Rückgrat, um ihn aufs Rad flechten zu können, wo Calas noch so lange litt, bis man ihn gnädigerweise erwürgte. Seine Asche wurde in alle Winde zerstreut.

Die Hände der Richter
und ihre Hände, in Unschuld?

Die Rolle der Justiz im Fall Calas

Zwar war das Strafverfahren für ganz Frankreich seit dem Jahr 1670 durch die Ordonnance Criminelle einheitlich geregelt, in der Praxis sah es jedoch anders aus. Die „Capitouls“ (Konsuln) von Tolouse – einige gehörten der oben genannten Bruderschaft der Weißen Büßer an  – waren die Richter der ersten Instanz. (Das Strafrecht des Ancien Régime kannte keine Gewaltenteilung.) Es sah keinen Anwalt für den Angeklagten, auch keine Gegenüberstellung mit den Zeugen vor. Stattdessen machte das Gericht vom sogenannten „Monitoire“ Gebrauch, ein Aufruf zur Denunziation an jederman. Vermutungen, Erzählungen vom Hörensagen – alles absolut geheim, wurden in Viertel- und Achtel-Beweisen umgemünzt, addiert, so daß aus 4 Viertel-Beweisen ein ganzer wurde! Jean Calas erhielt auch keine Abschriften über diese Aussagen.

Das Todesurteil stützte sich also auf reine Indizien und mehr oder weniger fingierte oder zurechtgebogene Zeugenaussagen

„Auf diesen Wahn hat man das Urteil gegründet“, kommentierte Voltaire dies später. Die einzige Möglichkeit, das Urteil aufheben zu lassen, bestand für Calas darin, den königlichen Gerichtshof, das sog. Parlement, anzurufen, doch dieses – erzkatholisch und erzkonservativ – stützte sein Urteil einzig auf die „Fakten“, die von der ersten geheimen Verhandlung vorlagen. Unter solchen Bedingungen hatte der Hugenotte Jean Calas keine Chance auf eine gerechte Verhandlung.


Die Rolle der römisch-katholischen Kirche und der Weißen Büßer

Obwohl es keinen Beweis gab, dass Marc-Antoine Calas je die Absicht hatte, konvertieren zu wollen, nutzte die katholische Kirche die Gelegenheit, indem sie Gerüchte streute, ihre eigenen „Wahrheiten“ verbreitete, den Pöbel aufputschte – ja, sogar veranlasste, dass Marc-Antoine Calas als Katholik (der er nicht war) und Märtyrer begraben wurde.

Die Nachfolger

Die Weißen Büßer hielten ein feierliches Hochamt für den Jungen ab, errichten ihm ein prächtiges Grabmal, auf das man sein Bildnis stellte, mit einem Palmzweig in der Hand. „Das Wort Kindesmörder und, was schlimmer war, Hugenotte ging in der ganzen Provinz von Mund zu Mund“,schreibt Voltaire in seinem Philosophischem Wörterbuch. 
Was Jean Calas` Verurteilung und Hinrichtung noch beschleunigte, war, so Voltaire, die Nähe zu dem berüchtigten Fest, das die Toulouser jährlich zum Andenken an die Niedermetzelung der viertausend Hugenotten feierten (200-Jahr-Feier, 1562-1762!). Die fanatischen Büßer erklärten dabei öffentlich, das Schafott, auf dem man Calas rädern werde, würde die größte Zierde des Festes sein, und die Vorsehung hätte dieses „Schlachtopfer“ beschert, damit es der heiligen Religion dargebracht werden konnte.


Voltaire – das Gewissen Frankreichs – schaltet sich ein

Voltaire ist 68 Jahre alt und krank, als er von der Affäre Calas hört. Zunächst von der Schuld des Jean Calas überzeugt, beginnt er bald zu zweifeln. Er untersucht den Fall und stellt fest, dass eine solche Verschwörung unmöglich sei: „Wie hätte der Vater, selbst mit starker Beihilfe anderer, seinen Sohn an beide Flügel einer Türe auf dem untersten Stockwerk aufhängen können, ohne gewaltigen Kampf und Widerstand, ohne greulichen Tumult?“
Voltaire besitzt einflussreiche Freunde. Er ruft ein Komitee ins Leben, das ihn bei seinen Bemühungen um eine Revision unterstützt. Er will gewinnen – und zugleich die Ehre der Familie Calas wiederherstellen. Er verpflichtet Anwälte und – das Wichtigste! – er setzt ersmals in der Geschichte das ein, was heute eigentlich die Presse übernehmen sollte:

