Nach seiner Vorstellung der Karmaten als eine der ersten Gesellschaften, die ohne religiöse Bevormundung auskam (Die Karmaten, siehe die hier veröffentlichte Rezension), arbeitet der Historiker und Publizist Peter Priskil in seinem zweibändigen Werk in gewissermaßen archäologischer Feinarbeit heraus, welche Bedeutung der Humanismus und die in seinem Namen handelnden Personen für das Niederringen der christlichen Bevormundung in Europa und damit für die Aufklärung hatte. „Archäologische Feinarbeit“ ist das vor allem deshalb, weil die Suchgrabungen durch einen ungeheuren Wust von Schutt und Müll vorangetrieben werden müssen, der über die letzten Jahre leider nicht geringer wurde, sondern an Umfang und absichtlich gelegten falschen Fährten immer weiter zunahm.
Peter Priskil legt seine „Suchgrabungen“ so an, dass man als Leser auch ohne große Vorkenntnisse begreift, mit welch enormen Hindernissen die bürgerlichen Frühaufklärer, die Humanisten, zu ihrer Zeit konfrontiert waren und auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen versteht, die jene Risse und Lücken im ideologischen Panzer des Mittelalters bewirkten, durch die sich die Humanisten überhaupt Gehör verschaffen konnten. Erst vor diesem Hintergrund kann man nachvollziehen, wie mutig diese Vorkämpfer der Aufklärung waren und wie vorbildlich sie – gerade angesichts heutiger Dunkelmännerzeiten – für uns sein können, vorausgesetzt, wir lernen ihre Lebensumstände kennen. Darin aber besteht das Hauptverdienst der Zwölf Humanisten: Der Autor hat die Lebensumstände, nicht einfach nur Biographien, recherchiert, sie in verständlicher und darüber hinaus spannender Weise vorgestellt und, wie schon bei den Karmaten, in Beziehung zur Gegenwart gesetzt.
Betrachten wir die Verfahrensweise Priskils etwas genauer, indem wir die in einem Text Voltaires enthaltene Skizze von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535), genannt Agrippa, zum Ausgangspunkt nehmen, um anschließend das entsprechende Kapitel in Priskils Zwölf Humanisten vorzustellen.
In seinen Briefen über Rabelais (Lettres […] sur Rabelais, 1767) schreibt Voltaire über Agrippa: „Auch in Ihrem Deutschland sind viele große Herren und Philosophen der Irreligiosität bezichtigt worden. Euer berühmter Cornelius Agrippa wurde im sechzehnten Jahrhundert nicht nur als Hexenmeister, sondern auch als Ungläubiger angesehen. Das ist widersprüchlich: denn ein Hexenmeister glaubt an Gott, weil er es wagt, den Namen Gottes in alle seine Beschwörungen einzumischen; ein Hexenmeister glaubt an den Teufel, da er sich dem Teufel hingibt. Mit diesen beiden Verleumdungen belastet wie Apuleius, hatte Agrippa das große Glück, nur ins Gefängnis zu kommen und an keinem anderen Ort als im Krankenhaus zu sterben. Er war es, der als erster sagte, dass die verbotene Frucht, von der Adam und Eva gegessen hatten, der Genuss der Liebe war, der sie sich, noch bevor sie den Hochzeitssegen von Gott empfangen hatten, hingegeben hatten. Er war es auch, der, nachdem er die Wissenschaften gepflegt hatte, der erste war, der gegen sie schrieb. Er schimpfte über die Milch, die ihn ernährt hatte, weil er sie sehr schlecht verdaut hatte. Er starb 1535 im Krankenhaus von Grenoble.“
In diesem Passus kommt bereits die Widersprüchlichkeit zum Ausdruck, die Agrippas Schriften kennzeichnet, Voltaire erwähnt ihn positiv als Bibelkritiker und stellt – etwas verklausuliert zwar – dem Vorwurf, ein Hexenmeister zu sein, seine antichristliche Interpretation entgegen.
Priskil weist zunächst (1. Suchgrabung) darauf hin, was es für Agrippa bedeutet haben muss, zur Zeit seiner Kindheit dem voll entwickelten Hexenwahn ausgesetzt zu sein, der Frauen als Teufelsverbündete verdächtigte, verfolgte, folterte und schließlich verbrannte. Ganz ähnlich, wenn heutige Kinder während der Ausgangsverbote in der Coronazeit dazu angehalten wurden, in jedem Menschen, auch in sich selbst, eine potentielle Bedrohung und Ansteckungsquelle zu sehen.
Für Agrippa kam erschwerend hinzu, dass ein Fanatiker wie der Abt Trithemius sein Mentor wurde und seine geistige Entwicklung stark beeinflusste, so dass er sich in manchen seiner Schriften wie ein selbst vom Hexenwahn Befallener äußert.
