Die Bibliothek Voltaires und Russland

Wie die Bibliothek Voltaires nach St. Petersburg kam

Von Rainer Neuhaus

1. Einleitung: Voltaires Bibliothek sicher in Russland

Voltaires Bibliothek ist nicht nur umfangreich (sie umfasst 6814 Bände), sondern ist auch ein Zeugnis der geistigen Orientierung Voltaires, seiner Arbeitsweise. Während er sich in seinen Veröffentlichungen angesichts der Gefahr kirchlich-inquisitorischer Verfolgung oft verstellen musste, geben uns die vielen, äußerst lebhaften Randnotizen und Anmerkungen Katharina und Voltaire von seiner Hand heute wertvolle Hinweise auf sein wirkliches Denken.
Kaiserin Katharina II. (1729-1796) von Russland ist es zu verdanken, dass diese Bibliothek nach dem Tod Voltaires am 30. Mai 1778 nicht auseinandergerissen wurde, sondern in St. Petersburg als Ganzes erhalten blieb und bis heute von allen Interessierten besucht werden kann. Sie erreichte durch zähes Verhandeln und ein stattliches Preisangebot, dass Voltaires Universalerbin, seine Nichte Marie-Louise Denis, dem Verkauf schließlich zustimmte.

Am 21. Juni 1778 schrieb Katherina an ihren Vertrauten Friedrich Melchior Grimm nach Paris, dass sie die Bibliothek erwerben wolle: „..wenn es möglich ist, kaufe ich seine Bibliothek und alles, was von seinen Papieren übrig geblieben ist, einschließlich meiner Briefe. Ich bin bereit, seine Erben großzügig bezahlen, die, wie ich denke, den Preis von alldem gar nicht kennen. […] Ich werde einen Salon bauen, in dem seine Bücher ihren Platz finden.“1 Später entwickelte Sie den Plan, Voltaires Wohnsitz, das Schloss Ferney, originalgetreu im Park von Tsarskoye Sélo (Alexander Park, Landsitz des Königshauses) bei St. Petersburg nachbauen zu lassen und schrieb an Grimm: „Bitte lassen Sie mir ein Abbild der Fassade des Schlosses von Ferney und wenn möglich den Innenplan der Aufteilung der Wohnungen zukommen. Denn der Park von Zarskoje Selo wird nicht bestehen bleiben, beziehungsweise das Schloss von Ferney wird dort seinen Platz finden. Ich muss noch wissen, welche Wohnungen des Schlosses in Richtung Norden liegen und welche gegen Süden, Sonnenaufgang und Untergang, es ist außerdem noch wichtig zu wissen, ob man den Genfersee oder das Juragebirge aus den Fenstern des Schlosses sehen kann und auf welcher Seite“. Zu diesem Zweck ließ sie ein maßstabsgetreues Modell herstellen und von jedem Stoff (Stühle, Wände) ein Muster beschaffen, die bis heute in St. Petersburg aufbewahrt werden und dort besichtigt werden können.
Einfach umzusetzen war das Vorhaben allerdings nicht.

2. Die Verhandlungen, Der französische Staat, Wagnière kommt ins Spiel, der Vertrag

Friedrich Melchior Grimm (1723 – 1803)2, Pariser Herausgeber einer Art Geheimkorrespondenz für ausgesuchte europäische Adlige , der handschriftlich verfassten „Correspondance-litteraire“, unter seinen Korrespondenten auch Katharina die Große, erhielt von der russischen Kaiserin den Auftrag, die Verhandlungen zum Erwerb von Voltaires Bibliothek zu führen. Sicher vertraute sie auf Grimms hervorragende Beziehungen, die es ihr auch schon ermöglicht hatten, die Zensurvorhaben gegen die Enzyklopädie zu kippen, indem sie Diderot de facto zu ihrem Bibliothekar machte und damit unter ihren Schutz stellte.3 Grimm nahm also Kontakt zu Voltaires Nichte, Marie-Louise Denis, auf, die nicht abgeneigt schien, zu verkaufen, jedoch eine zähe Verhandlerin war, umso mehr, als sie von fast unbegrenzten Mitteln der Kaufinteressentin ausgehen konnte. Nur was die Manuskripte Voltaires anging, unterstützte sie das Projekt einer Publikation durch den Pariser Verleger Panckoucke, der diese in eine von ihm geplante Gesamtausgabe integrieren wollte und überließ ihm die handschriftlichen Dokumente4, die als Universalerbin in ihren Besitz übergegangen waren.

Zuvor wollte jedoch der französische Staat die „gefährlichen“ Manuskripte Voltaires sichten, befürchtete jedoch negative Reaktion vor allem des preußischen, aber auch des russischen Hofes und ließ deshalb den Plan fallen.

Angebot Denis
Letzte Seite des Angebotschreibens (15.12.1778) Mme Denis mit Unterschrift (Russische Nationalbibliothek, Sammlung Bibliothek Voltaire)

Ende 1778 war man sich handelseinig, Mme Denis erhielt 30.000 Goldrubel, einen Koffer mit Pelzen, Schmuck und ein mit Diamanten verziertes Porträt der Kaiserin. Jean-Louis Wagnière, der Sekretär Voltaires, konnte mit der Vorbereitung des Transports beginnen.

