Fragt man heute in Polen, wo die katholische Kirche im Volk noch hohes Ansehen genießt und der Klerus nicht wie in Deutschland mit staatlich eingetriebenen Steuergeldern versorgt wird, einen Kleinbauern nach dem örtlichen Priester, hört man, dass er Landwirtschaft betreibe, für alle Feiern der Ansprechpartner sei und gute Arbeit leiste. Er wird als Mensch von eigenem Schlag betrachtet, nicht wie in Deutschland, als Beamter. Ein solcher Dorfpfarrer ist es, den Voltaire hier vorstellt und zwar nicht negativ; was er lehrt, ist vollkommen zweitrangig, denn auf sein Handeln kommt es an. Auf solche Pfarrer konnte auch die Französische Revolution setzen und ein solcher Pfarrer war auch der Abbé Meslier (1664 – 1729), ein Atheist, Seelsorger, Freund und Helfer seiner Gemeinde und Verfasser der ersten atheistischen Schrift (s. Das Testament des Abbé Meslier, Herausgegeben und eingeleitet von Günther Mensching, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976).
Hintergrund:
A. Die Organisation der Kirche im 18. Jahrhundert:
Die Land- oder Dorfpfarrer (die Curés) bildeten mit den Vikaren die unterste Stufe der kirchlichen Hierarchie, über ihnen standen Bischofe, Erzbischöfe, Kardinäle. In Frankreich gab es 135 Bistümer und Erzbistümer, 34.658 Pfarreien mit ca. 60.000 Pfarrern/Vikaren. Hinzu kamen noch 60.000 Mönche und 71.000 Weltpriester. Sie machten 1,8% der Bevölkerung aus und besaßen 5-6% des Bodens, die ihnen jährlich 100 Millionen livres einbrachten, dazu kamen 123 Millionen livres aus der Kirchensteuer, dem Zehnten. Die höhere Geistlichkeit rekrutierte ihre Funktionsträger ausschließlich aus dem Adel und bestimmte alleine, wie die Einnahmen an die unteren Ränge weitergegeben wurden. Am wenigsten erhielten die Landpfarrer, am meisten die einflussreichsten Adligen mit den besten Pfründen (oft die großen Städte), eine Quelle dauernder Konflikte. Der Pfarrer war verantwortlich für die Taufen, Eheschließungen und Sterbefälle seiner Gemeinde. Er kontrollierte die öffentliche Erziehung und die Wohltätigkeitsmaßnahmen. Auch die Gemeindeversammlungen waren den Pfarrern unterstellt. Ein weitere wichtige Kontroll-Funktion waren die sogenannten Monitorien, mit dem die Kirche die Bevölkerung zur Beihilfe und Denunziation aufforderte, immer wenn ein Verbrechen begangen wurde.
B. „Der gute Pfarrer“ – Veröffentlichungen
– 1762 erschien Rousseaus Émile und dort im vierten Kapitel „La Profession de foi du vicaire savoyard“ (Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars), also eines Vertreters der untersten hierarchischen Stufe des französischen Klerus, eine entschieden antichristliche Schrift, in der Rousseau die Gleichrangigkeit aller Glaubensrichtungen einfordert. Voltaire veröffentlichte sie – trotz seiner Querelen mit Rousseau – auszugsweise in seinem Sammelband „Récueil nécessaire (Genf 1766)“.
[Le Recueil nécessaire, à Leipzig, 1765, in-8o, contient : 1° Avis de l’éditeur ; 2° Analyse de la religion chrétienne (sous le nom de Dumarsais) ; 3° le Vicaire savoyard, tiré de l’Émile de Rousseau ; 4° Catéchisme de l’Honnête Homme; 5° Sermon des Cinquante; 6° Examen important, par milord Bolingbroke (c’est-à-dire par Voltaire; 8° Dialogue du Douteur et de l’Adorateur; 8° Les dernières paroles d’Épictète à son fils; 9° Idées de La Mothe Le Voyer]
– Voltaire bezieht sich außerdem auf den Abbé de Saint Pierre (1658-1743) und seine Abhandlung Observations politiques sur le célibat des prètres.
