Todesurteil gegen die Montbaillis
Wie es damals mit der Justiz stand, zeigt exemplarisch der Fall Montbailli, bei dem religiöse Motive keine Rolle spielten, jedoch die Verkommenheit der Justiz eine sehr bedeutende. Liest man heute das Buch von Kachelmann über seinen Prozeß, wird man – leider – etliche Parallelen entdecken: Vorverurteilung, eine Justiz, die dem Druck der Straße folgt, die Unschuldsvermutung wird mit den Füßen getreten, eine ordentliche Beweisaufnahme unterbleibt, entlastende Hinweise werden unterschlagen, der Geschädigte erhält keinerlei Wiedergutmachung.
Wir bringen hier den betreffenden Abschnitt zum Fall Montbailli aus der berühmten Voltaire-Biographie von Gustave Desnoisterres, der die beiden Artikel Voltaires zusammenfasst:
Wir sind nicht am Ende dieser Fehlurteile (1) angelangt, die so dicht aufeinander folgten, daß man Absicht vermuten könnte, dies um so mehr, als sie keine Entschuldigung durch außergewöhnliche Irrtümer oder Zeugenaussagen finden.
Der Prozeß gegen das Ehepaar Montbailli fiel genau in diese Periode und erregte den Unmut der Öffentlichkeit, die bereits durch die vorhergehenden Todesurteile überreizt war, wo man bedauernswerte Opfer, denen selbstherrliche Richter die Anerkennung ihrer Unschuld versagt hatten, auf den Scheiterhaufen und zum Rädern geschickt hatte.
Als eine Angestellte um sieben Uhr morgens des 27.7.1770 an ihre Tür klopfte, um ihre Mutter zu sprechen, hatten die Montbaillis ihr Bett noch nicht verlassen. Sie schliefen in einem Vorzimmer, das vor dem Zimmer der Mutter lag. Monbailli stand auf, da man aber kein Geräusch vernehmen konnte, hielt der Sohn, in Sorge, die Mutter zu wecken, einen Moment inne, bevor er schließlich ihr Zimmer betrat und sah, daß die alte Frau gestürzt war, den Kopf zur Erde geneigt, das rechte Auge von der Ecke eines Möbelstückes zerquetscht, auf die sie beim Fallen aufgeschlagen war und kein Lebenszeichen mehr von sich gab.
Montbailli rief aus:“Oh mein Gott, meine Mutter ist tot“ und fiel wie vom Blitz gerührt in Ohnmacht. Seine Frau lief herbei, die Angestellte folgte, die Nachbarn wurden gerufen, ein Chirurg, den man geholt hatte, konnte nur noch den Tod der Mutter feststellen.
Der Sohn, dank eines Aderlasses wieder zu sich gekommen, machte sich an den traurigen Dienst, den er ihr, die nicht mehr war, noch leisten konnte. Aber schon mischten sich Leute aus dem Volk, die nichts von dem, was geschehen war, gesehen hatten, in die Sache ein und vermuteten, daß wegen des plötzlichen und unvorhersehbaren Todes ein schreckliches Verbrechen vorliegen müsse, begangen durch die Eheleute Montabilli.
Die Witwe, die unglücklicherweise den Fehler hatte, zu trinken, litt an streitsüchtiger Trunksucht und noch am Abend vor dem Ereignis hatte es eine ziemlich heftige Auseinandersetzung zwischen ihr und ihren Kindern gegeben. Es schien allerdings, daß sie sich beruhigte, nachdem sie den Dampf, der ihren Verstand benebelte, abgelassen hatte und man dann halbwegs versöhnt auseinander ging.
Seitens der Eheleute habe es sich dabei aber nur um einen hinterhältigen Scheinrückzug gehandelt, und die alte Frau habe mit ihrem Leben für das Unrecht gegenüber ihren Kindern oder ganz einfach für die Qual eines unhaltbaren Zusammenlebens gezahlt. Rache oder Befreiungstat, zwischen dieses beiden Beweggründen musste man wählen, weil die Witwe nichts als Schulden hinterlassen hatte und ihre Nachfahren nicht nur aus diesem Grunde kein Interesse an ihrem Tod haben konnten, sondern im Gegenteil: ihr bescheidener Wohlstand hing davon ab, daß die Mutter wohl erhalten blieb, denn alle drei lebten von einer kleinen Tabakmanufaktur, deren Konzession auf die Mutter lief und die bei deren Ableben entzogen werden konnte.
Aber was kümmert das? Eine blinde Menge beschäftigt sich nicht mit dererlei Überlegungen, die ohnedies dem Drang gewaltbereiten Empfindens zuwiderlaufen, sich immerfort neue Nahrung zu verschaffen. Das Volk von St. Omer kam in Bewegung, raunte, wurde drohend und zwang die Stadtverwaltung, die doch gegen äußere Beeinflussung hätte taub sein müssen, das Ehepaar Montbailli zu verhaften und zu inhaftieren, obwohl es weder ein Mordwerkzeug, noch eine Beschwerde oder Anklage, noch die Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens gab.