3. Die Bibliothek geht auf Reisen

Wenn ein einzelnes Buch ungefähr 500 Gramm wiegt, so war die Bibliothek von Voltaire mit ihren 6814 Büchern 3.500 kg oder 3,5 Tonnen schwer. Dazu kommt noch das Gewicht der 12 zugenagelten Kisten, in die Wagnière, Voltaires langjähriger Sekretär, die Bücher nach dem Tod seines verehrten Dienstherrn verpackt und sie auf Geheiß von Mme Denis am 7. Dezember 1778 von Ferney nach Les Délices in Genf schicken lassen hatte5, jedes in feines Seidenpapier eingeschlagen, nehmen wir an. Wie groß mag eine Kiste für 570 Bücher gewesen sein? Im 18 Jahrhundert bestimmte man die Buchgröße wie heute nach der Seitenzahl, die auf einen Normdruckbogen paßte. Es gab 12 (duodez), 8 (octav) und 4 Seiten, hinten und vorne bedruckt, auf einem Druckbogen. Bei ganz großen Bücher (Folio), druckte man auf dem 43 x 60 cm (was dem DIN A2 von heute entspricht) großen Druckbogen nur zwei Seiten, wie bei der berühmten Encyclopédie Diderots und d’Alemberts, deren 36 Bände selbstverständlich Bestandteil von Voltaires Bibliothek waren6. Dann wären in die 12 Kisten 35 Bücher pro Lage und 16 Lagen je Kiste verpackt worden (ca. 100 cm x 85cm x 65 cm). Eine stabile Kiste dieser Art wiegt mit Beschlägen mindestens 30 kg. Nehmen wir also an, daß die gesamte Ladung 4 t. gewogen hat. Ein Pferdewagen (Zweispänner) konnte im 18. Jahrhundert 2 t transportieren und man schaffte, so beladen, 50 km pro Tag, wenn die Strassen gut waren7. Wenn auf einen Pferdewagen 6 solcher Kisten paßten, waren also mindestens 2 Pferde-Planenwagen unterwegs und vielleicht noch einige Bewacher zu Pferde, um die Bibliothek auf dem Landweg bis nach Lübeck zu befördern. Kein großer Transport, wenn man ihn mit den 1800 Fahrzeugen vergleicht, die der brandenburgische Kurfürst im Dezember 1700 von Berlin aus in Bewegung setzen ließ, um mit seinen Habseligkeiten nach Königsberg umzuziehen8. Trotzdem war eine derart lange Reise (1000 km), für die man 2 Monate brauchte9, gefährlich und, weil man viele Grenzen passieren mußte, schwierig zu organisieren. Grimm, der Beauftragte von Katherina II. (die Große), kümmerte sich darum. Er bat seinen Freund François Tronchin (1704-1781), Mitglied des Rates von Genf, ihm zu helfen: „Vielleicht kann man von Basel aus über den Rhein und den Main [nach Frankfurt] kommen. In Wirklichkeit lasse ich Ihnen unbeschränkte Handlungsfreiheit über alle Vorgehensweisen, weil die Sache eines klügeren Kopfes (als ich es bin) bedarf. Ich beschränke mich lediglich darauf, Sie zu bitten, daß Sie darauf acht geben, daß der sicherste Transportweg dem preiswertesten vorgezogen wird. […] Wenn es in Genf Fahrbetriebe gibt, die direkt nach Frankfurt fahren, würde ich sie allen anderen vorziehen, weil wir dann nur mit einem einzigen zu verhandeln hätten“. Am 20 April verlässt der Transport Genf (Les Délices), am 25 April erreichen die Bücher Morges10. Tronchin hofft, dass sie auf dem Weg über Basel bereits am 16. Mai in Frankfurt ankommen. Als die Meldung eintrifft, dass die Bücher Frankfurt/M. erreicht haben, erhält Wagnière seine Papiere (Grimms Brief 155 vom 23.5.1779), er soll bis Frankfurt in einem Cabriolet fahren, wird dann „mit einer kleiner Postkutsche nach deutscher Art weiterreisen, mit der man ziemlich bequem durch ganz Deutschland kommt“11 . Er soll aber unbedingt Anfang Juli in Lübeck sein, um zusammen mit der Bibliothek per Schiff St. Petersburg anzusteuern. Wagniere verlässt Ferney am 30.5.1779 und trifft in Frankfurt am 11.6.ein. Grimm empfiehlt, dann die Route über Gotha, Potsdam und Rheinsberg nach Lübeck zu nehmen, wo es dank der guten Beziehungen sichere und komfortable Unterkünfte gebe. In Lübeck wartet Wagnière fünf Wochen auf die Ankunft des Schiffes, erreicht schließlich Petersburg am 7. Juli 1779, wo er an Katharinas Hof sehr bevorzugt empfangen wird. Seine Berichte über das Leben Voltaires stoßen dort auf reges Interesse. Er wird beauftragt, die Bücher und Manuskripte auszupacken, zu ordnen und einen Katalog über sie anzufertigen; eine Arbeit, .die ihn bis in den November beschäftigt. Wagnière verlässt schließlich St. Petersburg am 28.12.1779 und erreicht Ferney Anfang Februar 1780, wo er bis zu seinem Lebensende wohnen sollte, ausgestattet mit einer russischen Jahrespension von 1500 Pfund.