– Auch in der Enzyklopädie erschien ein Artikel „Célibat“ der den Argumenten des Abbé de Saint Pierre im wesentlichen folgt.
Lit: Sage, Pierre, Le ‚bon prêtre‘ dans la littérature française d’Adamis de Gaule au Génie due Christianisme, Genève 1951
Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):
Anmerkung 1: S. 144, 2. Ariston: „Verdrießt es sie nicht, keine Frau zu haben?“): Die Aufklärer waren allgemein gegen das Zölibat. Die Forderung nach Abschaffung des Zölibats verfolgte das Ziel einer Schwächung der katholischen Kirche durch Verweltlichung. Nicht nur verhindert das Zölibat das Abfließen von Lebensenergie des kirchlichen Personals in weltliche Dinge, sondern sichert der Kirche auch durch die Erbschaften ihrer ehe- und kinderlosen Priester bedeutende Einkommenszuwächse. Da Voltaire für sich selbst eine Verheiratung nie in Betracht zog, könnte es sein, dass diese Verweltlichung sein eigentliches Ziel war. Vielleicht konnte er so auch einige der Volkspriester auf die Seite der Aufklärung ziehen. In dem Artikel Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus führt er, ebenfalls mit Bezug auf den Abbé de Saint-Pierre, noch die Nützlichkeit, die von den vielen Kindern solcher Priesterehen ausgehen würde, an (s. 5. Gespräch, S. 128/9).
Anmerkung 2 (S.145 Theotimus: „Die Beichte ist eine großartige Sache“): In der Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1765 nahm Voltaire einen kurzen Artikel zur Beichte auf, in dem er es anders sieht. Er weist darauf hin, dass die Beichte zunächst als ein Mittel der Kontrolle und Überwachung in der Kirche selbst eingeführt wurde. Erst später wurde sie allgemein. Weil sich durch die Beichte jeder Verbrecher Erleichterung verschafft, trägt sie eher zu deren Vermehrung als zur Vermeidung bei. Nur kleine Diebe kann man durch die Beichte etwa zur Rückgabe des Gestohlenen bewegen.
Anmerkung 3: (S.146 Theotimus: „Es gibt Rituale, bei denen die Heuschrecken, die Zauberer und die Schauspieler exkommuniziert werden“.)
– Heuschrecken:
Die Anmerkung in dem Kommentar der Voltaire-Foundation zu diesem Punkt bemerkt, dass Heuschrecken keiner Exkommunikation unterzogen wurden. Man hat stattdessen in einem speziellen Ritual den Ackerboden geweiht, um ihn vor den Heuschrecken zu schützen.
– Zauberer:
Papst Paul V. führte 1614 die Exkommunikationsrituale gegen Zauberer und Hexer ein, die dann in den Inquisitionsverfahren zur Anwendung kamen.
– Schauspieler:
-> Synode von Elvira (306): „Wenn ein Zirkuswettfahrer oder ein Pantomime zum Glauben übertreten will, muss er vorher seinem Gewerbe entsagen und darf nachher nicht mehr zu ihm zurückkehren; tut er es doch, soll er aus der Kirche ausgestoßen werden.“
-> Im Jahre 314 erklärte das Konzil von Arles die Schauspieler für exkommuniziert.
-> Das Konzil von Aachen 816 verbietet Klerikern die Teilnahme an Schauspielen.
