Hintergrund:
Unter dem allmächtigen Dunkelschirm der Kirche war viele Jahrhunderte in die Köpfe eingehämmert, dass alles Leben streng bestimmt ist, dass Gottes Wille über Geburt, Tod, Armut, Reichtum des Menschen entscheidet und eigenes, individuelles Zutun, eigene Anstrengungen völlig überflüssig sind, weil ohnehin alles vom Schicksal vorherbestimmt ist in das man sich ohne zu murren fügen sollte. Man nennt diese Ideologie den theologischen Determinismus.
Mit zunehmendem Murren, durch die wachsende Anzahl von Menschen, die sich von Untertanen zu selbstbewussten Bürgern entwickelten, verlor der theologische Schicksalsglauben seine ideologische Kraft, die Erforschung der Natur und der sie wirklich bestimmenden Gesetze zeigte eine andere Wirklichkeit als die der christlichen Unterdrücker. Die Idee individueller Freiheit und Selbstbestimmung trat hervor, nicht über Nacht natürlich, aber dank Voltaire und den anderen Aufklärern stetig und unaufhaltsam, bis in der großen Französischen Revolution das neue, bürgerlich-antiklerikale Denken die Oberhand gewann.
Zunächst löste ein naturwissenschaftlicher Determinismus den theologischen ab, an die Stelle Gottes traten die Naturgesetze, die alles Leben streng bestimmten. Diese Argumentation ist am deutlichsten bei Leibniz, in seiner Lehre vom zureichenden Grund, zu finden. Voltaire und Emilie du Châtelet hingen ihr selbst, über den Umweg Christian Wolffs, eine zeitlang an.
Leibniz: Für jedes Ereignis gibt es einen zureichenden Grund, der es hervorgebracht hat und dessen Wirkung es ist. Von den Ursachen, die selbst Wirkungen anderer Ursachen sind, kommt man schließlich bis auf die Endursachen, also so ziemlich bis zu den Anfängen, zurück. Am Anfang aber steht natürlich Gott, weil er der angenommene erstursächliche Schöpfer aller Dinge und Ereignisse, Naturgesetze sei, der, sozusagen „nach bestem Wissen und Gewissen“, die beste aller möglichen Welten geschaffen habe.
Worum es Voltaire geht, lässt sich an einem Beispiel demonstrieren: „Warum wachen wir morgens auf? – Eventuell, weil wir genügend ausgeruht sind? Was hat dann aber schlussendlich das Aufwachen bewirkt? War es der einsetzende Regen, oder, bei offenem Fenster, das Zwitschern eines Vogels, das Beginnen des morgendlichen Berufverkehrs, das Schlagen einer Tür, das Eindringen eines Sonnenstrahls? Welche dieser Ursachen war aber die entscheidende? Oder genauer gefragt: Welches der Elemente eines Ursachenkomplexes ist oder war das entscheidende? Ist der bekannte Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt, die Ursache für das Überlaufen, oder war es der schon seit langem, immer weiter tropfende Wasserhahn?
Quellen:
o Voltaire lässt in seinem Dialogue entre un Brachmane et un Jésuite sur la Nécessite et lÈnchainement des Choses, zuerst erschienen in Mélanges III, 1756 [dt. Gespräch zwischen einem Brahmanen und einem Jesuiten über die Notwendigkeit und die Verknüpfung der Dinge, in: Voltaire Kritische u Satirische Schriften, 1970, S. 71-76] die Frage diskutieren, wie Ursache und Wirkung zusammenhängen.
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):
Anmerkung 1 (S.84, zweiter Absatz: „Das System der Notwendigkeit …wurde zu unserer Zeit … von Leibniz erfunden”: In ihren Institutions de physique (Paris 1740; dt.: ,Der Frau Marquisinn von Chastellet Naturlehre an Ihren Sohn, Renger: Halle, 1743) stellte Voltaires Lebensgefährtin Emilie du Châtelet Leibniz‘ Lehre vom zureichenden Grund vor: “Alles, was existiert, bedarf eines anderen durch das es existiert, auf das man seine Existenz zurückführen kann“ und alles Denken beruht auf dem Satz vom zureichenden Grund weil: „Niemand legt sich auf etwas mehr als auf etwas anderes fest, ohne dass es dafür einen hinreichenden Grund gäbe, der ihn annehmen lässt, dass dieses eine dem anderen vorzuziehen sei” (§ 8).
In seiner Korrespondenz mit Friedrich dem Großen, damals (1738) noch Kronprinz, überzeugt ihn Voltaire von seiner skeptischen Sicht vom Determinismus Leibniz’ und Christian Wolffs, während auf der anderen Seite Manteuffel und sein Kreis vergeblich versuchten, Friedrich für ihre Interpretation, einer Art Verschmelzung von Aufklärung und Christentum, zu gewinnen (siehe dazu: J.Bronisch, Der Kampf um Kronprinz Friedrich, Wolff gegen Voltaire, Landt: Berlin 2011, S.61 ff).
Insbesondere ist es für Voltaire klar, dass, wenn immer wieder das kleinste Ereignis eine gewaltige Wirkung hat (z.B. der Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt), es mit dem zureichenden Grund nicht allzu weit her sein kann: Man kann oft genug Ereignisse nicht aus einer eindeutigen Ursache herleiten. Wenn das so ist, landet man beim immer weiter Zurückgehen der Ursachensuche auch nicht zwangsläufig bei Gott.
Anmerkung 2 (S.85, vierter Absatz: „.. aber nicht jede Ursache hat ihre Wirkung”):
Gerade wenn es einen Ursachenkomplex gibt, also mehrere Elemente, die nur gemeinsam ein Ereignis bewirkten, kann umgekehrt nicht von jedem einzelnen auf die spezielle Wirkung geschlossen werden. David Hume bearbeitete dieses Thema ausführlich und kam zu dem Schluss, dass die Vorhersagbarkeit von Ereignissen aufgrund von Erfahrungen zwar möglich ist, aber allenfalls in den Grenzen von mehr oder weniger wahrscheinlichen Annahmen (siehe dazu auch unsere Anmerkungen zum Artikel Gewissheit).