4. Was aus der Bibliothek geworden ist

Die Bücher kamen zunächst in die Räume neben dem Wohnbereich der Kaiserin im Winterpalast, der heutigen Eremitage, wo sie Teil der persönlichen Bibliothek Katharinas wurde, zu der später noch die Bibliothek Diderots hinzukam.. Nach ihrem Tod erhielt die Bibliothek unterhalb der sogenannten „Logen von Raffael“ einen ständigen Standort und war, frei zugänglich, ein beliebtes Ziel für ausländische Besucher. Während der Regierungszeit (1825 – 1855) von Nikolaus I., der Voltaire als Freidenker und Zerstörer der Gesellschaftsordnung des Ancien Régime und Vorbereiter der Dekabristen betrachtete, wurde sie für Besucher geschlossen. 1837 ordnete ein Hofminister an: „Ohne schriftliche Genehmigung darf niemand außer Mitgliedern der kaiserlichen Familie Bücher aus der Eremitage-Bibliothek ausleihen; Diejenigen, die wissenschaftliche Forschung betreiben möchten, dürfen in der Bibliothek arbeiten und Notizen machen, aber es ist verboten, die Bücher der Bibliotheken von Voltaire und Diderot zu konsultieren oder Auszüge daraus zu machen. “ Besonders die Statue des sitzenden Voltaire von Jean-Antoine Houdon, die sich in der Nähe der Bibliothek befand, scheint Nikolaus I. ein Dorn im Auge gewesen zu sein. Der Bibliophile Rudolf Minzlov schrieb in seinem „Spaziergang in der kaiserlichen öffentlichen Bibliothek“, dass „unter Kaiser Nikolaus I. dieser Freund Katharinas nicht mehr zu den Lieblingsbewohnern des Winterpalastes gehörte. Er reiste von einer Ecke zur anderen, und trotzdem stand diese Marmorstatue durch Zufall die ganze Zeit immer im Blickfeld des Kaisers.“ Voltaires berühmtes Lächeln hätte Nikolaus I. so verärgert, dass er befahl, „den alten Affen wegzunehmen“! Die Statue verließ danach die Eremitage, um zuerst einen Platz in den Kellern des Tauridenpalastes zu finden, bevor sie im Mai 1862 zu den Büchern des Philosophen zurückkehrte, die gerade in die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek (heute Nationalbibliothek Russlands) verlegt worden waren. Die Übergabe der Voltaire-Bibliothek an die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek erfolgte Ende 1861 unter Alexander II. Baron Korf, Direktor der Bibliothek, erhielt vom Hofminister eine Mitteilung, in der es hieß: „Seine Majestät der Kaiser, weist wegen der Notwendigkeit, in der Eremitage seltene und kostbare Kunstgegenstände zu installieren, ‹…› an: unter den Bibliotheken, die sich in der Eremitage, einschließlich der Bibliothek von Voltaire, befinden, [sollen der Eremitage] nur die Ausgaben verbleiben, die die bildende Kunst betreffen, ihre Geschichte und Archäologie sowie die russische Bibliothek, die für die Diener eingerichtet wurde. Alle anderen oben genannten Bibliotheken sowie alle in der Eremitage aufbewahrten Handschriften, ohne die mit Miniaturmalerei geschmückten auszuschließen, müssen in die öffentliche kaiserliche Stadtbibliothek überführt werden.“ Voltaires Bibliothek befand sich im ovalen Raum im ersten Stock (der heute die russische Sammlung beherbergt). Die Statue von Houdon war bis 1887 an gleicher Stelle bis sie im Jahr 1887 in die Eremitage zurückkehrte.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Bibliothek in die Stadt Melekess an der Wolga (heute Dimitrovgrad) evakuiert und wurde nach ihrer Rückkehr nach Leningrad (heute St. Petersburg) Teil der Abteilung für Seltene Bücher.

5. Wie sich die Bibliothek zusammensetzt12

Voltaires Bibliothek hat 6814 Bände, einschließlich Manuskripte. Mehr als ein Drittel der Drucksachen ist mit Lesenotizen ihres Besitzers versehen: marginalia (vom lateinischen Wort margo, Rand). Tatsächlich befinden sich die Anmerkungen nicht immer an den Rändern, sondern manchmal auf den Bandrücken, Titelseiten, Deckblättern, falschen Titeln, Lesezeichen usw. Einige der Lesezeichen sind auch ohne Aufschrift, bestehen aus Papierfragmenten, die unter Voltaires Hand gefallen sind – Spielkarten, Buchhaltungsunterlagen, Briefentwürfe, Zeitungsfetzen. es gibt Blumen und Grashalme und auch umgeknickte Seitenecken. Die Bibliothek diente dem Schriftsteller als Arbeitsinstrument für die Komposition seiner Werke – Geschichts- und Philosophiebücher, Theaterstücke, Erzählungen, Gedichte, Pamphlete. Wagnière erzählt in seinen Memoiren: „Die Erinnerung von M. de Voltaire war erstaunlich. Er sagte hundertmal zu mir: „Sehen Sie in diesem Werk, in diesem Band, ungefähr auf dieser Seite, ob dort so etwas steht?“, und es kam selten vor, dass er sich irrte, obwohl er das Buch seit zwölf oder fünfzehn Jahren nicht mehr geöffnet hatte. » Bücher über Geschichte dominieren (fast ein Viertel) in ungefähr gleicher Zahl wie die über Literatur und Kunst. Theologische Werke, Werke zur Geschichte der Kirche und zum kanonischen Recht bilden ein Fünftel des Ganzen, ähnlich wie die Philosophie mit den Werken von Rousseau, Diderot, Helvétius, d’Holbach, Montesquieu, Bayle, Pascal, Descartes, Malebranche, Locke, Hume, Toland, Leibniz und anderen Autoren des 18. Jahrhunderts. Die Bibliothek enthält zudem viele Sammelbände, von Voltaire „potpourris“ genannt, in denen er ausgetrennte Seiten aus Büchern und Zeitschriften zu den Themen, die ihn interessierten, zusammenbinden ließ.

Ein sogenanntes Potpourri-Buch aus der Bibliothek Voltaires – Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Sammlung Bibliothek Voltaire
6. Die Nationalbibliothek als Sachwalterin Voltaires

Um diese Bibliothek so vielen Lesern wie möglich und allen, die sich für die französische Kultur interessieren, bekannt zu machen, organisiert die Russische Nationalbibliothek (BNR) bedeutende Ausstellungen. So wurden in den Jahren 1986-1987 in Paris mehrere Bücher von Voltaire im Rahmen der renommierten Ausstellung „Frankreich und Russland im Zeitalter der Aufklärung“ präsentiert. 1994, zum dreihundertsten Geburtstag Voltaires, nahm die BNR an drei internationalen Ausstellungen teil: „Voltaire et ses combats“ in Oxford, „Voltaire chez lui“ in Genf und „Voltaire et l’Europe“ in Paris. In den Jahren 1998 und 1999 wurden Werke aus Voltaires Bibliothek im Jean-Jacques Rousseau Museum in Montmorency ausgestellt, und im Juni 1999 fand in Paris eine sehr reichhaltige Ausstellung über „Voltaire, Gerechtigkeit und öffentliche Meinung“ statt, die gemeinsam vom BNR und dem Kassationshof organisiert wurde.

