Mit größter Selbstverständlichkeit verwehrten die in Südafrika herrschenden Buren zur Zeit der Apartheid den Bantus jegliche höhere Bildung. Bildung erzeuge bei diesen bloß Unzufriedenheit und müsse notwendigerweise zur Auflehnung führen, meinten sie. Für deren Arbeitsleben reiche ein wenig Rechnen und Lesen allemal aus.
Mishras Buch scheint geschrieben worden zu sein, um genau dieser Position das Wort zu reden: Wer viel verspricht und wenig einhält, erzeugt Unfrieden, also sollte man nichts versprechen. Früher wäre sein Buch aus der Feder eines Theologen geflossen, der die Anmaßung der Aufklärer gegeißelt hätte: wie können sie behaupten, der menschliche Geist, die Vernunft, sei in der Lage, einmal von den religiösen Fesseln befreit, ein besseres Leben für Alle, individuelle Freiheit inklusive, zu organisieren? Welch blasphemisches Versprechen!
Ein Spindoktor des 21. Jahrhunderts macht es nicht viel anders: er blickt auf die aus den Fugen gehende Welt und entdeckt, daß sie aus den Fugen gerät. Wie die Inquisitoren von damals ihre Ketzer, beschuldigt er die Aufklärer, allen voran Voltaire, den Menschen ihre Tradition genommen zu haben und damit an den verzweifelten Ausbrüchen Einzelner schuldig zu sein.
Voltaire ist schuld!
Insbesondere Voltaires Gedicht Le Mondain hat es Mishra angetan. In diesem Gedicht kritisiert Voltaire die mächtige Kirche, weil sie – besonders mit ihrer Paradiesvorstellung – die Hoffnung auf ein gutes Leben ins Jenseits verbannt. Er setzt das Recht auf ein gutes Leben im Hier und Jetzt dagegen und macht sich über die Beschreibungen des Garten Eden lustig, wie man sie in der Bibel findet und wo man sicherlich ohne Seife auskommen mußte („Ohne Sauberkeit ist die glücklichste Liebe keine Liebe mehr, sondern ein schändliches Bedürfnis“). Ja, er verteidigt auch den Luxus als jenen Teil des Erdendaseins, der uns über den Arbeitsalltag hinaushebt. Zum Luxus gehören nicht nur das leckere Essen, die guten Weine, sondern auch die Künste, die das Dasein angenehm und lebenswert machen. Was Pankaj Mishra daraus macht und ganz besonders wie er das macht, ist Mentalvergiftung in Reinform. Wie jeder Talkmeister heute, wie schon Aristophanes gegen Sokrates, versucht auch Mishra seinem Gegner, Voltaire, zu unterstellen, daß er Überzeugungen nur vorschiebe, um in Wahrheit ganz egoistische und eigennützige Interessen zu verfolgen.
Er präsentiert Voltaire wie einen Vorläufer eines Gates, Quandt, oder Piechs unserer Tage und aus Voltaires Verteidigung des Luxus gegen Adel und Kirche macht er die Prahlerei eines Bonzen, der sich in seinem Wohlleben dem Rest der Mannschaft gegenüber sonnt und dem Prestigekonsum huldigt.
Daß Voltaire wegen Le Mondain verfolgt wurde und sich vor einer drohenden Verhaftung durch die Flucht nach Holland retten mußte, bis er dank seiner guten Beziehungen den Haftbefehl abwenden konnte, jedoch weiter im Exil im einsamen Cirey leben mußte, erwähnt Mishra nicht. Wenn von den Unterdrückungsverhältnissen dieser Zeit (immerhin wurden damals noch Menschen wegen Gotteslästerung verbrannt!) bei Mishra einmal die Rede ist, verdeckt er Unrecht mit Psychologie: nicht, daß die ‚gemeinen Bürger’ wirklichals Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, obwohl sie in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst die Leistungsträger waren, erscheint ihm problematisch, sondern, daß ihr Selbstwertgefühl in der alten Ordnung nicht zur Geltung kam. Nach diesem Argumentationsmuster wäre an der Sklaverei nicht die wirkliche Unterdrückung und Quälerei das Schlechte gewesen, sondern nur, daß die Menschenrechte der Sklaven verletzt wurden.
