Wenn wir mit dieser Buchempfehlung eine Ausnahme von unserem Prinzip machen, nur Werke zu besprechen, die sich direkt auf Voltaire und die Aufklärung beziehen, so liegt dies an der besonderen Bedeutung dieses Buches für alle, die der Aufklärung nahe stehen.
Hoevels verlässt mit diesem zweiten seines auf drei Bände konzipierten Hauptwerkes die engere ökonomische Marxismustheorie und weitet den Horizont hin zu einer welthistorischen Analyse der Ideologieproduktion, in marxistischer Diktion also des gesellschaftlichen Überbaus.
Vergleicht man das Werk mit dem Essay sur les Moeurs et l‘Esprit des Nations von Voltaire, in dem er dem Einfluss von Religion und Kirche auf unsere Kultur nachgeht, verfolgt Hoevels ein ähnliches Ziel, insbesondere aber das eine, Übersicht zu gewinnen und zu vermitteln über die Funktionsgrundlagen der europäischen Kultur. Und wie schon Voltaire, bezieht er die außereuropäische Kulturgeschichte ein, setzt sie in Bezug zu unserer europäischen, um diese besser verstehen zu können. Denn es ist der Vergleich, der allem wissenschaftlichen Denken den Weg weist.
Die Eigentümer der Produktionsmittel verwenden das erwirtschaftete Mehrprodukt, um aus diesem Überschuss den Gewaltapparat und den Apparat zur Verbreitung der erwünschten Ideen, resp. zur Unterdrückung der für ihre Interessen unerwünschten Gedankeninhalte aufzubauen und zu erhalten. Vor diesem Hintergrund etablieren die Gewaltinhaber Selektionsprozesse, die das ihnen genehme Ergebnis hervorbringen.
Wenn bisweilen in der marxistischen Theorie etwas hölzern, was Kunst, Philosophie und Wissenschaft angeht, von Widerspiegelung die Rede war, entwickelt Hoevels, um die Funktionsweise dieser Widerspiegelung zu verstehen, eine äußerst erhellende Theorie der Memselektion, die, kurz gesagt, die Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie auf die gesellschaftliche Selektion von geistigen Inhalten überträgt, wobei das Agens der Selektion hier selbstverständlich nicht in der Natur, sondern in dem von der herrschenden Klasse kontrollierten Gewaltapparat liegt.
Soweit zum Forschungsansatz, der, hat man sich einmal eingelesen, keinem einigermaßen gebildeten Leser verschlossen bleiben muss, wobei insbesondere die Lektüre von Dawkin hilfreich ist, wenn sie nicht vom Autor sogar vorausgesetzt wird.
Bekanntlich beschäftigte sich Voltaire intensiv mit dem zu seiner Zeit vorherrschenden Ideologieapparat und mit dessen Geschichte, er hat die christliche Ideologie heftig kritisiert, er legt ihre Lügen bloß, ihre Heuchelei – aber erkannte er bereits, in wessen Dienst sie stand, für wen sie arbeitete? Man hat Voltaire oft Zynismus vorgeworfen, weil er sagte, dass, wenn es Gott nicht gäbe, man ihn erfinden müsse (Épître à l’auteur du livre des Trois Imposteurs, 1769). Denn ohne die Angst vor der göttlichen Strafe würde der mittellose Untertan seinen Herren ganz gewiss erdolchen. In Wirklichkeit sprach er nur aus, worin die Funktion der Religion besteht und wem sie gehorcht. Die Mechanismen mit der sie ihren Auftraggebern nützt, mit der in jedem Dorf von der Kanzel die Stimme des Herrn ertönt, hat er in den Katechismen des Philosophischen Taschenwörterbuchs vorsichtig angedeutet. Ob er mehr wollte, oder ob er vom Deismus (Gott als Uhrmacher) selbst überzeugt war, ist umstritten. Hoevels bezieht sich auf Voltaire an einigen Stellen seines Werkes, meist als Beispiel eines selbstbewußten Vertreters des Bürgertums und des Sensualismus. Auch Voltaires auszugsweise Publikation von Mesliers und dessen sogenanntes Testament kommt vor (S.301), und zwar nicht negativ diffamierend, wie heute zumeist, sondern unter Beachtung der existentiellen Bedrohung, in die man sich in Frankreich vor der Großen Revolution durch Kritik an der Kirche begab.
Nur Hoevels Kritik an Voltaire (S. 467), er habe – im Unterschied zu Emilie du Châtelet – nichts von Newton verstanden, können wir nicht folgen und fragen uns, worauf sich diese Auffassung stützt. Voltaire berichtete bereits 1726 in seinen Philosophischen (englischen) Briefen über Newton und nach 1733, als er mit Emilie du Châtelet zusammenlebte, war es Voltaire, der das Laboratorium in Cirey aufbaute, in dem die beiden dann die Mechanik und die Optik Newtons experimentell überprüften und Voltaire war es auch, der den ersten Überblick über Newtons Optik und Gravitationslehre in Frankreich herausbrachte (Élements de la Philosophie de Newton 1738 und 1740, siehe dazu: Wahsner, Borzeszkowski 1996).
Hoevels untersucht in seinem Werk, wie insbesondere die Philosophie, analysiert man die von ihren Adepten vertretenen Ideen, Ausdruck der jeweils um die Vorherrschaft ringenden Klassen ist, wer aber in der Öffentlichkeit überhaupt zur Geltung kommt, bestimmt die jeweils herrschende.