Veranstaltungsplakat 1999 Paris – „Wie? Sie möchten eine Organisation mit dem Namen Grenzenlose Toleranz gründen? Die wird keine Zukunft haben!“ Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Sammlung Bibliothek Voltaire

Im Jahr 2000 waren Briefentwürfe von Voltaire, die im BNR aufbewahrt werden, Teil der Ausstellung „Friedrich der Große und Voltaire: Ein Briefdialog“ in Potsdam. Schließlich präsentierte sie 2001 im Schloss Ferney der Öffentlichkeit die Stoffproben von Voltaires Wohnungen, die 1779 gleichzeitig mit seiner Bibliothek nach Russland gebracht worden waren. Diese Popularisierungs- und Studienaktivitäten führten zu der Idee, in St. Petersburg ein Forschungs- und Informationszentrum für das Zeitalter der Aufklärung und der Enzyklopädie zu schaffen. Die grundlegenden Ziele dieses „Voltaire-Zentrums“ sind die Vervollständigung der Ausgabe des Korpus seiner Lesenotizen, die Herausgabe eines wissenschaftlichen Katalogs von Voltaires Handschriften und deren Digitalisierung, die Einrichtung einer neuen erweiterten Ausgabe des Bibliothekskatalogs von Voltaire und die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Texten, die der Aufklärung in Europa gewidmet sind. Eine der spezifischen Aufgaben des Zentrums wird es sein, die Einheit der Bibliothek von Diderot und die Privatbibliothek von Katharina II. wieder herzustellen, die derzeit in der ausländischen Sammlung des BNR verstreut ist. Im Jahr 2003 wurde der Voltaire-Bibliothek ein neuer Standort innerhalb der Russischen Nationalbibliothek zugewiesen, der dank der französisch-russischen Zusammenarbeit geschaffen wurde, die von Nikolay Kopanev, dem damaligen Direktor der Abteilung für Seltene Bücher, initiiert und von den Regierungen Russlands und Frankreichs (insbesondere Präsident Jacques Chirac) unterstützt wurde. Die Wiederaufbauarbeiten begannen 2001 und wurden 2003 abgeschlossen. Der Saal wurde während des dreihundertsten Jahrestages der Gründung von St. Petersburg am 28. Mai 2003 in Anwesenheit der Premierminister der beiden Länder, Mikhail Kasyanov und Jean-Pierre Raffarin, eingeweiht. Das Centre d’Étude du Siècle des Lumieres wurde 2004 an derselben Stelle eingeweiht. Seitdem bringt das Internationale Kolloquium Lectures Voltairiennes Forscher aus allen Ländern zusammen. Die Voltaire Bibliothek ist für Besucher und Forscher geöffnet. Sie strebt danach, Voltaires Geist weiterzugeben: Bildung, Intelligenz, Toleranz und Offenheit gegenüber der Welt.

Bibliothek Voltaire
  1. Catherine II de Russie, Friedrich Melchior Grimm, Une correspondance privée, artistique et politique au siècle de lumière, Moscou 2016, S. 150 (Brief 63)
  2. Zu Grimm: Wolf, Winfried, Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg, Regensburg: Eigenverlag (epubli), 2019, 533 S.
  3. 1765 kaufte Katharina, um Diderot aus finanzieller Not zu retten, dessen Bibliothek, mit der er in Paris arbeitete (und auch diese Bibliothek befindet sich heute in Russland) und ließ ihm ein auskömmliches Jahresgehalt (1000 Livres) anweisen.
  4. Panckoucke wurde das Projekt aber zu anspruchsvoll und er verkaufte seine Unterlagen 1779 an Beaumarchais, der dann Voltaires Werke in der berühmten Kehler Gesamtausgabe herausgab.
  5. Wagniere, Brief an Grimm vom 18.8.1778, in: Jean-Louis Wagnière ou les deux morts de Voltaire, Correspondance inedite, présentation et notes de Christophe Paillard, Saint-Malo:Christel, 2005, 460 S, S.175 f. Die eilige Überstellung nach Genf war nötig geworden, nachdem Mme Denis das Schloss Ferney verkauft hatte und befürchtete, dass der neue Eigentümer die Bibliothek nicht herausgeben könnte.
  6. Eine besuchenswerte Internetseite zu diesem Thema: http://austria-forum.org/af/Heimatlexikon/Schriftsetzer (1996)
  7. Sieferle, Rolf Peter, Transport und wirtschaftliche Entwicklung, in: ders., Breuninger, Helga, Transportgeschichte im internationalen Vergleich Europa-China-Naher Osten, Stuttgart: Breuninger Stiftung 2004, S5-44.
  8. Nur so konnte er vom Kurfürsten zum König aufsteigen. Hildebrandt, Dieter, Das Berliner Schloß, Deutschlands leere Mitte, München:Hanser, 2011, 293 S.,S.65
  9. schreibt Grimm am 25.4. an Wagnière (310), nach Paillard, Jean Louis Wagnière, Oxford: Voltaire Foundation, 2008
  10. Paillard, Christophe, Jean-Louis Wagnière ou les deux morts de Voltaire, St. Malo: Christel, 2005, S.309/310
  11. Paillard, Christophe, Jean-Louis Wagnière, S.312
  12. Der Text folgt ab hier bis zum Ende: Bibliothèque Nationale Russe: La Bibliothèque de Voltaire, https://nlr.ru/voltaire/RA415/histoire-bibliotheque-Voltaire (abgerufen: 2022) und:
    Nikolaï Alexandrovitch Kopanev, La Bibliothèque de Voltaire à St. Petersbourg ; https://gallica.bnf.fr/dossiers/html/dossiers/Voltaire/D2/Frame.htm (abgerufen: 2022)

Online Ausstellungen der Russischen Nationalbibliothek St.Petersburg:
o Rousseau und Voltaire
o Voltaire und die Religion
o Geschichte der Voltaire-Bibliothek


Philosophisches Taschenwörterbuch: Beau, Beauté – Schön, Schönheit (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaires Artikel Schönheit scheint aus dem religionskritischen Rahmen des Philosophischen Taschenwörterbuchs herauszufallen. Zum Beispiel hätte das Schöne als Antithese zu einem Christentum entwickelt werden können, das die Menschheit jahrhundertelang mit eintönigen Ikonen und monotoner Musik langweilte. Davon ist in dem Artikel nicht die Rede. Auch nicht von Leibniz, der seiner Vorstellung von Gottes Schöpfung als der „besten aller möglichen Welten“ die von der „vollkommensten Schönheit, die möglich ist“, zur Seite stellte (GP VII,74, 76).

