Philosophisches Taschenwörterbuch: Convulsions – Zuckungen (Kommentare)

Zu dem Thema der Zuckenden/Convulsionisten gibt es auf Französisch einen ausführlichen Wikipedia-Artikel, der diese Bewegung religiösen Wahns und ihre Protagonisten lang und breit vorstellt; jedoch, wie leider oft bei solchen Artikeln zu religiösen Themen, ohne wirklich Licht ins Dunkel zu bringen.

In Voltaires Artikel geht es nur vordergründig um die Zuckenden, die Convulsionistes, eine jansenistische Wunderheiler-Bewegung ähnlich der Wallfahrtsbewegung nach Lourdes, oder der Wundersage vom Heiligen Rock von Trier, die sich bis zum heutigen Tage immer wieder erneuern. Im Wesentlichen geht es bei Voltaire aber um den Konflikt zwischen den beiden innerkatholischen Fraktionen der Jansenisten und der Jesuiten, beide Gegner der Aufklärer. Es würde hier zu weit führen, diesen Konflikt auszuleuchten, der es wohl wert wäre, einmal wissenschaftlich aufgearbeitet zu werden. Es wird im Folgenden nur möglich sein, einige kurze Hinweise zu den wichtigsten Konfliktlinien zu geben.
Voltaire schildert den scheinbaren Glaubensstreit belustigt, ist sich aber sehr bewusst, dass sich die Fraktionen im Kampf gegen die Aufklärung jederzeit verbünden können.

Hintergrund:
A
. Zum Jansenismus-Jesuitenstreit um 1700
Voltaire hatte in seiner Familie mit dem Jansenismus direkt zu tun: Sein Vater und mehr noch sein Bruder Armand waren dessen überzeugte Anhänger und Armand diente sogar als Zeuge für das Wunder bei Marie Sonnet, die sich dem Feuer aussetzte, ohne Verbrennungen zu erleiden. Voltaire setzte sich auch mit Blaise Pascal, dem bedeutenden Philosophen des Jansenismus, der die Prädestination, die Gnadenlehre und die menschliche Verworfenheit lehrte, philosophisch auseinander. Der Jansenismus (einen kurzen Abriss zu seiner Geschichte gibt Ulrich Rudnick), da kirchenkritisch und subjektbezogen und um die gleiche Anhängerschaft werbend, war eine gefährliche Konkurrenz zur Aufklärung, die, wäre sie erfolgreich gewesen, mit dem ihr eigenen Fanatismus das Licht der Aufklärung ausgeschaltet hätte.

In dieser Bewegung steckte auch das Potential, so etwas wie das französische Pendant der anglikanischen Kirche zu werden, daher erreichten sie ihr Ziel, innerhalb der katholischen Kirche anerkannt zu werden, zu keiner Zeit. So verlegten sich die Jansenisten mehr und mehr auf die Beeinflussung des Volkes. Und weil das Volk für Wundergeschichten empfänglich war, bekam es Wunder: die Convulsionisten-Heilungen auf dem Pariser Friedhof von St. Médard, eine Bewegung, die seit ihren Anfängen im Jahr 1727 trotz einem königlichen Verbot 1733 immerhin 30 Jahre andauerte.

Die Agitation im Volk erwies sich allerdings als zwiespältig – war der Jansenismus zunächst die Ideologie der Nobles de Robe, also des absolutistischen Amtsadels und seiner großbürgerlichen Anhänger, verlor er mit der Vernichtung der Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts seine wichtigste politische Funktion (nämlich das Bürgertum der katholischen Kirche und der absolutistischen Zentrale zu verpflichten) und war für die absolutistische Macht nicht mehr notwendig. Sie bekämpfte und unterdrückte den Jansenismus zunächst mit Hilfe der Jesuiten, um anschließend diese selbst verbieten zu lassen. Die nach dem Tode Ludwig XIV (1715) wieder bedrohte Zentralmacht spielte ihre Widersacher geschickt gegeneinander aus, bis sie schließlich alle in die Schranken verwiesen hatte.