Die Ärzte und Chirurgen, die man zur Leichenschau gerufen hatte, stimmten darin überein, daß der Tod durch eine Blutung, die die Wunde des Auges hervorgerufen hatte, eingetreten war, oder durch Ersticken. Ist in diesem Bericht irgend etwas enthalten, was geeignet ist den Verdacht einer Mordtat zu nähren? Und rechtfertigt es diese Untersuchung, daß man eine weitergehende, ein Jahr dauernde Analyse des Falles anordnete, während der die Angeklagten in Haft bleiben sollten? Gewiß nicht, und der Ruf der Rechtschaffenheit und der freundliche Gesinnung der Unglücklichen rechtfertigten derartige Maßnahmen ebensfalls nicht.
Doch intervenierte der königliche Staatsanwalt, der ein à minima Verfahren einleitete, bezogen auf das Urteil des Rates von Arras (2). Man würde gerne erfahren, worauf die Anlage und darüber hinaus das Urteil des oberen Gerichtshofes von Arras gründeten, das, es sei hier nochmals gesagt, ohne Mordwerkzeug (damit es ein Mordwerkzeug hätte geben können, hätte man beweisen müssen, daß die Verstorbene nicht an einem Schlaganfall, sondern von der Hand eines Mörders starb), ohne das geringste Indiz, ohne Ankläger und ohne Zeugen, bei energischem Bestreiten der Tat durch die Angeklagten, und zwar konstant und trotz der üblichen Fallen der Untersuchungsrichter. Man verurteilte den Ehemann, nachdem man ihn der gewöhnlichen und außerordentlichen Folter unterworfen hatte, zum Abhacken der Hand, anschließend sollte er auf dem Rad sterben, und die Frau wurde zum Strang verurteilt. Ihre beiden Körper sollten anschließend verbrannt werden. Dieses Urteil wurde am 9.11.1770 verkündet und es bedeutete für den Ehemann die Exekution zehn Tage später. Bis um letzten Augenblick beteuerte der Unglückliche seine Unschuld. Man schlägt ihm die Hand ab, er sagt: „Diese Hand ist nicht eines Muttermordes schuldig“ und er antwortet auf die Bedrängung seines Beichvaters:“Warum wollen sie mich drängen, eine Lüge zu äußern, würden Sie denn die Verantwortung dafür auf sich nehmen?“ Weil die Frau schwanger war, musste man sich zurückhalten. Doch das bedeutete für sie , sechs Monaten lang in der Gewalt des Henkers zu verbingen. Ihre Familienangehörigen nutzten ihre Schwangerschaft, um beim neuen Kanzler Beschwerde einzulegen, die gewährt wurde. Von diesem Augenblick an trat der Patriarch von Ferney mit all seinem Einfluß in Aktion. Der Prozeß wurde vor dem neuen Rat von Arras neu aufgerollt, der die beiden Eheleute einstimmig freisprach. Ehrenhafter oder zumindest weniger von sich selbst eingenommen als das Parlament von Toulouse, beweinte es das nicht wieder gutzumachende Unglück, einen Unschuldigen hingerichtet zu haben.
Die unglückliche Witwe wurde vom zu Tränen gerührten Volk empfangen, es war ein Triumph, Freudenfeuer wurden entzündet, dem Anwalt, der ihre Unschuld verteidigt hatte, wurde ein Fest gegeben.
Aber: wohin treibt der Zufall das menschliche Schicksal? „Wenn (es spricht Voltaire) nicht durch Zufall der französische Kanzler aufmerksam geworden wäre, hätte die Ungerechtigkeit obsiegt“. Dieser bescheidene Satz sagt nicht alles. Er sagt nicht, daß der Retter der Calas auch dieses Mal der Retter der jungen Frau war, die, ohne Beschützer, ohne sonstige Unterstützung, kaum erreicht hätte, daß sie das Haupt der französichen Justiz erhört. Aber der Dichter war ein mächtiger Beschützer, den man anhörte, dessen Unterstützung, soweit er sie geben konnte, zu ein wenig Herablassung nötigte. Und in diesem Fall erreichte er alles, was einem Kanzler zu gewähren menschenmöglich war, obwohl dies noch weit entfernt von dem war, was gerechterweise hätte getan werden müssen, um das Geschehene wieder gutzumachen. Selbst gegenüber dem Parlament Maupeou musste man auf Traditionen Rücksicht nehmen, auf Anspruchshaltungen, auf den Dünkel einer Organisation, die, trotz ihrer Erfahrung aus jüngster Zeit, sich für unfehlbar hielt und für die erfolgreiche Revisionen schlechte Beispiele waren, die der Organisation schadeten. Und zweifellos waren die aufgehobenen Urteile nicht dazu angetan, deren Prestige zu heben.
(1) gemeint sind die Fehlurteile Calas, Sirven, 1760.
Quelle: Desnoiresterres, Gustave, Voltaire et la société francaise, vol. 8, Paris: Librairie Academique, 1875
(2) ‚a minima‘ bedeutet, daß das Urteil strenger ausfallen muss als das vorhergehende. Voltaire bezeichnet diese juristische Variante als ‚einer Rechtsprechung unter Menschenfressern würdig‘.
Quellen: Voltaire, La Méprise d’Arras (1771)
ders., Fragment sur le procès criminel de Montbailli (1773)