Hintergrund:
Der Artikel Abraham geht auf eine Skizze zurück, die Voltaire schon 1752 in Berlin anfertigte. Seine Hauptquellen sind Pierre Bayle bzw. Dom Calmet. Beide veröffentlichten in ihren Wörterbüchern jeweils einen Artikel ‚Abraham‘, die Voltaire sehr gut kannte. In der späteren Ausgabe seines Philosophischen Wörterbuchs von 1767 hatte der Artikel fast die doppelte Länge. Voltaire baute insbesondere die Überlegungen zur Herkunft Abrahams und zur Beziehung der jüdischen Religion zu ihren Konkurrenzreligionen deutlich aus.
Noch heute sind sich die Archäologen über die Abstammung der Juden nicht einig. I.Finkelstein/N.Silberman (Keine Posaunen vor Jericho, München: Beck 2002) meinen, „Die meisten Israeliten kamen nicht von außen nach Kanaan“ (S.135). Die Erzählung von Abraham, seiner Reise und seiner Herkunft diente den Priestern, um zu zeigen, „dass die Ursprünge des Volkes Israel mitten im Herzen der zivilisierten Welt lagen“ (S.334). Demnach hat Voltaire Recht, wenn er bezweifelt, dass Abraham eine hochkultivierte, fruchtbare Region aufgab, um sich im kargen Land Kanaan in Sichem anzusiedeln. Es verhielt sich umgekehrt: die Menschen in Kanaan schufen sich mit der Abrahamerzählung eine ehrwürdige, kulturell bedeutende Herkunft.
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):
Anmerkung 1 (Seite 15 (1.Satz), „Wie Thot bei den Ägyptern…“.): Voltaire grenzt sich von den Verteidigern des Christentums ab, die behaupten, die anderen Religionen hätten das meiste von den Juden übernommen. Für ihn haben alle mit gleichem Recht ihren eigenen Gründervater, eher jedoch haben die Juden das meiste von den anderen übernommen. Das erläutert Voltaire in seinen Zusätzen von 1767 noch ausführlicher.
Anmerkung 2 (S. 16 unten, „Warum verließ er [Abraham] die fruchtbaren Ufer des Euphrat.. für eine so steinige Gegend wie die von Sichem?“):
Sichem oder Shechem ist ein Ort am Ostrand der heutigen palästinensischen Stadt Nablus. Voltaire schließt aus der bereits im 18. Jahrhundert steinigen, kargen Beschaffenheit des Landstrichs um Sichem, dass es zu Abrahams Zeit, evtl. 4000 Jahre zuvor, dort ebenso karg aussah. Diesen Schluss hielt etwa der Benediktinermönch Chaudon in seinem Dictionnaire anti-philosophique, Pour servir de Commentaire et de Correctif au Dictionnaire Philosophique et aux autres Livres, qui ont paru de nos jours contre le Christianisme, Avignon, 1767 nicht für zulässig. Nach seiner Meinung hätte Sichem früher, zur Zeit Abrahams, ja durchaus eine blühende Landschaft sein können.
Laut archäologischen Funden in neuerer Zeit war die Region um Sichem Nomadenland, wohl für Schafe und Ziegen geeignet und während dreier Perioden dünn besiedelt: 3500 – 2200 v.u.Z. , 2000-1550 v.u.Z. (nomadische Herdenschutzdörfer), 1150 – 900 v.u.Z. (Finkelstein, S.130). Die Abrahamerzählung könnte in der ersten oder zweiten Siedlungsperiode spielen. Erst in der dritten Periode breitete sich die Besiedlung aus, die Bevölkerung wuchs, Weinanbau und andere landwirtschaftliche Aktivitäten lassen sich nachweisen.