-> Auf der Synode von Cambrai wurde 1300 bestimmt: „Kein Christ darf von der Kommunion zurückgewiesen werden, außer wer exkommuniziert ist oder wer durch notorisches Verbrechen gebrandmarkt ist, wie die öffentlichen Dirnen, die Komödianten und Spielleute.“
-> 1649 verordnete die Rituale von Châlon als Erste, dass Schauspieler nicht zur Kommunion zugelassen sind. Bis 1713 sollte, wie Jean Dubu aufzeigt (Les églises chrétiennes et le théâtre (1550-1850), Grenoble 1997), diese Intoleranz zunehmen. Nicht nur die Kommunion, sondern auch das Recht auf Bürgschaft und das Begräbnis wurde den Schauspielern verweigert. Die o. g. Angaben stammen aus Manuel Stadler Die Exkommunikation des Schauspielers zwischen dem Ende des Römischen Reiches bis ins 19. Jhdt.
Voltaire hatte selbst bittere Erfahrung mit dieser Variante der kirchlichen Misanthropie gemacht, als man seiner engen Freundin, der Pariser Schauspielerin Adrienne Lecouvreur das Begräbnis verweigerte (siehe dazu sein bewegendes Gedicht).
Anmerkung 4 (S.147 Ariston: „Was werden Sie tun, um die Bauern daran zu hindern, sich an Fest- und Feiertagen zu betrinken?“): Die Anmerkung der Voltaire Foundation weist darauf hin, dass Voltaire die Berechnung des Abbé de Saint Pierre übernommen hat. Voltaire kam immer wieder auf dieses Thema zurück.
Was zunächst wie ein Versuch zur Beschneidung der freien Tage der armen Landbevölkerung aussieht (Voltaire war schließlich in Ferney ein Großgrundbesitzer mit bis zu 1500 „Untertanen“), versteht sich etwas anders, wenn man folgendes bedenkt:
– Die Anzahl der Feiertage variierte von Diözese zu Diözese, jeder Bischof versuchte die Loyalität seiner Gemeindemitglieder durch spezielle Feiertage (Heilige, spez. Anlässe) zu heben, was deshalb erfolgversprechend war, weil an solchen Tagen die religiöse Indoktrination mit großem Elan praktiziert wurde. Ende des 13. Jahrhunderts ist von ca. 40 – 60 Feiertagen pro Jahr auszugehen.
– Erste Kritik an den vielen Festen kam im 15. Jahrhundert von humanistischer Seite (Nicolas de Clamange, Contre l’institution des fêstes nouvelles (1413), auch bereits mit dem Argument, dass die Bauern, könnten sie arbeiten, sehr viel besser leben würden. Dies war der ökonomische Blick des Stadtbürgertums, das in harter Arbeit zu Wohlstand und Unabhängigkeit gekommen war. (siehe: L’évolution du nombre de jours chômés à la fin du Moyen Âge : enjeux spirituels et économiques, 2007).
In einem anderen Artikel (Temps de travail et fêtes religieuses au XVIIIe siècle, Jean-Yves Grenier, in: Revue historique 2012/3, n° 663, S. 609 – 641) erklärt der Autor, dass sich die Anzahl der Feiertage im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Frankreich nahezu halbiert habe. Offenbar hatten sich die Manufakturbesitzer, Handwerker und Landbesitzer , die an der erhöhten Arbeitszeit interessiert waren, gegen die Kirche durchgesetzt.
Außer dass sie die Menschen dem kirchlichen Einfluss aussetzten, behinderten die vielen Feiertage auch sonst die ökonomischen Abläufe. So wurden zum Beispiel Transporte, ohnehin beschwerlich und langsam, plötzlich angehalten, weil in einer Region ein kirchlicher Feiertag ausgerufen worden war. Damit war die Belieferung von verderblichen Waren auf die Märkte der Städte oft schwierig, wenn nicht unmöglich.
Voltaire, richtig verstanden, argumentiert folglich gegen die Kirche,wenn er erklärt, dass weniger Feiertage den Bauern und Handwerkern ein höheres Einkommen, eine bessere Gesundheit, niedrigere Ausgaben für Alkohol bringen. Diese vertrat zu dieser Frage verständlicherweise genau das Gegenteil.