Stattdessen geht es ausschließlich darum, die Idee vom Absolut Schönen, wie sie seit Platon (Phaidros, Hippias maior, Symposium) herumspukt, ad absurdum zu führen. In der Renaissance perfektionierte die sogenannte Neuplatonische Schule Platons Idee vom Absolut Schönen zu einem Stufenmodell, auf dem man vom irdisch Schönen zum Absolut Schönen gelangt, und weiter auf allerhöchster Stufe zum Christengott selbst (Es war nicht von ihnen beabsichtigt, aber vielleicht entstand so eine Art ideologischer Schutz, unter dem – christlich verbrämt – Meisterwerke wie die Michelangelos, etwa der nackte David mit seinem schönen Po, entstehen konnten, ohne dass Papst und Sittenwächter etwas dagegen unternehmen konnten. Dass Michelangelo seine Kunstwerke mit religiösem Antrieb schuf, zeigt D. Krunic in Michelangelo Buonarotti – Seine Dichtungen).
Diese religiöse Überhöhung des Schönen und ihre philosophische Rechtfertigung ist es, gegen die Voltaire seinen kurzen Artikel schreibt.
Was wir als schön bezeichnen, ist bereits auf der „untersten Stufe“ relativ, wie kann es da sein, dass auf höherer Ebene, wenn es um Kunstwerke geht, ein alle Kulturkreise übersteigender Begriff des Schönen existierte? Weil relativ ist, was wir als schön empfinden; kann es eine allen Menschen gemeinsame Idee des Schönen nicht geben und schon gar nicht das religiös aufgeladene Absolut Schöne.

Die Debatte, was das ist, das wir als das Schöne bezeichnen, worauf also unser ästhetisches Urteil gründet, gewann im 18. Jahrhundert deutlich an Fahrt. Voltaire beschäftigte sich, anders als Diderot, nicht systematisch mit dem Thema, wenn er auch zur Schönheit in der Dichtkunst einiges verfasst hatte (etwa: Essai sur la poésie épique, 1732). Er hatte aber den Eindruck, dass sich die Argumente der Philosophen im Kreise drehen (wie bei Hutcheson: Schön ist, was gefällt, es gefällt weil es Lust erregt. Lust erregt es, weil wir einen inneren Sinn für das Schöne haben…).

Im 18. Jhdt zum Thema erschienen:
– Crousaz, Jean-Pierre de, Traité du beau, Amsterdam: François l‘Honoré 1715, 302 S.
– André, Yves Marie, Essai sur le beau 1741
– Hutcheson, Francis, Original of our Ideas of Beauty and Virtue (dt. Über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend) London, 1726.
– Diderot, Denis, Beau, in: Encyclopédie, Bd 2, 1752, S. 169–181, siehe: The Encyclopedia of Diderot & D’Alembert, Collaboration Translation Project engl./frz.
– Dubos, Jean Baptiste, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, Paris 1719 dt.: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, Kopenhagen : Mumm, (1760 -1761), 3 Bd. 461 S., 526 S., 287 S.
– Hume, David, Of the standard of Taste, dt.: Von der Grundregel des Geschmacks, in: Vier Abhandlungen, Quedlinburg und Leipzig, bey Andreas Franz Biesterfeld, priviligirten Buchhändler, 1759.
– Batteux, Charles, Les beaux-arts réduits à un même principe, Paris 1746, dt.; Einleitung in die Schönen Wissenschaften, Dritte und verbesserte Auflage, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich, 1760, 4 Bd.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1  (S.63, erster Satz: „Fragen Sie eine Kröte, was Schönheit ist…“): Hinter dieser scheinbar so launigen Einleitung steckt die wichtige Erkenntnis, dass, was wir (visuell) als schön empfinden, wesentlich durch die Proportionen und Beschaffenheiten unseres Körpers bestimmt wird. Montesquieu (lettres persanes) formuliert es, allgemeiner, so: „Wir beurteilen die Dinge immer nur durch einen insgeheimen Rückbezug auf uns selbst“.

Anmerkung 2 (S.63, zweiter Absatz: „Wenden Sie sich schließlich an die Philosophen, sie werden Ihnen mit verworrenem Geschwätz antworten..“): Voltaire hält es nicht für notwendig, sich hier mit den Gedanken und Theorien der Philosophen auseinanderzusetzen. Das tat Diderot ausführlich in seinem Artikel Beau der Enzyklopädie, wo er sich insbesondere mit Francis Hutcheson (1694 – 1758) beschäftigt, der von einem angeborenen Sinn für das Schöne ausgeht.

