Philosophisches Taschenwörterbuch:
Athée, Athéisme – Atheist, Atheismus (Kommentare)

Hintergrund:
Wer im 18. Jahrhundert die Meinung vertrat, dass es keinen Gott gäbe, zog dadurch nicht nur die Existenzberechtigung der Kirche in Zweifel, sondern auch die Legitimität des Königs, der Monarchie, die ihre Macht direkt ‚von oben‘ erhalten zu haben behauptete. Die Kirche verbreitete diese Erzählung gerne, um so mehr, als ihr im Gegenzug wertvolle Vorteile (Steuerbefreiung) und Pfründe, Staatsposten zuflossen. Jeder, den Kirche und Monarchie des Atheismus beschuldigten, war gefährdet, jeder, der offen atheistische Positionen vertrat, war in Lebensgefahr. Diderot wurde wegen Atheismusverdacht drei Monate ins Gefängnis geworfen, dem Chevalier de la Barre wurde wegen Atheismus – man wagt es kaum zu glauben – vom weltlichen Arm der Kirche die Zunge herausgeschnitten. Anschließend wurde er öffentlich verbrannt und mit ihm Voltaires Dictionnaire philosophique portatif, das der junge de la Barre besessen hatte. Erst die Französische Revolution machte mit der Adels- und Klerusherrschaft endgültig Schluss.
Die erste offen atheistische Schrift der Neuzeit, Jean Mesliers Testament, konnte ab 1729 nur als Manuskript zirkulieren und wurde erstmals 1762 von Voltaire in einem entschärften Auszug: Extraits des sentiments de Jean Meslier publiziert. Ganz aufgeweckte Geister unserer Tage wollen ihm daraus einen Vorwurf machen, dass er nur eine entschärfte Kurzversion zu veröffentlichen wagte. Das aufsehenerregende Werk L’homme machine von La Mettrie erschien 1748 anonym und zwang seinen Autor trotz versuchter Geheimhaltung ins Ausland zu fliehen (er fand bei Friedrich dem Großen in Berlin Schutz) und des Baron d’Holbachs Système de la Nature, auf La Mettrie aufbauend, konnte 1770 nur anonym erscheinen. Da man den anonymen Autor dem Kreis der Philosophen zuordnete, sah sich Voltaire gezwungen sich mit seiner Réponse au système de la nature umgehend davon zu distanzieren. Über diese Zusammenhänge informiert unterhaltsam und noch immer aktuell Fritz Mauthner in seiner Geschichte des Atheismus (S.63 ff).
Es ist eindeutig, dass Voltaire in den offen atheistischen Schriften eine große Gefahr für sich selbst und für die Sache der Aufklärung überhaupt sah. In seinem Aufsatz zum Thema Voltaire contre le Système de la nature (Cahiers Voltaire 20, 2021, S. 9 – 38) zeigt Gerhardt Stenger (Université Nantes) jedoch anhand der Anmerkungen, die Voltaire in seinem Exemplar von d’Holbachs Système de la Nature notiert hat, dass seine öffentliche Kritik eindeutig taktisch und nur in sehr geringem Maß Ausdruck seiner eigenen Meinung war (das persönliche Exemplar Voltaires ist in der Bibliothek von St. Petersburg – Katharian der Großen sei Dank – bis heute erhalten geblieben).
Die Aufnahme eines Artikels Atheismus in das Philosophische Taschenwörterbuch war vor diesem Hintergrund ein Wagnis. denn natürlich stürzten sich alle Schnüffler und Denunzianten darauf, um Voltaire daraus einen Strick zu drehen. Der aber nutzte die Gelegenheit, um genau sie, die fanatischen Verfolger und Meuchelmörder, an den Pranger zu stellen. Dass er sich das trauen konnte, lag an seiner ökonomischen Unabhängigkeit und an der Lage seines Wohnsitzes Ferney: Im Notfall hätte er über die Schweizer Grenze ins preußische Neuendorf entkommen können.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.49 Mitte „[Aristophanes] würden wir nicht erlauben, seine Farcen auf dem Jahrmarkt von Saint Laurent aufzuführen“: Im Osten von Paris wurde seit Mitte des 15. Jhdts. von August bis September der große Jahrmarkt von St. Laurent abgehalten mit vielen Gauklern, Bänkelsängern, Theaterleuten.

