Amor omnibus idem1 Hier muss man über das Körperliche sprechen, denn: Die Liebe ist ein Stoff, den die Natur gewebt und die Phantasie bestickt hat. Willst du eine Vorstellung von der Liebe, so schau auf die Spatzen in deinem Garten; auf deine Tauben; betrachte den Stier, welchen man zu deiner Jungkuh bringt; sieh den stolzen Hengst, den zwei seiner Stallburschen der friedlichen Stute zuführen, die ihn erwartet und ihren Schweif zur Seite dreht, um ihn zu empfangen; sieh wie seine Augen sprühen; höre sein Gewieher; betrachte dies Springen und Tänzeln, die gespitzten Ohren, das Maul, wie es sich unter kurzen Zuckungen öffnet, die geblähten Nüstern, den entflammten Atem, der daraus entweicht, die Mähne, die sich sträubt und wogt, diese herrische Bewegung, mit der er sich auf das Objekt stürzt, das die Natur ihm bestimmt hat. Du aber sei bloß nicht eifersüchtig, sondern denke an die Vorteile der menschlichen Gattung: sie entschädigen in der Liebe für alles, was die Natur den Tieren mehr gab: Kraft, Schönheit, Zwanglosigkeit, Schnelligkeit.
Auch gibt es Tiere, die Sinneslust überhaupt nicht kennen. Die schuppigen Fische sind dieser Wonne bar, das Weibchen wirft Millionen von Eiern auf den Schlamm; das Männchen, wo es sie trifft, zieht darüber hin und befruchtet sie mit seinen Samen, ohne sich zu bekümmern, welchem Weibchen sie zugehören.
Die meisten sich paarenden Tiere kosten die Lust nur mit einem einzigen Sinn, der, sobald sein Appetit gestillt ist, erlischt. Kein Lebewesen außer Dir kennt die Umarmung; Dein ganzer Leib ist empfindsam; Deine Lippen vor allem genießen eine Wollust, die um nichts ermüdet, und diese Lust gehört Deiner Gattung allein. Schließlich kannst Du Dich jederzeit der Liebe hingeben, während die Tiere nur einen begrenzten Zeitraum haben. Wenn Du solche Vorteile bedenkst, wirst Du mit dem Grafen von Rochester sagen: „Die Liebe brächte noch ein Land von Atheisten dahin, das Göttliche anzubeten“. 2
Weil die Menschen die Gabe erhalten haben, alles, was die Natur ihnen geschenkt hat, zu vervollkommnen, haben sie auch die Liebe vervollkommnet. Die Sauberkeit, die Körperpflege, die die Haut angenehmer machen, erhöhen die Lust am Berühren und das Achtgeben auf die eigene Gesundheit macht die Organe der Lust empfindsamer.
Alle anderen Empfindungen münden schließlich in die der Liebe, so wie Metalle, die sich mit Gold verbinden: die der Freundschaft, der Achtung, kommen zur Verstärkung; die Gaben des Körpers und des Geistes fügen sich ineinander.
Nam facit ipsa suis interdum faemina factis,
Morigerisque modis, et mundo corpore cultu,
Ut facile insuescat secum vir degere vitam
(Lukrez, de rerum naturae Buch IV, Vers 1280)3
Bewirkt die Frau doch manchmal durch ihre fügsame,
willige Art und den sauber gepflegten Körper,
dass sie dich leicht daran gewöhnt, ein Leben mit ihr zu verbringen
Vor allem die Eigenliebe hält all diese Verbindungen zusammen. Man applaudiert sich selbst zu seiner Wahl und zahlreiche Illusionen schmücken ein Werk aus, dessen Grundlagen die Natur gebildet hat.
Das also ist, was Du den Tieren voraus hast, aber wenn Du auch viele Freuden kostest, die sie nicht kennen, so auch Leiden, von denen sich Tiere überhaupt keine Vorstellung machen!
Das Schreckliche bei Dir ist, dass die Natur in drei Vierteln der Erde die Liebesfreuden und die Quellen des Lebens mit einer scheußlichen Krankheit4 vergiftet hat, die nur den Menschen trifft und die nur bei ihm die Fortpflanzungsorgane infiziert.
Es gibt außer dieser Pest noch zahlreiche andere Krankheiten, die Folge unserer Ausschweifungen sind. Es ist nicht die Ausschweifung selbst, die sie in die Welt gebracht hat. Phryne, Lais, Flora, Messalina5 wurden nicht von ihr befallen, sie ist auf Inseln entstanden, wo die Menschen in Unschuld lebten und hat sich von dort auf die alte Welt ausgedehnt.
Wollte man je die Natur anklagen, ihr eigenes Werk zu verderben, ihrem eigenen Plan zu widersprechen, gegen ihre Absichten zu handeln, so wäre es bei dieser Gelegenheit. Ist dies die beste aller Welten? Und wie! Wenn jene Krankheit Cäsar, Antonius, Octavius nicht befiel, wie war es dann möglich, daß sie Francois I6 den Tod brachte? Nein, sagt man, die Dinge wurden so zum Besten eingerichtet: ich möchte es glauben, aber es fällt schwer.