Anmerkung 3 (S.63, dritter Absatz: „welch ein schönes Medikament…“): Voltaire zeigt, dass die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit nicht, wie Shaftesbury glaubt, der Grund für unser Empfinden des Schönen sein kann. Diderot, der Shaftesburys Text (Inquiry concerning Virtue and Merit, in: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, London, 1711 ) ins Französisch übersetzt hatte (Principes de la philosophie morale; ou Essai de M. S*** sur le mérite et la vertu, Amsterdam: Zachaerie Chatelain, 1745, 297 S.) gibt dessen Auffassung so wieder: „Dass es nur ein Schönes gibt, dessen Grundlage die Nützlichkeit ist: So ist alles, was so organisiert ist, dass es am vollkommensten die Wirkung hervorbringt, die man beabsichtigt hat, das Allerschönste“ (Artikel Beau). Voltaire bezieht sich offenbar darauf und zeigt in seiner komischen Zuspitzung mit dem „schönen Medikament“, dass diese Erklärung absurd ist. Schade, dass er Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) nicht mehr lesen konnte, es wäre interessant gewesen zu erfahren, was er zu einer Theorie gesagt hätte, die das Schöne einerseits in seinem Sinne extrem subjektiviert, andererseits aber mit seiner Diskurstheorie wieder voll und ganz in die Gemeinschaft der Menschen integriert.

Anmerkung 4 (S.63, dritter Absatz: „Er gab zu, dass die Tragödie in ihm diese beiden Gefühle wachgerufen hatte…“): Voltaire folgt hier dem empirisch-experimentellen Ansatz von J.B. Dubos, nachdem man bei der Untersuchung des Schönen mit dem beginnen soll, was wir unmittelbar subjektiv als schön empfinden, um erst dann, darauf aufbauend, zu eventuellen Verallgemeinerungen fortzuschreiten.

Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (1): Auf dem Weg zum eigenen Namen

Kritisch kommentiert von Rainer Neuhaus

Das erste Kapitel der neuen Voltaire Biographie von Prof. Volker Reinhardt , das sich Kindheit und Jugend Voltaires widmet, orientiert sich sehr stark an der nur auf Französisch erschienenen Biographie von René Pomeau. Reinhardt erzählt routiniert, aber auch mit großer Distanz zu seinem Gegenstand.
Zum Beispiel wertet er die Jugendliebe Voltaires zu Pimpette als „Pflichtpensum“, so als ob er selbst nie neunzehn Jahre alt gewesen wäre. Bei der Vorstellung von Voltaires erstem, erfolgreichen Theaterstück Ödipus bleibt er in den Bahnen gewöhnlicher Interpretationsmuster und gerät, wo er darüber hinausgeht, in eine Sackgasse. Dagegen stellt er die ersten Erzählungen Voltaires Cosi Sancta und Der einäugige Lastenträger kurz und prägnant vor, so dass man durchaus Lust bekommt, sie selbst zu lesen, genau, wie es sein soll. Folglich ist unser Gesamteindruck von Kapitel 1 ambivalent. Hier dazu die ausführlichere Begründung: 

„Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (1): Auf dem Weg zum eigenen Namen“ weiterlesen

„Würde sich Voltaire impfen lassen? Und taugt ein weisser Mann des 18. Jahrhunderts als Vorbild für Toleranz?“ NZZ, 28.1.2022

In einem Interview mit Professor Reinhardt (Universität Fribourg) versucht ihn der Fragesteller immer wieder mit Tagesaktuellem aufs Glatteis zu führen. Das gelingt nicht. Vor allem, weil Reinhardt, der gerade eine voluminöse Voltairebiographie herausgegeben hat, eisern an der Forderung Voltaires festhält, nach der die Meinungsfreiheit für Alle und für jedes Thema zu gelten hat -ohne Ausnahme. Wir haben das Interview in vier aufeinanderfolgenden Beiträgen kommentiert (Impfen, Meinungsfreiheit, Wahrheit, Kirche). Man kann das Interview in der NZZ online nachlesen.

Anlässlich der Pestepidemie in Italien: Gerüchte, lächerliche Gegenmaßnahmen und Übertreibungen, Panik und Aberglaube.
Neujahrsbrief Voltaires an Katharina II. von Russland

                                                                           Zu Ferney, 1. Januar 1772
Madame,
ich wünsche Eurer Kaiserlichen Majestät für das Jahr 1772 nicht Vermehrung des Ruhms, denn dieser ist größer nicht möglich, sondern eine Vermehrung der Nasenstüber für Moustapha und seine Wesire, einige neue Siege, dass Ihr Hauptquartier in Adrianopel (heute Edirne, westlich von Istanbul) liegen möge und den Frieden.*

„Anlässlich der Pestepidemie in Italien: Gerüchte, lächerliche Gegenmaßnahmen und Übertreibungen, Panik und Aberglaube.
Neujahrsbrief Voltaires an Katharina II. von Russland“
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Saudi Arabien: Ali Mohammed An-Nimr nach 10 Jahren Haft im Oktober 2021 freigelassen

Ali Mohammed an-Nimr ist ein Neffe des schiitischen Geistlichen Sheik Nimr Al-Nimr, der 2014 zum Tode verurteilt und am 2. Januar 2016 in Saudi Arabien hingerichtet wurde, weil er für die schiitische Minderheit (10%) in Saudi Arabien mehr Rechte einforderte.

„Saudi Arabien: Ali Mohammed An-Nimr nach 10 Jahren Haft im Oktober 2021 freigelassen“ weiterlesen

Voltaire und Lucilio Vanini, am 9.2.1619 von der katholischen Inquisition verbrannt

Lucilio Vanini (1585, Taurisano – 9. Februar 1619 in Toulouse), italienischer Theologe und Naturphilosoph, wurde am 9. Februar 1619 von der katholischen Inquisition in Toulouse bestialisch hingerichtet. Sein Verbrechen: Er vertrat eine pantheistische Naturphilosophie. derzufolge Gott in und durch die Natur wirkt, sich in den materiellen und geistigen Dingen der Welt manifestiert. Eine Lehre, die von der Kirche als atheistisch und blasphemisch verurteilt wurde.