Anmerkung 2 (S.50 Mitte „Die Römer haben keinen einzigen Philosophen wegen seiner Ansichten verfolgt“: Die Aussage Voltaires bezieht sich auf religiöse Ansichten. Dazu er bereits in seinem sein Werk Traité sur la Tolérance ein Kapitel verfasst: Waren die Römer tolerant?

Anmerkung 3 (S.50 Mitte „Sowie Kaiser Friedrich Streit mit dem Papst hat, bezichtigt man ihn Atheist zu sein…): ‚Atheist‘ war der Kampfbegriff der Kirche gegen Oppositionelle. Den Kampf Kaiser Friedrich II. gegen den Papst schildert Voltaire im 52. Kapitel seines Essai sur les moeurs (Über den Geist und die Sitten der Nationen).

Anmerkung 4 (S.50 Mitte [Kaiser Friedrich II und Petrus de Vinea]): Im Jahr 1239 exkommunizierte Papst Gregor IX Kaiser Friedrich. Voltaire beschreibt die Auseinandersetzung in seinen Annales de l’Empire; Petrus de Vinea wurde als Berater, Schreiber., Sekretär von Friedrich II hochgeschätzt, dann aber grausam bestraft. Wie es zu dem Zerwürfnis kam, rekonstruiert Kantorowicz in seiner monumentalen Friedrich Biographie

Anmerkung 5 (S.47 Das Konzil von Laodikeia 360 zählte die Apokalypse nicht zu den kanonischen Schriften): Laodikeia ist eine antike Stadt in Phrygien, 6 km nördlich des heutigen Denizli (Türkei) und 10 km südlich von Hierapolis, am Fluss Lykos (heute Çürüksu cayi), einem Nebenfluss des Mäander, gelegen. Es gab dort eine frühe christliche Gemeinde. Die Stadt gehörte zu den sieben von Johannes in der Offenbarung genannten. Erst durch das dritte Konzil von Karthago 397 wurde die Apokalypse offiziell in die Reihe der kanonischen Schriften aufgenommen.

Anmerkung 6 (S.50 unten, Michel de l’Hopital und das Zitat ‚Homo ductus sed verus atheos‘ aus dem Commentarium rerum Gallicarum [Anm. Voltaires]): 1568 zog sich der ultraorthodoxe Bischof von Metz, François de Beaucaire de Péguillon (1514-1591), von seinem Amt zurück, um eine Geschichte Frankreichs der letzten hundert Jahre zu schreiben. 1625, nach dem Tod de Péguillons unter dem Titel “Rerum gallicarum commentarii“ veröffentlicht, enthält das Werk zahlreiche Zeugnisse seiner Verfolgungsbereitschaft gegen die Hugenotten (die er als Häretiker und Atheisten ansieht) und seines ausgeprägten machtpolitischen Instinkts. Ganz im Gegensatz dazu war Michel d’Hospital, oder auch Hôpital, (1505-1573) ein Mann des Ausgleichs und der Toleranz, der während seiner Kanzlerschaft dafür sorgte, dass alle Ketzerprozesse gegen Hugenotten eingestellt wurden. Zu den französischen Religionskriegen (1562 -1598) und Voltaires Sicht siehe Kap. 170 in seinem Essai sur les moeurs (Über die Sitten).

