Tragödie in 5 Aufzügen
Erstaufführung Paris, 8. Juni 1740. Zulime, von Voltaire zur gleichen Zeit wie Mahomet verfasst, handelt vom Schicksal des spanischen Königssohns Ramiro und der ihm noch in Kindeszeiten angetrauten Alide, die beide in die Gefangenschaft des mohammedanischen Königs Benassar geraten sind. Das Schicksal will es so, dass sich Zulime, die Tochter des Herrschers Benassar unsterblich in Ramiro verliebt und ihm zur Flucht in eine unter ihrem Befehl stehende Festung verhilft, von wo aus die beiden nach Spanien fliehen könnten. Unglücklicherweise erkennt Zulime nicht, dass Ramiro sie nach christlichem Gesetz nicht zur Frau nehmen kann, sie folgt blindlings ihrer Liebe und will an seiner Seite fliehen, wodurch sie sich natürlich den Zorn ihres Vaters Benassar zuzieht, der ihr Verhalten als Verrat empfindet. Im Verlauf der Tragödie, die seit 1770 nicht mehr in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, kommt es zu zahlreichen bewegenden Auf und Abs, an deren Ende aber eine Lage entsteht, die keinen der Protagonisten glücklich – und auch die Zuschauer nicht zufrieden machen kann. Zulime besitzt im Vergleich mit Zaire, die einen ähnlichen Stoff behandelt, den Vorzug, dass es Voltaire hier gelingt, mehrere Themen, die ihn auch an vielen anderen Stellen beschäftigen, sehr komprimiert (‚verdichtet’) und mit erstaunlichem psychologischen Feingefühl darzustellen.
Die innere Stimme und die der verinnerlichten Autorität
Voltaire behandelt in Zulime:
- die Frage, ob man ohne Rücksicht auf Konventionen der Stimme des eigenen Gefühls folgen sollte und ob dies überhaupt möglich ist,
- den Konflikt zwischen der nachfolgenden Generation mit der elterlichen Autorität, gegen die man sich nur sehr schwer durchsetzen kann, zumal es auch hier eine sehr vernehmliche Stimme des Gefühls gibt (die Liebe Zulimes zu ihrem Vater Benassar und das Pflichtgefühl Ramiros, die Nachfolge seines Vaters in Spanien anzutreten)
- das Unglück, das die Gesetze und Vorschriften der Religion – sie erweisen sich ganz allgemein als hinderlich – über die an sie gebundenen Menschen bringen, hier, indem das Zusammenleben der drei miteinander verbundenen ‚Kinder’ (also Ramiro, Alide und Zulime), obwohl es ihre Gefühle zulassen würden, im allerchristlichsten Spanien so vollkommen undenkbar ist, dass nur der eigene Tod als Alternative erscheint.
Als Voltaire Zulime schrieb, lebte er mit Emilie du Chatelet, sie war eine verheiratete Frau, im Schloss ihrer Familie zusammen. Er hat das Schloß sogar auf eigene Kosten aufwendig renovieren und ausbauen lassen. Das Thema der ‚Ehe zu dritt’ lag ihm also durchaus nahe. Auch hatte er sich aus der väterlichen Herrschaft befreit: gegen dessen Willen war Voltaire Schriftsteller – und erfolgreich – geworden. Aus Voltaires eigener Lebensgeschichte heraus kann es zu diesem Zeitpunkt also keinen anderen Rat geben als diesen: „Folge Deiner inneren Stimme immer und zu jeder Zeit, folge nicht überkommenen Konventionen, unterwerfe dich nicht väterlicher Autorität und gehorche nicht den Geboten der Religion!“.
Erst vor diesem Hintergrund kann man Zulime verstehen. Zunächst die Person des Mohammedaners Banassar – zu jeder Zeit besänftigt die Liebe zu seiner Tochter Zulime seine Wut und seinen Hass als betrogener Herrscher. Auch Zulime folgt ihrer inneren Stimme, der Liebe zu Ramiro sehr zielstrebig: sie organisiert dessen Flucht und die Verteidigung gegen die Soldaten ihres Vaters. Sie drängt ihr schlechtes Gewissen, eine undankbare Tochter zu sein, sehr entschieden zurück und nimmt sogar ihre ‚Nebenbuhlerin’ mit ins Boot, ohne die Ramiro auch nicht fliehen würde. Wie steht es aber um Ramiro, den Zulime so sehr liebt und woran scheitert am Ende die Flucht Ramiros und Alides?
Woran die Flucht scheitert
Eine erste Lösung, die darin bestehen könnte, dass Ramiro Benassar tötet und flieht, scheitert an den Gefühlen, die er Benassar entgegenbringt (Dankbarkeit, Sohnesgefühle) und an seiner Unfähigkeit zum Verrat. Voltaire stellt in der Person Ramiros den Idealtypus eines edlen Ritters ohne Furcht und Tadel vor, der dem Verlust der Ehre den eigenen Tod vorzieht. Das Scheitern liegt aber am ehesten am Zögern Ramiros. Ihm ist klar, dass die Flucht nur gelingen kann, wenn Zulime an eine Zukunft als seine Ehefrau glaubt – was aber im christlichen Spanien undenkbar ist. Zulimes Hoffnung, ihre Liebe auszunutzen, bringt er nicht übers Herz. In einer letzten Anstrengung versucht er noch, alles in Einklang zu bringen und Benassar die Gewalt über Zulime zurückzugeben, um als Gegenpfand dessen Zustimmung zur Abreise einzuhandeln. Dieses Vorhaben kommt für Voltaire aber ebenfalls nicht in Frage, denn sie würde Zulimes Unglück bedeuten. Auch eine dritte und sehr einfache Lösung, die Voltaire vorstellt, kann nicht gelingen: Ramiro lehnt es ab, als Nachfolger Benassars Zulime zur Frau zu nehmen und Herrscher im mohammedanischen Reich zu werden, er führt seine Ehe mit Alide als Hinderungsgrund an, in Wahrheit geht es darum, dass er dafür die Religion wechseln und seinem Vaterland den Rücken kehren müsste, was er ablehnt (ein ‚Opfer’, das Zulime anders herum durchaus bereit war zu bringen). Und genau an dieser Einstellung, das ist die Antwort auf oben gestellte Frage, scheitert die Flucht. Ramiros Bindung an die Pflicht, an die Religion, an das Elternhaus ist stärker als jede mitmenschliche Zuneigung und Liebe, sie weihen ihn – und Alide – dem Untergang und stürzen Zulime ins Unglück. Benassars abschließendes, an Zulime gerichtetes Menetekel: „Oh möchte dies schreckliche Beispiel dich lehren, dass der Himmel uns alle für deine ungeziemenden Flammen straft, und dass eine lasterhafte Liebe stets Unglück nach sich zieht“ wirkt wie eine Verhöhnung aus dem Blickwinkel des Herrschers und lässt die Zuschauer mit äußerstem Unwillen gegen ein solches Schicksal zurück.