Die Verurteilung Vaninis ist für Voltaire ein Jusitzmord, ein Beispiel der grausamen Verfolgungsbereitschaft des Christentums überhaupt. Er widmet Vanini und seinem schrecklichen Schicksal eine längere Passage in dem Artikel ‚Athée-Atheisme‘ des Philosophischen Taschenwörterbuchs, ein ganzes Kapitel in seinen Briefen über Rabelais und kommt in seiner Korrespondenz immer wieder auf diesen Fall zu sprechen. Vanini gehört für ihn zum Kreis der „Märtyrer der Aufklärung“, deren Namen er immer wieder erwähnt. In seinen Äußerungen zu Vanini unterläßt es Voltaire niemals, darauf hinzuweisen, dass er kein Atheist war, dass man ihn nicht deshalb, sondern wegen eines konstruierten Vorwurfs verurteilte, vielleicht wegen einer Intrige, oder weil er zuhause eine lebende Kröte im Aquarium hielt. Man sieht: Voltaire wollte aus Sicherheitsgründen mit den Lehren Vaninis, denen er teilweise sehr nahestand, nicht zu sehr in Verbindung gebracht werden.

Wer war Lucilio Vanini?

„Voltaire und Lucilio Vanini, am 9.2.1619 von der katholischen Inquisition verbrannt“ weiterlesen

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amitié – Freundschaft (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaire war dem Kult der Freundschaft, wie er in der griechischen Antike zelebriert wurde, durchaus zugeneigt, wenn auch mit der ihm eigenen Skepsis.
Für den Artikel Amitié (Freundschaft) hat Voltaire, anders als bei vielen anderen Artikeln des Philosophischen Taschenwörterbuchs, seine Autorschaft nie verleugnen müssen. Der Artikel ist in erweiterter Form auch in seinem 440 Artikel umfassenden Werk Questions sur l’Encyclopédie (1770 -1774) enthalten.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S. 28, dritter Absatz: „Die Begeisterung für die Freundschaft war bei den Griechen und den Arabern stärker als bei uns“): Bereits in seinem 1734 erschienenen Gedichtzyklus Discours en vers sur l’homme (IV) sucht Voltaire Anschluss an die antike Begeisterung für die Freundschaft: „Oh göttliche Freundschaft, vollkommene Glückseligkeit/Einzige Empfindung, die Maßlosigkeit erlaubt“ (O divine amitié, félicité parfaite/Seul mouvement de l’âme où l’excès soit permis).

16.10.2020: Islamist enthauptet Lehrer Samuel Paty in Conflans-Sainte-Honorine bei Paris

Während die Zeugen zum Charlie Hebdo Attentat vernommen werden, unter Ihnen die Angehörigen der 12 Ermordeten von 2015, ermächtigt sich am 16.10.2020 ein 18 jähriger Islamist (das ist ein Mensch, der den Koran über die bürgerliche Gesetze stellt), mit einem Fleischermesser sein eigenes Blutgericht aufzuführen. Er erstach den Lehrer für Geschichte und Geographie Samuel Paty auf offener Straße. Anschließend trennte er den Kopf vom Rumpf des ermordeten Lehrers. Paty hatte im Unterricht mit seinen Schülern Mohamedkarrikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt, um sie in der Klasse zur Diskussion zu stellen.

Voltaire (Artikel Fanatismus in seinem Philosophischen Taschenwörterbuch): „Es sind gewöhnlich Schurken, die die Fanatiker anführen und ihnen den Dolch in die Hand geben“.

Der Täter Abdoullakh A., ein in Frankreich anerkannter Asylant aus Tscheteschenien, spricht nicht Französisch und sehr schlecht Englisch.