Anmerkung 7 (S 50 unten, Der Jesuit Garasse): François Garasse (1585-1631) war ein fanatischer Vertreter der katholischen Gegenreformation. Seine Gegner titulierte er mit allen möglichen Tiernamen, bevorzugt als Ungeziefer. Im Fall des Ketzerprozesses gegen Vanini war er einer der Haupteinpeitscher. Sein Name rangiert in der Galerie der größten Finsterlinge der Geschichte sicher auf einem der oberen Plätze. Seine Kampfschrift La Doctrine curieuse des beaux-esprits de ce temps ou prétendus tels (1624) wurde im Jahr 2009 tatsächlich neu aufgelegt – siehe dazu die Rezension in Le Monde vom 20. März 2009

Anmerkung 8 (S.51 oben, „Er bezeichnete Théodor de Bèze als einen Atheisten“): Zwar hat Garasse den bedeutenden calvinistischen Theologen nicht als Atheisten bezeichnet, aber als armseligen Idioten , als Dieb eines Silberlöffels, als Häretiker – aus einem einzigen Grunde: de Bèze war vom Katholizismus zum Calvinismus konvertiert und in Genf zum Stellvertreter Calvins und nach dessen Tod 1564 zu dessen Nachfolger geworden. Zur Biographie de Bèze siehe Meyers Konversationslexikon 1885-1889.

Anmerkung 9 (S.51, Vanini): Es ist vor allem Voltaire zu verdanken, dass durch die Aufnahme in das philosophische Taschenwörterbuch die Biographie und der Ketzerprozess gegen Lucilio Vanini (1585 – 1619) der Vergessenheit entrissen wurde. Er ist immer wieder auf den Fall zurückgekommen, in seinen Briefen (D923,D980,D950), in seiner Schrift Sur les contradictions du monde (1742) und im dritten Brief ‚Sur Vanini‘ seiner Lettres à S.A.Mgr. le prince de *** (1767).
Zu Vaninis Leben und Werk siehe unsere Extraseite Voltaire und Vanini.

Anmerkung 10 (S.52, dass Gott eine Kette von Wesen geschaffen hat): Die goldene Kette, die vom Himmel herab zur Erde reicht, ist ein Bild aus dem 8. Gesang der Illias, um die Allmacht Zeus‘ zu zeigen. Platon in seinem Theaitos interpretiert das Bild als Ausdruck des Umlaufs der Planeten um die Sonne.

Anmerkung 11 (S.52 Mitte, „Dieser Francon oder Franconi..“): Der Historiker Gabriel-Barthélemie Gramond (auch Grammont, wie von Voltaire, genannt – sein Vater war der Vorsitzende des Toulouser Gerichts und somit für das Terrorurteil gegen Vanini verantwortlich) behauptete in seinem Historiarum Galliæ ab excessu Henrici 4. libri 18, Francon sei aufrichtig und von vornehmer Herkunft gewesen. Aus seinem Bericht speist sich bis heute, was man über den Prozess weiß. Veyssière de la Croze übersetzte 1733 einiges daraus ins Französische und veröffentlichte es in seiner Dissertation sur l’Athéisme et sur les Athées modernes (in: Entretiens sur divers sujéts d’histoire, S.250 – ) in der er Vanini verteidigt (etwa S.374f). Voltaire verwendete die Abhandlung La Crozes zur Abfassung seines Artikels. Zu Veyssière de la Croze (1661-1739), Philosophieprofessor in Berlin und Erzieher von Wilhelmine von Bayreuth, mit der Voltaire befreundet war, existiert ein kurzer Wikipediaartikel.

Anmerkung 12 (S.53 Mitte, indem man „irgendeinen unschuldigen Ausdruck verdrehte“): Vanini hatte in seinem Dialog (s.Anm 16) einen Atheisten zu Wort kommen lassen. Dessen Äußerungen und Argumente legte ihm nun insbesondere Garasse (s. Anm.7) zur Last.

Anmerkung 13 (S.54 oben, „Vor Pater Mersenne hatte niemand einen so haarsträubenden Unsinn
geäußert“): Der Minimitenpater Mersenne (L’impitiés des déistes, athées et libertins 1624) hatte Vanini beschuldigt, ein Kinderschänder (!) zu sein, außerdem behauptete er, Vanini hätte beabsichtigt, das Christentum zu zerstören.