In Voltaires Zeit war es der Adel, der in Luxus schwelgte, Arbeit war für jeden richtigen Blaublütigen ein absolutes Unding, sich die Finger schmutzig machen gehörte sich für sie ebenso wenig, wie Luxus, Paläste, Diener nicht in die Hände anderer Erdlinge gehörten. Voltaire wollte eine Gesellschaft, in der Kaufleute (von Mishra ganz im Adelssprech als ‚Kommerz’ tituliert), Beamte, Erfinder, Manufakturbetreiber, die mittlerweile zu beachtlichem Wohlstand gekommen waren und ja, auch Künstler, den ihnen zustehenden Teil am produzierten Reichtum bekommen und daß sie ihn, ohne sich zu verstecken, genießen dürfen. Dies ist eine Forderung, die direkt zur französischen Revolution geführt hat, mit der die Adelsherrschaft beseitigt wurde.
Daß Voltaire in seinem Exil, der Grafschaft Ferney, den Uhrmachern aus Genf einen Zufluchtsort bot und ihnen mit seinem Namen, seinem Ruf half, ihre Luxus-Uhren weltweit zu verkaufen, um sie unabhängig, selbständig zu machen und dabei ganz nebenbei Ferney statt Sumpf und Mücken Wohlstand (Luxus!) brachte, erfahren wir bei Mishra so (S.103): „sein Vermögen war entstanden durch Honorare für seine Werke, Königliche Patronage, Immobilien, Finanzspekulationen, Lotteriespiel, Kredite an Fürsten und die Herstellung von Uhren (Er griff auch zu unehrenhaften Methoden…)“. Wir sehen Mishra, wie er selbst eine subtile, hinterlistige, vor allem extrem unehrenhafte Methode anwendet, die einem Spindoktor des 21. Jahrhunderts alle Ehre macht.
In diesem brackigen Fahrwasser (Bonze Voltaire) unterwegs, behauptet er dreist und frech (S.101), die Aufklärer (klar, daß er eloquent Wohlinformiertheit heuchelnd philosophesschreibt) hätten der Illusion angehangen, in der besten aller möglichen Welten zu leben. Wer Voltaire nicht kennt, wird nicht wissen, daß genau das Gegenteil der Fall war und daß Voltaire einen ganzen Roman, nämlich Candide, schrieb, um genau gegen diese Illusion anzugehen.
Das Bürgertum, für das Voltaire ja steht, wird als superreiche, an Selbstüberschätzung leidende Clique vorgestellt, die Eigeninteressen verfolgte und egoistisch nur Anerkennung und größere Entfaltungsmöglichkeiten für sich selbst forderte.
Das ist nicht ganz falsch und doch wieder unendlich verlogen, weil es das Wesentliche unsichtbar macht: das selbstbewußte französische Bürgertum der Vorrevolution stand gegen die herrschende Klasse des Adels. Und weil in diesem Kampf alle Nichtadligen, also fast die gesamte Nation, zusammenstanden, formulierten sie ihre Forderungen als universale Menschheitsziele. Die einfachen Leute von Paris begriffen sehr wohl, wer ihre Gegner waren, denn sie wußten, daß bei diesem Kampf auch für sie ein besseres, ein gutes Leben zu gewinnen war. Mit den Forderungen nach dem größtmöglichen Glück für die größte mögliche Zahl (Mishra: „simpler Slogan des größtmöglichen Glücks“ S.272) kam zum ersten Mal die Hoffnung auf ein Leben in Wohlstand für Alle, eine vernünftig organisierte Gesellschaft auf die Tagesordnung der Weltgeschichte.
Gedanken darüber, warum die Ziele der bürgerlichen Aufklärung und ihrer Revolution nicht eingelöst wurden, sucht man bei Mishra vergebens. Stattdessen versucht er durch viel Gerede zu verwirren und klare Gedanken über gesellschaftliche Zusammenhänge zu zerstreuen. Die wirklichen Täter macht er unsichtbar, er beläßt sie in einem dichten Nebel, in dem er dann herumstochert, um Attentäter, Fanatiker und Anarchisten aller Couleur herauszufischen, die er als Haupttäter präsentiert, um an ihnen sein immergleiches Mantra zu zelebrieren: Hätte nicht die Aufklärung individuelle Freiheit versprochen, die Tradition unterminiert, wären einem diese Leute und ihre Attentate erspart geblieben.