Valeria Messalina

Messalina war die dritte Ehefrau Claudius‘. Ihre Eltern Domitia Lepida und Marcus Valerius Messala Barbatus waren Cousin und Cousine. Sie kam um 25 nach Christi zur Welt. Sie heiratete Claudius, den späteren Kaiser von Rom und hatte mit ihm drei Kinder: Claudia, Octavia, Britannicus.
Wie und warum es zur Hochzeit zwischen ihr und Claudius kam, ist nicht bekannt. Bekannt ist nur, daß sie sich über Caligula kennenlernten. Zur Zeit ihrer Hochzeit war Messalina etwa 15, Claudius dagegen fast 50 Jahre alt. Ein gegensätzliches Paar also, denn während Claudius ein von seinen Krankheiten gekennzeichneter, alter Mann war, galt Messalina als herbe Schönheit mit schwarzen, gewellten Haaren, die bereits bei dem ersten Festessen, das Claudius als Kaiser gab, großen Reiz auf die Gäste ausübte. Die Hochzeit fand also um das Jahr 39 statt und bereits Anfang 40 gebar Messalina ihr erstes Kind, Octavia genannt, und schon wenige Monate später, im Februar 41, kam ihr Sohn Britannicus (eigentlich Germanicus) zur Welt. Doch in der Zwischenzeit hatte sich etwas ereignet, das ihr ganzes Leben verändern sollte: Claudius wurde durch den Staatsstreich im Januar 41 Kaiser und sie somit die Frau des wohl mächtigsten Mannes der Welt, der ihr noch dazu vor allem in den ersten Ehejahren hoffnungslos verfallen war.
Innerhalb von zwei Jahren hatte sich das Blatt für Messalina gänzlich gewandelt. Aus dem Mann, den Caligula nur am Leben ließ, um sich über ihn lustig zu machen und der als verblödet galt, war der Kaiser geworden, und sie hatte ihm einen möglichen Thronfolger geboren. Mit 16 Jahren stand sie schon im Zenit der Macht und begann, sich zu langweilen, da das Palastleben nur still vor sich hinlief und ihr Mann viel zu sehr von den Regierungsgeschäften in Anspruch genommen wurde, als daß er sich genug um seine Frau hätte kümmern können. So fing Messalina, die mit einem launischen und impulsiven Charakter ausgestattet, gleichzeitig aber auch unsicher und empfindlich in ihren Gefühlen war, sich zu zerstreuen: Sie gab Bankette und Feste, die schon bald in jeglicher Art zu Orgien ausuferten und ihr den Ruf ungezügelter und unersättlicher Lust gaben. Tatsächlich hatte sie etliche Liebhaber, darunter den Mimen Mnester.
Doch nicht nur in dieser Hinsicht betrog und belog Messalina Claudius: Sie fing an, unter dem Einfluß des griechischen Freigelassenen Narcissus, der eine sehr mächtige Position innehatte, das römische Bürgerrecht zu verkaufen, indem sie ihren Mann, der dies eigentlich nur verdienten Mitgliedern der Provinzen verlieh, zu bestimmten Personen hin beeinflußte, von denen Narcissus dafür Geld kassierte. Auch Gerichtsurteile konnte man in gleicher Weise von den beiden erkaufen.
Aber nicht nur so setzte Messalina ihre Macht ein: Sie ließ im Laufe der Zeit auch viele Menschen töten, tw. aus den nichtigsten Gründen. So mußte ihre Cousine Livilla z.B. nur deshalb sterben, weil sich Messalina von ihr nicht genug beachtet fühlte. Dabei schob sie immer Claudius vor, dem sie einredete, dieser oder jener habe ein Verbrechen wie Ehebruch begangen oder einen Angriff auf ihn vorgehabt, wodurch die Todesurteile einen offiziellen Anstrich bekamen.
Doch trotz ihrer zahlreichen Liebschaften und dem durch das erpreßte Geld möglichen, aufwendigen Lebensstil war Messalina nicht glücklich. Sie war voller Unruhe und Nervosität, und ihr Herz, das sich eigentlich ganz einfach nur nach Liebe sehnte, hatte sich verhärtet. So fing sie an, sich selbst zu erniedrigen: Sie prostituierte sich heimlich nachts unter dem Namen Licisca und verkaufte sich dabei an jeden beliebigen.
Jeder im Volk kannte ihren Lebenswandel. Ihr und dadurch auch Claudius‘ Ansehen sank drastisch. Aber gerade Claudius, der dem ganzen hätte Einhalt gebieten können, reagierte überhaupt nicht. Weshalb? Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wußte er nichts über die Schandtaten seiner Frau, zumal er mit Regierungsgeschäften viel zu beschäftigt war und Messalina wußte, wie sie sich ihn vom Hals halten konnte (sie schickte ihm sogar ihre Sklavinnen, damit er sich sexuell mit ihnen und nicht mit ihr befriedigte) und außerdem vertraute er ihr maßlos. Oder er verschloß bewußt vor alle dem die Augen, um seine „intakte“ Familie nicht zu verlieren. Wahrscheinlich ist eine Mischung von beidem, die natürlich auch von seiner Leichtgläubigkeit profitierte. Anders kann man nicht erklären, wieso Claudius auch die schlimmste Schandtat seiner Frau ihm gegenüber nicht vereitelte.
Gaius Silius wurde als der schönste Mann Roms bezeichnet. Messalina verliebte sich unsterblich in ihn. Sie lebte mit ihm im Kreise ihrer Freunde wie ein Ehepaar. Ihre Leidenschaft zu Silius war zerstörerisch, zügellos und skandalös. Um eine ihr genehme Unterkunft für ihn zu besorgen, ließ sie Asiaticus, einen angesehenen Bürger Roms, wegen Ehebruchs zum Tode verurteilen, da er die Gärten des Lucullus (eine sehr schöne Gartenanlage mit Villa) besaß, in die Silius dann auch bald einzog. Doch diese Beziehung zu Silius reichte Messalina bald nicht mehr: Sie wollte ihn heiraten. Diese unmöglich scheinende Vorhaben wurde verwirklicht, als Claudius sich in Ostia aufhielt. Zuvor hatte Messalina ihn zur Scheidung überredet, indem sie ihm einredete, sie habe geträumt, ihr Mann würde sterben. Da die Römer sehr viel Gewicht in Träume legten, bekam es Claudius mit der Angst zu tun. Aber Messalina hatte schon einen „Ausweg“ parat: Sie müßten sich scheiden lassen, so daß sie einen anderen heiraten könnte, der dann als ihr Mann stürbe. Claudius stimmte dieser Idee zu. Als Claudius in Ostia weilte, wurde ihm durch seine Mätressen gesteckt, daß Messalina und Silius einen Mordanschlag auf ihn vorhätten, um selbst die Macht zu übernehmen. Hinter diesem Komplott gegen die beiden stand Narcissus, der inzwischen von Messalina verschmäht worden war und nun Rache nehmen konnte. Diesen Plan zum Mordanschlag hat es tatsächlich gegeben, nur war er so stümperhaft angelegt, daß er nicht funktionieren konnte und von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Nachdem er dies erfahren hatte, eilte Claudius nach Rom zurück, wo inzwischen alle Teilnehmer der Hochzeit bei einem Fest verhaftet worden waren. Der Großteil wurde sofort zum Tode verurteilt wie auch Silius. Messalina aber wollte der Kaiser noch einmal anhören, und es schien fast so, als würde er ihr noch einmal verzeihen. Dies wußte Narcissus aber zu verhindern, indem er Messalina angeblich auf Befehl des Kaisers töten ließ. Als Claudius davon erfuhr, sah er nicht einmal von seinem Essen auf. Dies geschah 48, Messalina wurde also nur 23 Jahre alt.
Claudius heiratete bald darauf auf Anraten seiner Berater seine Nichte Agrippina, deren Sohn Nero, der schon immer beim Volk beliebter war als Claudius‘ Sohn, der nächste Kaiser werden sollte. Seinen eigenen Kindern war kein schönes Schicksal beschieden: Britannicus wurde 55 vergiftet, Octavia, die Nero heiratete, wurde von diesem verstoßen und 62 grausam getötet (Neros nächste Frau erhielt ihren Kopf als „Liebesbeweis“).
So blieb nichts mehr von Messalina als ihr bis in die Gegenwart bestehender Ruf als sittenlose und grausame Kaiserin.