Anmerkung 14 (S.54 oben, [Mersennes haarsträubender Unsinn] hat historische Lexika verpestet): Etwa den Artikel Vanini in: Le Grand dictionnaire historique 1740 von Moreri.

Anmerkung 15 (S.54 2.Absatz, Pierre Bayle spricht von Vanini als Atheisten): In seinen Pensées sur les comètes widmet Bayle einen Abschnitt dem Schicksal Vaninis, dessen Standhaftigkeit vor Gericht er als Beweis dafür nimmt, dass Atheisten ein Gefühl der Ehrbarkeit besitzen können (§182). Dass eine Gesellschaft aus Atheisten lebensfähig wäre, scheint ihm durchaus möglich, weil auch die Gesellschaft von Gottesgläubigen vor allem durch weltliche Strafen reguliert wird und Christen nur zu oft gegen ihre religiösen Vorschriften handeln. (§161, §172)

Anmerkung 16 (S.54 2.Absatz, Vanini „war in seinen Schriften wie im Leben ein Freigeist“):In seinen Dialogen, enthalten in: De natura arcanis berichtet Vanini seinem Gesprächspartner, was er mit einem Atheisten diskutiert hat – hier zeigt er sich in der Tat als ein aufgeschlossener und toleranter Mensch – als Freigeist eben. Die Dialoge hat Rousselot 1842 ins Französische übersetzt.

Anmerkung 17 (S.54 3.Absatz, Philateles): das ist Peter Friedrich Arpe . Seine Verteidigungsrede Apologia pro Vanino erschien 1712 in Latein und wurde nie ins Deutsche übersetzt. Zu Arpe siehe Artikel in Wikipedia.

Anmerkung 18 (S.54 4.Absatz, Hardouin): Ob Jean Hardouin (1646-1729), der in allem und jedem Atheisten sah, der Autor der Athei detecti war, ist nicht gesichert. Zu Hardouin kann man den englischen Wikipediaartikel lesen (‚Although Hardouin has been called „pathological“, he was only an extreme example of a general critical trend of his time‘) – der deutsche ist ungeniessbar rechtfertigend.

Anmerkung 19 (S.55 2.Absatz, dass die Erlasse der chinesischen Kaiser Predigten sind): Voltaire bezieht sich auf du Halde, Descriptions de la Chine Paris 1725, der in seinem 3. Bd über die Verehrung eines höchsten Wesens bei den Chinesesn berichtet dt.: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey: Aus dem Französischen mit Fleiß übersetzet, nebst vielen Kupfern Bd. 3, § 33-35 Rostock : Koppe, (1749).

Anmerkung 20 (S.57 unten, Spinoza): Ob Spinoza Atheist war, darf bezweifelt werden, er war eher ein Pantheist. Voltaire jedenfalls folgte Pierre Bayle in der Ansicht, dass er ein Atheist gewesen sei. Zu dem Thema siehe die ausführliche Rezension des Buches Czelinski-Uesbeck, Michael: Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland 2007 in der Zeitschrift Information für Philosophie des Meiner Verlags.

Anmerkung 21 (S.57 unten, die Brüder de Witt): Johan de Witt (1625-1672) war als Mitglied des holländischen Rates Regierungschef aller Provinzen der Niederlande. Unter ihm wurde die Monarchie abgeschafft zugunsten einer republikanischen Staatsordnung. Er wird als unbestechlich und tolerant geschildert. Unter seiner Führung konnte Baruch des Spinoza in den Niederlande seine Werke publizieren und war vor Verfolgung geschützt, so wie viele aus Frankreich geflohene Hugenotten. Als unter Wilhelm III. von Oranien die Monarchie wieder Oberwasser bekam, hetzte sie einen blutrünstigen Mob gegen Johan de Witt und seinen Bruder Cornelis, zog deren Bewachung gezielt zurück und lieferte die beiden schutzlos der Meute aus, die sie buchstäblich in Stücke riss. Einige behaupten, man habe ihre Körperteile sogar verspeist. Alexandre Dumas verarbeitete die Ereignisse in seinem Roman Die schwarze Tulpe.