Am Beispiel von Kants „Ding an sich“ das grundsätzlich unerkennbar sein soll, erläutert Hoevels, zu welchem Zweck dieses Ideologem (oder Mem) dient und warum es bis heute so wichtig ist. Selbstverständlich kollidiert es mit der Neugier, dem Selbstbewusstsein des Individuums und vor allem – mit dem wissenschaftlichen Denken selbst. Denn das wissenschaftliche Denken ist streng induktiv, von den Beobachtungen ausgehend, experimentell überprüfend strebt es zur vollkommenen Erkenntnis der Objekte und der Natur. Ob das Aufkommen oder Untergehen dieses wissenschaftlichen Denkens tatsächlich an eine bestimmte Klassenkonstellation gebunden ist, untersucht der Autor am historischen Auftreten der Wissenschaft in der Antike, der Renaissance und von der Aufklärung bis hin zum Industriellen Zeitalter. Es ist beängstigend, wie er den Untergang des wissenschaftlichen Denkens für unsere Zeit vorhersagt, weil die Zeit des Kapitalismus mit seinem Markt und mit seinem Wettbewerb abläuft und stattdessen eine Welt der Monopole und der Oligarchen vorhersagt, die dem Individuum die Existenzgrundlage entzieht und stattdessen gefolgschaftsbereite Arbeits- und Konsumentenheere benötigt und erschafft.
Im letzten Drittel des Buches untersucht Hoevels den Übergang von der Romanik zum Barock in der Architektur, speziell dem Kirchenbau und in der Malerei, zeigt wie jene ihre Suggestionskraft durch Zeichen ausübt, die als Verstärker die christliche Ideologie festigen, während danach immer stärker die Plausibilität der biblischen Erzählungen in den Mittepunkt rückt. Dem bürgerlichen Subjekt müssen die christlichen Legenden als wahrscheinlich dargestellt werden, daher die realistischen Landschaften, vor dem die Heiligen eingebettet sind und sozusagen „ihrem Geschäft nachgehen“.
Schließlich, im goldenen Zeitalter der Niederlande, tritt das Stilleben in die Welt, das eigentlich ein Still-Leben ist, zur Kontemplation einlädt und die religiöse Symbolik hinter sich lässt. Die Dominanz des wissenschaftlich gebildeten und sehenden Individuums kulminiert in der Malerei des Impressionismus und kehrt schließlich im Surrealismus und im Symbolismus die Richtung der kontemplativen Objektschau um, so dass sich im Werk das Subjekt, seine Sicht und seine Phantasie Ausdruck verschafft. Die Welt ist nicht länger beeindruckende Natur, sondern zum ersten Mal entsteht durch die immense Steigerung der Produktivkräfte die Vorstellung, dass durch die Gestaltungskraft des Menschen ein humanes, von Naturzwängen befreites Zusammenleben möglich wäre: Das größte Glück der größten Zahl.
Diese – hier grob schematisch gezeigte Entwicklung dient dem Autor als Versuchsfeld, um seine um die Theorie der Memselektion vertiefte Überbautheorie von Marx und Engels zu überprüfen und er bestätigt sie in vollem Umfang, zeigt, wie man nur auf ihrer Grundlage zu überzeugenden Ergebnissen kommt, die man in der traditionellen Kunstwissenschaft sonst vergeblich sucht.
Bei so großem Lob sei zum Abschluss eine kritische Bemerkung erlaubt: Hoevels fehlt es an einer Theorie der Ästhetik und der Schönheit. Er analysiert die Kunstwerke eindrucksvoll hinsichtlich ihrer Suggestionswirkung und streift dabei die Ästhetik, vor allem wenn er anmerkt, dass Schönheit und Freiheit Geschwister sind. Diese Verwandtschaft bindet er jedoch nicht in seine Theorie ein, was ohne große Anstrengung möglich wäre.
Wenn das, was wir schön empfinden, durch die sogenannte Zweckmäßigkeit ohne Zweck erklärt werden kann (zu finden etwa bei Friedrich Schiller und seiner ästhetischen Theorie), dann ist das Reich, in dem wir nicht durch Zweckerwägungen, wie in der Arbeitswelt, gebunden sind, die Welt der Kunst. Und umgekehrt: Wenn sich, wie im sozialistischen Realismus, eine Zweckabsicht in das Kunstwerk drängt, geht der ästhetische Genuss verloren.
Absolute Freiheit aber wäre die Loslösung von allem Zwang, der durch Arbeit, lebenserhaltende Tätigkeiten aller Art auferlegt wird, also von der Welt der Zweckorientierung. An solche, freilich utopische Hoffnung, dockt das ästhetische Empfinden an und setzt in und mit der Kunst eine humane Alternative zu der auf das Jenseits verweisenden Religion und ihren Vertröstungen auf das Paradies (welches manchmal, ja, so verlockend, mit soundso vielen Jungfrauen besetzt sein soll).
Allen Freunden der Aufklärung, philosophes wie sie Voltaire nannte, sei dieses Werk empfohlen, es lohnt sich, die Passagen zu den jeweiligen historischen Epochen (Antike, 12. Jahrhundert, Renaissance) in Voltaires Essay sur les moeurs parallel zu lesen, um einerseits die Leistung Voltaires zu erkennen, zum anderen aber auch die Leistung des Autors selbst, den man mit Fug und Recht als authentischen Voltairianer bezeichnen kann.
Wer zusätzlich noch Zeit findet, dem sei die Lektüre des kürzlich erschienenen Buches von Friedrich Lenger, Giessener Geschichtsprofessor und Leibnizpreisträger, Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus (C.-H.-Beck-Verlag) empfohlen, um die Thesen von Fritz Erik Hoevels zu überprüfen, und auch, um herauszufinden, welches der beiden Bücher den größeren Erklärungsgehalt besitzt.