Doch Agrippa beschäftigte sich auch mit Alchemie, der Kabbala und mit Magie und machte sie zu seinem Lebensinhalt. Zu diesem Thema unternimmt Priskil seine 2. Suchgrabung. Er folgt den alchimistischen Experimenten und Schriften Agrippas, vergleicht sie mit Paracelsus und zeigt, wie groß der Abstand zu diesem und erst recht zu dem zwei Generationen später geborenen Francis Bacon (1561-1625) ist. Mit diesen verglichen, war Agrippa noch sehr im Mittelalter verhaftet. Doch gerade seine Alchimie-Obsession, auch die Beschäftigung und Verteidigung der jüdischen Kabbala, diente ihm zugleich als Schutzschild gegen die Kirche, und setzte ihn dem Verdacht aus, selbst ein Hexenmeister („sorcier“ bei Voltaire) zu sein. Priskil kommt zu dem Schluss: „Die Magie ist der gequälte, gewundene Umweg um den Glaubenszwang…sie ist die Verweigerung des sacrificium intellectus – und dies rief natürlich eine erzürnte Kirche auf den Plan“ (S.324)
Eine irritierende Tatsache ist, dass Agrippa die Kabbala, die er doch selbst praktizierte, in einem seiner Werke als jüdische Frechheit gegen die Heilige Schrift verleumdet, er aber zeit seines Lebens Juden gegen ihre christlichen Verfolger in Schutz nahm. Dieser Widerspruch veranlasst Priskil zu seiner 3. Suchgrabung, die zu Agrippas Anstellung als Professor für Theologie in Dôle unter den Schutzschild von Margarethe von Österreich, der Tochter Maximilian I., führte. Nur im Schutze dieser bemerkenswerten Frau konnte er 1529 seine Schrift Declamatio de nobilitate et praecellentia foeminei sexus [dt.: Vom Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts] veröffentlichen, ohne diesen Schutz hätte ihr Inhalt, der den misogynen Finsterlingen der katholischen Kirche diametral entgegengesetzt war (Priskil spricht von einem „Anti-Hexenhammer“), unmittelbar zu seiner existenziellen Vernichtung geführt. Auf dieses Werk bezieht sich im Übrigen die Bemerkung Voltaires über Adam und Eva und die von ihnen verübte „wirkliche“ Sünde. Er hatte selbst erfahren müssen, dass er – 200 Jahre nach Agrippa – zur Flucht gezwungen wurde, nachdem er das Adam-und-Eva Thema in sein Gedicht Le Mondain eingebaut hatte.
Durch diese drei Suchgrabungen vorbereitet, kann der Leser nachvollziehen, warum Agrippa trotz aller dämonischen oder auch antijüdischen Einsprengsel in seinen Schriften, insbesondere Reuchlin (ihm widmet Priskil das umfangreichste Kapitel seines Werkes) gegen alle klerikalen Angriffe verteidigte und deren Forderungen, sämtliche Schriften aus jüdischer Feder zu verbrennen, auch wenn man ihn deshalb als „judaisierenden Theologen“ titulierte, standhaft abwehrte. Jetzt kann Priskil Agrippas Declamatio im Einzelnen vorstellen und schließlich Agrippas bewundernswertes Engagement für eine in Metz wegen Hexerei angeklagte Bäuerin (S.356f), wo er gegen den folterbrünstigen Inquisitor erreichte, dass die alte Bäuerin freigesprochen werden musste. Dies tat Agrippa, obwohl er wusste, dass er dadurch selbst ins Visier der Inquisition kommen würde. Bedauerlich, dass Voltaire den Hexenprozess und das Engagement Agrippas nicht erwähnt (obwohl er zuvor im dritten Kapitel seiner lettres das Schicksal des von der Inquisition verfolgten Lucilio Vanini, der am 9.2.1619 in Toulouse auf dem Scheiterhaufen starb, ausführlich behandelt); es ist unklar, ob er davon wusste, zumindest deutet der Vergleich mit Apuleius darauf hin, jedenfalls führte er es auf die Alchimie zurück, dass Agrippa als Hexer verdächtigt und verfolgt wurde.
Mit ähnlicher Methode, mit gleicher Umsicht stellt Priskil in diesem zweiten Band seines Werkes Der verdrängte Humanismus Johannes Reuchlin, Johannes von Tepl, Giovanni Pico della Mirandola, Ulrich von Hutten, die Brüder Sebald und Barthel Beham, Georg Pencz, Pietro Aretino Bonaventure Des Périers vor, schließlich Giordano Bruno und Johannes Kepler.
Wer sich über den Humanismus und seine Bedeutung für die immer wieder so hinterhältig – verlogen „christlich-jüdisch“ genannte Kultur des Abendlandes informieren möchte, greife zu diesem Buch und auch zu dem ersten Band des Werkes, das hinter dem hier vorgestellten in keiner Weise zurücksteht und bereits sehr wortreich in gelehrten Forscherkreisen verdammt wird.