Voltaire Calas

Er stellt die Öffentlichkeit her!
Er verfasst sog. „Denk- und Schutzschriften“ im Namen der Witwe Calas und ihrer Söhne und verschickt sie auf eigene Kosten in halb Europa (auch Deutschland). Sein Vorhaben gelingt: Zum Schluss nimmt sich der König des Falles an und rehabilitiert die Familie Calas. Am 9.3.1765 verkündet der Kronrat die Unschuld von Jean Calas. Im September 1762 antwortete Voltaire auf die Frage, warum er sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Calas einsetzte: „Weil sich sonst keiner darum gekümmert hat.“
Voltaire hat zum einen die Richter angeklagt, auf das unsägliche Monitoire verwiesen (s.o.)  und er hat den Blick auf England gerichtet, das damals die Religionsfreiheit garantierte. Die Hauptschuld für diesen Justizskandal sah er jedoch bei den Fanatikern, der katholischen Kirche, den Weißen Büßern von Toulouse  – und dem „Geschrei des rasenden Pöbels“, dem unaufgeklärten, ungebildeten Volk. (Voltaire:“ … es ist nicht alles verloren, wenn man das Volk in den Stand setzt, zu merken, dass es einen Geist hat.“)

Was bleibt?

Dass Voltaire am Beispiel Calas für eine umfassende Strafrechtsreform eintrat und England, wo Gerichtsverhandlungen nicht geheim waren, als glühendes Beispiel hinstellte, hat in Frankreich dafür gesorgt, dass der Willkür der Richter ein Riegel vorgeschoben wurde. Dass er sich 1763 in seiner Schrift „Über die Toleranz (Traité sur la tolérance) -vehement für Religionsfreiheit ausspricht und nachweist, dass Calas vor allem ein Opfer des Fanatismus wurde – „Unser Ziel muss sein“schreibt er, die Fanatiker um ihren Einfluss zu bringen!“ – ist für uns Verpflichtung, wachsam zu sein.
Voltaire hat die „Affäre Calas“ für die Fortführung seines eigenen Kampfes gegen Fanatismus und Aberglauben benutzt, indem er auf Vernunft und Toleranz und auf Bildung setzte – auf öffentlichen und freien Zugang zu allen Informationen – hohe Güter, die auch heute, im 21. Jahrhundert, von uns allen gehegt, beschützt und verteidigt werden müssen..

Helene Luise Köppel


Fotos: Helene L. Köppel privat

Quellen:

Authentische Briefe welche das traurige Schicksal der reformierten Familie Calas zu Toulouse nach der Wahrheit vor Augen legen, aus dem Französischen übersetzt, 1762, 44 S. – es handelt sich um die Übersetzung der Schrift Voltaires: Pièces originales concernant la mort des Sieurs Calas

Albert Gier/Chris E. Paschold“, Voltaire. „Die Toleranz-Affäre“, Bremen, 1993

Voltaire, Über die Toleranz, 1763, in: Recht und Politik, Hg. und Nachwort von Günther Mensching, Frankfurt/M. 1978

Zitate:

Voltaire, Für Wahrheit und Menschlichkeit, Stuttgart: Kröner, 1939
Voltaire, Korrespondenzen aus den Jahren 1749 bis 1760, Leipzig: reclam, 1978
Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, Leipzig: reclam, 1984

Belletristik:

Helene Luise Köppel, Die Affäre Calas, Berlin 2008

Anmerkung:

* Weiße Büßer von Toulouse: Diese Bruderschaft wurde Anfang des 13. Jahrhunderts in Toulouse gegründet, um das Kreuzfahrerheer im Kampf gegen die Katharer zu unterstützen; 1614 Neugründung; sieben eigene Häuser in Toulouse, relativ unabhängig von der römisch-katholischen Kirche; am Gründonnerstag zog die Bruderschaft in stundenlanger Prozession durch die Stadt.