1 Amor omnibus idem (Liebe ist für jederman gleich), nach Vergil.
2 Voltaire zitiert mit dem Grafen von Rochester (1647 – 1680) eine sehr von klerikalen Kreisen angefeindete Persönlichkeit des 17. Jahrhunderts, über den er auch in den Philosophischen Briefen, 21. Brief. berichtet. John Wilmot, Graf von Rochester, war ein hochtalentierter Poet, Autor zahlreicher erotischer Gedichte und einflussreicher Vertrauter von Charles II., König von England. Er starb wahrscheinlich an der Syphilis. Seine Biographie ist Gegenstand eines sehr sehenswerten Films von J. Malkovitch (The Libertine, auch als DVD erhältlich), der bis heute (2007) auf eine deutsche Umsetzung wartet. Das Zitat Voltaires geht auf das Gedicht: „A letter from Artemesia in the town to Chloe in the country“ zurück und lautet im Original (nach: Ealasaid’s Web Empire) :
Love, the most generous passion of the mind,
The softest refuge innocence can find,
The safe director of unguided youth,
Fraught with kind wishes, and secured by truth;
That cordial drop heaven in our cup has thrown
To make the nauseous draught of life go down;
On which one only blessing; God might raise
In lands of atheists, subsidies of praise,
For none did e’er so dull and stupid prove
But felt a god, and blessed his power in love –
This only joy for which poor we were made
Is grown, like play, to be an arrant trade
3 die zitierten Verse: Lukrez‘ gehen der Frage nach, warum auch hässliche Frauen geliebt werden:
„Und es geschieht nicht durch göttliche Kraft und die Pfeile der Venus
dass bisweilen geliebt wird ein Frauchen von minderer Schönheit,“
(sondern eben durch ihre fügsame, willige Art usw. s.o.)
4 die Syphilis. Syphilis bildet am ganzen Körper pestähnliche Geschwüre und hinterlässt schwere Narben. Der Erreger wurde wahrscheinlich von den Kolonisatoren Amerikas Ende des 15. Jahrhunderts nach Europa eingeschleppt und breitete sich seuchenartig aus.
5 Voltaires Aufzählung nennt historische Beispiele ausschweifenden Lebenswandels:
Phryne, berühmte griechische Prostituierte, aus Thespiä gebürtig, hieß eigentlich Mnesarete und erhielt den Namen Phryne („Kröte“) wegen ihrer Blässe; sie war erst eine arme Kapernhändlerin, gelangte dann aber in Athen, wo sie ihre Reize feilbot, zu außerordentlichem Reichtum, so dass sie sich erbieten konnte, die Mauern Thebens auf eigne Kosten wieder aufzubauen, wenn die Thebaner die Inschrift darauf setzten: „Alexander hat sie zerstört, die Hetäre P. wieder aufgebaut. Ihrem Reiz konnte angeblich niemand widerstehen. Als Phryne wegen Gottlosigkeit vor Gericht gezogen wurde, enthüllte ihr Verteidiger Hypereides ihren schönen Busen und das beeindruckte die Richter dermaßen, daß sie nicht anders konnten, als Phryne freizusprechen.
Lais, Name zweier wegen ihrer Schönheit bewunderter griechischer Hetären, von denen die ältere, aus Korinth, zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs lebte und die Vornehmsten und Reichsten des Staats, sogar Philosophen, wie Aristippos und den Cyniker Diogenes, bezaubert haben soll. Die jüngere L., Tochter der Timandra, der treuen Gefährtin des Alkibiades, geboren zu Hykkara in Sizilien, kam in einem Alter von sieben Iahren nach Korinth, der Sage. nach als Kriegsgefangene. Der Maler Apelles soll sie zur Hetäre herangebildet haben. Später folgte sie einem Hippostratos nach Thessalien, wo sie von Frauen im Heiligtum der Aphrodite gesteinigt worden sein soll. Christoph M. Wieland hat ihnen mit seinem Briefroman ‚Aristipp‘ ein bezauberndes Denkmal geschaffen.
Flora, römische Göttin der Blumen, der Pflanzenblüte und blühenden Natur und der Jugend sowie Frühlingsgöttin. Flora zu Ehren wurden seit 173 v. unserer Zeit jährlich am 27. April (bzw. vom 28. April bis zum 1. Mai, nach GRIMM (1992), II, S. 651f. die ludi Florales oder Florealia gefeiert, ein fröhliches Fest mit Mimen und lasziven Spielen, Gesängen und Tanz, bei dem man aus Blumen geflochtene Kränze trug. Hierbei spielten auch Prostituierte eine Rolle, die sich am Ende der Darbietungen entkleideten.
Messalina ( 25 – 48) heiratete im Alter von 15 Jahren Claudius, der damals bereits 50 Jahre zählte und war eine der begehrtesten Frauen ihrer Zeit. Als sie nach Claudius Krönung im Jahre 41 Kaiserin geworden war, stand der Erfüllung all ihrer zahlreich vorhandenen Begierden nichts mehr im Wege. Und sie strebte danach, nicht eine unbefriedigt zu lassen…. (Lit Tacitus TACITE, Annalen, XI, 12, 26-27, 31-32, 37-38 Erich Heller, hrsg. P.C.Tacitus, Annalen, (Sammlung Tusculum), WBG Darmstadt 1982). Mehr zu Messalina in dem hier geretteten Text (2014) einer Schüler-AG zur Antike des Victoria-Louise Gymnasiums in Hameln (www.info-regenten.de).
6 Francois 1. (1494 – 1547), bedeutender, lebenslustiger König von Frankreich, baute ein geeintes Frankreich mit Französisch als offizieller Sprache auf. Er unternahm zur Vergrößerung Frankreichs zahlreiche Feldzüge gegen Italien. Francois I. starb am 31.März 1547 an der Syphilis, die er sich wahrscheinlich auf einem seiner italienischen Feldzüge zugezogen hatte.