Unter dem etwas altertümelnden Titel veröffentlicht der Herausgeber und Übersetzer die fünf Katechismen Voltaires, beginnend mit dem Katechismus des Gärtners. In einer ersten Anmerkung meint Roth in dem Gärtner Karpos den Greis aus Candide zu erkennen. Außer dass beide mit Obst handeln, haben wir eine weitere Gemeinsamkeit nicht entdecken können. Dass es in diesem Katechismus aber um das universell gültige Prinzip der Gerechtigkeit, die Relativität der Macht, vor allem aber um die Würde des einzelnen Menschen, des Individuums, geht, erwähnt der Herausgeber nicht, auch nicht in seinem Nachwort. Stattdessen, meint Roth, gehe es in den Katechismen um „Dinge, die nicht verhandelbar sind“. Welche Dinge wären dies? Roth nennt die Toleranz, die Glaubensfreiheit und sonderbarerweise auch die Unwissenheit. Hier stoßen wir auf das Verwaschene, Undeutliche, das leider auch in der Übersetzung selbst immer wieder vorkommt.
Zum Beispiel übersetzt Roth am Ende des zweiten Gesprächs im chinesischen Katechismus das französische „Cu Su: Alors il faudra vous étouffer“ mit „Nun, dann müsste man Euch unterbinden“ Zwar kann man das „étouffer“ nicht nur mit „ersticken“, sondern auch mit „unterdrücken“ übersetzen – wenn Roth aber mit seinem „unterbinden“ sagen wollte, dass man Ku „zum Schweigen bringen müsste“, hätte er das ja so sagen können. Ein weiteres Beispiel: Am Ende desselben zweiten Dialogs äußert Kou Zweifel an der Existenz eines Lebens nach dem Tod und will von Cu Su wissen, wie er sich dazu stellt. Roth übersetzt das „Je vous en défie“ Cu Sus mit „Dann biete ich euch die Stirn“, was ja wohl im Deutschen eine energische Entgegnung bedeutet. Anders, wenn, wie üblich, „defier qn.“ mit „jemanden herausfordern“ übersetzt wird, dann kommt die Antwort Cu Sus sinngemäß einer Aufforderung zu einer ausführlichen Begründung seiner Meinung gleich. Und daher fängt auch das Dritte Gespräch folgendermaßen an: „Kou: Vous me pousser“, was man im Deutschen mit „in die Enge treiben“ übersetzen würde. Da jedoch Roth mit dem Stirnbieten endet, muss er das Gespräch auch entsprechend eröffnen: „Ihr fordert mich heraus, Cu Su“. Nun wäre diese eigenwillige Übersetzung nicht weiter schlimm, wenn sie nicht davon ablenken würde, dass es sich bei der Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, um ein ernsthaftes religiöses Thema handelt, das Voltaire mit Argumenten und nicht mit Druck oder Streit behandelt wissen will. Kou antwortet Cu Su daher auch mit einem ausführlichen, argumentierenden Beitrag, dem Höhepunkt des Dialogs, in dem er einer atheistischen Position sehr nahekommt und am Ende bezweifelt, dass es eine Seele gibt, die weiterleben kann.
Unsere Hauptkritik gilt jedoch dem Nachwort Roths, insbesondere, dass er einen Punkt, der jedem Leser sofort auffallen müsste, vollkommen übersieht, nämlich wie wichtig es Voltaire immer wieder ist, zu zeigen, dass ein Einzelner der Macht die Stirn bieten kann, wenn er Kenntnisse und Grundsätze besitzt. Und nicht das Beharren auf die skeptizistische Unwissenheit ist dabei entscheidend, sondern das Wissen, das man sich durch Beobachtung und Logik angeeignet hat. So wie es am Ende des „unwissenden Philosophen“ heißt:
„Doch das Ungeheuer lebt noch: wer nach der Wahrheit forscht, läuft Gefahr, verfolgt zu werden. … Ich für meinen Teil glaube, dass sich die Wahrheit hinter diesen Ungeheuern nicht verstecken darf, genauso wenig, wie man sich der Nahrung enthalten darf aus Angst, vergiftet zu werden“.
Weil Roth die Bedeutung des autonomen Subjekts bei Voltaire offenbar nicht versteht, oder nicht verstehen will, kommt er zu Sätzen wie diesem: „Der Begriff der honnêté taucht in den Katechismen immer wieder auf und kann entsprechend kaum auf einen Nenner gebracht werden“, weshalb er den Titel des „Catéchisme de l’honnête homme“ auch mit „Katechismus des weltläufigen Mannes“ übersetzt.
Doch, er kann auf einen Nenner gebracht werden: Ein Mensch mit Würde, ein ehrenhafter Mensch, lässt seine Überzeugungen und Grundsätze nicht fallen, nur weil die Gegenseite mächtiger ist. Er hat einen unverhandelbaren Bestand an einigem Wissen und eine klare Überzeugung davon, dass er individuelle Rechte besitzt.
Und ein ehrenhafter Mensch ist durchaus auch der Überzeugung, dass die Welt für ihn da ist, das er ein Recht auf ein gutes Leben hat, eine Haltung, die Roth als „narzisstisches Phantasma“ denunzieren zu müssen meint, denn sie, so Roth, „erschwert die Arbeit des Umweltschutzes extrem“ (S. 137).
Was für ein „Argument“!