B. Quellen
– Barbier, Edmond-Jean-Francois, Chronique de la régence et du règne de Louis XV (1718-1783), Paris, 1857-1885 Barbier in seinem Journal der Jahre 1732 ff berichtet als Zeitgenosse von den Convulsionisten, die nach dem Verbot trotzdem in Privatwohnungen weiter zuckten.
– Garinet, Jules, Histoire des convulsionnaires du dix-huitième siècle, et des miracles du diacre Pâris, Paris 1821 in: Dictionnaire Critique Des Reliques Et Des Images Miraculeuses de M. Collin de Plancy, S. 373-389. Der Autor kann sich nicht entscheiden: Wunder sind es zwar nicht, aber erstaunliche Vorkommnisse, die er nicht erklären kann, schon...
-Borel, Adrien, Les convulsionnaires du cimetière de la Saint-Médard et le diacre Pâris. 1935 (online Resource). Borel ist Psychiater und erzählt/interpretiert die Geschichte der Convulsionisten aus dieser Sicht als neurotische/hypnotische Zustände.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 S.174:  Da Pâris erst 1727 starb, dürften die Zuckenden/Convulsionisten erst in diesem Jahr in Erscheinung getreten sein.

Anmerkung 2 (S.175, Mitte: „seitdem ihr Xavier…neun Tote auf einmal auferweckte“):  Francois de Xavier (1506-1552), jesuitischer Missionar. Seine Wundertaten malte Rubens um 1620 für die Jesuitenkirche in Antwerpen.

Anmerkung 3 (S. 176: Soeur Rose, soeur Illuminé): Über ein Wunderheilungs-Séance in der Nachfolge der Convulsionisten aus dem Jahr 1759 berichtet als Augenzeuge ausführlich Charles Marie de La Condamine, in: Correspondance de Grimm, etc., Édition Maurice Tourneux; Paris, Garnier frères, 1878, tome iv, pages 379ff.

Anmerkung 4 (S.176: „Ein berühmter Theologe genoss den Vorzug gekreuzigt zu werden“):
Gemeint ist Abraham Chaumeix (1725-1773). Chaumeix denunzierte die Enzyklopädie gegenüber dem Pariser Gerichtshof in seiner Schrift Préjugés légitimes contre l’Encyclopédie 1758. Voltaire widmete ihm eines seiner gefürchteten Gedichte:  Le Pauvre Diable (1758).
In seiner Erwiderung gegen Chamonix zeigt ihn Diderot wie Jesus am Kreuz hängend (Mémoire pour Abraham Chaumeix contre les prétendus philosophes Diderot et d’Alembert. ; Amsterdam, 1759). Die Bemerkung ist also eine tagespolitische Spitze Voltaires und steht in keinem Zusammenhang mit den eigentlichen Convulsionisten.

Anmerkung 5 (S.176: Parlamentsrat Montgeron legte dem König einen Sammelband über alle Wunder von St. Médard vor): Louis-Basile de Mongeron (1686-1754)  war seit 1711 Parlamentsrat am höchsten Gerichtshof Frankreichs. Er hatte sein Buch ohne Erlaubnis der königlichen Zensur drucken lassen und wurde daher in die Bastille gesteckt, später in diversen Gefängnissen inhaftiert.

Anmerkung 6 (S.176 unten: gegen den Geist der Gesetze): Voltaire hatte Montesquieus Schrift verteidigt. Er äußert sich zu dem Konflikt in einem Abschnitt seiner Briefe über Rabelais an den Herzog von Braunschweig-Lüneburg.

Anmerkung 7 (S.177 oben: Die Samojeden): S. sind ein Volk in Sibirien. Vielleicht kannte Voltaire den Reisebericht von Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche, der 1761 – 1763 eine Forschungsreise nach Sibirien unternommen hatte und dieses Volk als zurückgeblieben darstellte.
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