Schon im Titel dieses Kapitels zeigt sich, dass Reinhardt – wie so viele seiner Zunft -meint, dass Friedrich II., genannt der Große, vor allem durch seine zahlreichen Kriege charakterisiert werden könnte. Kriege haben allerdings viele Könige geführt, auch das Habsburgerreich kam zu seiner Größe nicht nur durch Heiraten. Wenige haben Schriftsteller und Philosophen an ihren Hof gerufen, um sie vor lebensbedrohlicher Verfolgung zu schützen (von Reinhardt ins Negative gedreht: „..die durch Gehaltszahlungen von Friedrich abhängig waren“(315), oder „von der Gunst des Königs abhängig“(316)). Wenige haben die Folter abgeschafft, wenige die Kirchen in ihre Schranken verwiesen. Dass es am preußischen Hof zuging, wie an allen Höfen – auch dies ist keine Besonderheit Friedrichs.
Nach dem tragischen Tod seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet schrieb Voltaire an seine Geliebte Marie Louise Denis, die auch seine Nichte war:“..ich bin das Opfer der Freundschaft gewesen..“, um ihr, die er begehrte, anzuzeigen, dass sie von nun an zusammen leben könnten.
Reinhardt stellt Voltaire in seinem Kommentar zu dieser Äußerung wie einen Verräter an der Beziehung zur Verstorbenen hin. Das Gegenteil ist der Fall. Voltaire blieb Emilie auch dann, als ihre Freundschaft keine sexuelle Grundlage mehr hatte, eng verbunden und er hätte sie nie wegen seiner Nichte verlassen, das ist mit dem „Opfer der Freundschaft“ gemeint; ein Opfer also, das zu erbringen er jederzeit im Namen der Freundschaft bereit war, die er an anderer Stelle (Artikel Amitié im Philosophischen Taschenwörterbuch) als „stillschweigenden Vertrag zwischen für einander offenen und aufrichtigen Personen“ bezeichnet. Voltaire wusste sehr wohl, dass sich zu Marie Louise niemals auch nur annähernd eine Verbindung auf gleichem geistigen Niveau aufbauen lassen würde.
Wie schon im letzten Kapitel, wo er die Zeit in Cirey beschreibt, ohne Emilie du Châtelets Bedeutung für Voltaire zu verstehen, versteht Reinhardt hier die Bedeutung dieses „Opfers“ nicht, es klingt ihm „rätselhaft“. Sein Interpretationsversuch („Mit dem Opfer kann also nur die peinliche Rolle als abgehalfterter und gehörnter Liebhaber gemeint sein (305)“) zeigt, wie verwirrt Reinhardt selbst dem Phänomen dieser wirklich außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Voltaire und Emilie du Châtelet gegenübersteht, so dass er nur mit den allergewöhnlichsten Kategorien aufwarten kann.
Wie anders kommentiert Theodor Besterman dasselbe „Phänomen“: Voltaire tauschte „eine ehrenhafte, wenngleich strapaziöse Abhängigkeit gegen eine neue ein, in der er aber eine weit unerfreulichere [..] Rolle spielte“ (Bestermann. Voltaire, S.244).
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- Rezension 5.3 Kapitel Am Hof des Kriegerkönigs
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- Rezension 7 +8. Kapitel Der Patriarch von Ferney 1759-1766 und Voltaires Tod (8) am 30.5.177