Daß mit dem Kapitalismus eine Gesellschaftsordnung entstand, in der extrem Wenige sich fast den gesamten Reichtum aneigneten, daß das Versprechen individuellen Glücks sich auf das unvorstellbare Luxusleben weniger pervertierte und eine schmale Herrscherclique so ziemlich jede Schandtat beging, um sich an der Macht zu halten, präsentiert er simpel als Betrug der Aufklärung. Sie habe die Tradition, den Glauben zerstört und durch einen Glauben an das Individuum ersetzt, der nicht umgesetzt wurde. Daraus gingen Terroristen hervor, die, entwurzelt und enttäuscht, den Individualismus auf Spitze treiben und ein sinnloses Gemetzel veranstalten.
Wie er die Täter unsichtbar macht, so verzerrt er auch deren Gegner und beschmutzt ihre Motive, indem er alle, Anarchisten, Islamisten, Kommunisten, Nihilisten, Surrealisten, Futuristen, Faschisten in denselben Topf wirft und jegliche Gegenwehr zu einem bloß psychologischen Reflex (‚mimetische Aneignung“) auf die westlichen Werte erklärt. Das aber sind: Vernunft, individuelle Autonomie und Meinungsfreiheit, die Werte der Aufklärung. Durch den Eigennutz der Aufklärer, allen voran Voltaire, seien diese verraten worden.
Im vorletzten Kapitel wird das am Beispiel des US-amerikanischen Attentäters McVeigh, ein Veteran des Irak Krieges, noch einmal exemplarisch vorexerziert: McVeigh, der 1995 in Oklahoma City immerhin 168 Menschen in den Tod bombte, wollte mit dieser Tat ein Fanal gegen die US-Regierung setzen, weil sie seine individuelle Freiheit beschränke. Mishra stellt ihn in eine Reihe mit Osama Bin Laden, Proudhon, den Kommunarden der Pariser Commune von 1870/1 und Jean Paul Marat. Sie alle würden „für das höchste Stadium der Radikalisierung des modernen Prinzips individueller Autonomie und Gleichheit stehen: eine unermüdliche Selbstbehauptung, die keine Grenzen akzeptiert und den Abstieg in den moralischen Abgrund verlangt“ (326). In der Tat macht Marat darauf aufmerksam, daß eine Gesellschaft, die ihre Verantwortung gegenüber ihren Mitgliedern nicht erfüllt, auch keinen Anspruch auf deren Loyalität erheben kann. In dieser Aufkündigung einer gemeinsamen Moral bei Marat sieht Mishra aber nichts als einen „Abstieg in den moralischen Abgrund“. Verantwortung trägt bei ihm nicht die winzig kleine Schicht, die fast in allen Ländern der Welt den Staat als ihr persönliches Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument benutzt und mißbraucht. Sie trägt bei ihm keine Verantwortung dafür, daß ihre entrechteten, überwachten und jeglicher demokratischen Selbstbestimmung und organisierten Gegenwehr beraubten Bürger austicken. Sie kommt nicht einmal vor in seinem famosen Geschichtsbuch. Die aktuelle Krise resultiert für ihn weitgehend aus der gescheiterten Universalisierung der Figur des autonomen und eigennützigen Individuums. „Der Macht“, konstatiert Mishra mit seinem Gewährsmann Rousseau, „fehlt es an theologischer Gründung und transzendenter Autorität“ (360). Wie man sieht: Voltaire ist schuld!
Kein Wunder, daß Mishra dem Leser zum Schluß den präsentiert, auf dem offenbar seine ganzen Hoffnungen ruhen: „Der überzeugendste und einflußreichste öffentliche Intellektuelle unserer Zeit – Papst Franziskus – ist kein Verfechter der Vernunft und des Fortschritts“. Wer hätte das gedacht?
Rainer Neuhaus 2017