London

Voltaire in London

1726, als Voltaire in England ankam, war London bereits die größte Stadt der westlichen Welt und zählte über 500.000 Einwohner. Sie war aber auch eine Stadt großer sozialer Gegensätze: am Vorabend der industriellen Revolution hatte zwar das Bürgertum dem Adel die Macht entrissen (1689 wird dies in der Bill of Rights festgeschrieben), das normale Volk hatte davon aber nicht viel, es lebte in bitterer Armut.

Trotzdem war es eine Zeit religiöser Toleranz, die Voltaire sehr begrüßte und bewunderte. Auch eine weitere Folge der Teilentmachtung des Adels wertete er positiv: Bürger konnten jetzt - aufgrund außerordentlicher Leistung ('Sir' Isaac Newton) oder als Folge ihres klug erreichten Reichtums - in den Adelsstand erhoben werden. Eigentlich ein Zeichen dafür, daß der Adel noch immer den Ton angab, Voltaire aber sah es so, daß hier Bürger durch Leistung an die Spitze der Gesellschaft kommen konnten und nicht allein durch Zugehörigkeit zu einer noblen Familie - damals im absolutistischen Frankreich undenkbar. In diesem Klima blühte die Kultur: die Musik Purcells und Händels, am Theater spielte man die Stücke Shakespeares und John Gays, man las die Romane Jonathan Swifts und Newton legte die wissenschaftlichen Grundlagen der Physik. Das war genau das geistige Klima, das Voltaire brauchte. 

Etwas mehr als zwei Jahre in London genügten, um aus dem französischen Höfling und Libertin vollends einen aufgeklärten Bürger zu machen. Seit der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685 waren viele Hugenotten nach London geflohen, in ihren Kreisen fand Voltaire Anschluß. Einflußreiche Freunde wie Lord Bolingbroke und A. Fawkener führten ihn in die führenden englischen Gesellschaftskreise ein.

Voltaire im Londoner Exil - Hinwendung zur Aufklärung

10.5.1726 Ankunft Voltaires in London.

Stadtansicht von London um 1710 - im Vordergrund die damals bebaute London Bridge und sehr deutlich die Gedenksäule (Monument) die an das große Feuer von 1666 erinnert (photo: wikipedia:'London Bridge').

Sein erstes Ziel ist das Bankhaus da Costa, wo er seinen Wechsel einlösen will. Er erfährt, daß die Bank bankrott, da Costa auf der Flucht und seine Baranweisung verloren ist. Voltaire hält sich an den 71 jährigen Vater des Bankiers, der ihm erklärt, daß:

"sein Sohn nichts dafür könne, ihm sei Unglück widerfahren, er wäre immer bestrebt, nach Gottes Wille zu leben, das heißt, er sei ein ehrlicher Mann und guter Israelit. Er bestürzte mich, ich umarmte ihn, wir lobten gemeinsam Gott und ich hatte achtzig Prozent verloren."*

Er erhält nur einen kleinen Teil seines Geldes und in der großen Stadt ist dieses Geld schnell verbraucht. Voltaire braucht Hilfe.
Everard Fawkener (1684-1758)*, ein Tuch-grosskaufmann, den Voltaire aus Paris kennt, lädt ihn ein, bei ihm zu wohnen. Der Landsitz befindet sich in Wandsworth, (Putney Bridge Road, -wo heute eine Polizeistation steht) einem belebten Vorort von London, wo sich die Hugenotten nach der Vertreibung aus. Frankreich angesiedelt haben, es blüht das Manufakturwesen. Hier wird später die erste Lok der Welt auf die Schiene gesetzt.
* Noamy Perry, Sir Everad Fawkener, friend and correspondent of Voltaire London, 1975


Wandsworth

Heute ist Wandsworth eher ein ruhigerer Stadtteil Londons, einige kleine Häuschen erinnern noch an die industrielle Vergangenheit. Wo hier einst Arbeiter wohnten, hat längst der Mittelstand Einzug gehalten, der sich nach sozialem Aufstieg sehnt. An die hugenottische Vergangenheit erinnert sich kaum noch jemand. Der kleine Hugenottenfriedhof liegt versteckt hinter einer Backsteinkirche, nur in der Stadtbibliothek kennt eine ältere Mitarbeiterin den Ort.


Und ob an der Stelle, wo heute der hässliche Polizeibau steht, früher einmal das Haus Fawkeners stand, wissen nicht einmal gestandene Historiker. London ist schnelllebig und - ausgenommen die großen und berühmten Gebäude, scheint es sich wenig um die eigene Vergangenheit zu kümmern. So lösen sich die 250 Jahre alten Grabsteine des Hugenotten-Friedhofs langsam unter dem Einfluß von Witterung und Vandalismus auf und wer weiß, wie lange die schöne Trauernde (oben zu sehen) den Versuchen, sie von ihrem Grabstein abzulösen, noch standhalten wird ?


Juli 1726 

Voltaire reist heimlich nach Paris, wahrscheinlich, um dort für die finanzielle Absicherung seines Londonaufenthaltes zu sorgen.

Am 10. August 1726 stirbt Voltaires ältere Schwester

Marguerite-Cathérine Mignot, sie hinterlässt 3 Kinder, die späteren Madame Denis, Madame Fontaine und Abbé Mignot. Voltaire stand ihr sehr nahe, denn Marguerite-Cathérine war es, die sich nach dem frühen Tod ihrer Mutter um ihn gekümmert hatte. Voltaire konzentriert sich jetzt darauf, seine Lage in London zu stabilisieren. Dazu gehört vor allem, daß er  die englische Sprache erlernt.
Um die englische Sprache zu erlernen, besucht Voltaire - was liegt für ihn als Dramatiker näher -die Theater Drury Lane und Lincolns Inn Fields, wo man die Stücke Shakespeares spielt. Er mietet sich in der Nähe ein kleines Zimmer' und setzt sich bei der Aufführung neben den Souffleur, denn bei ihm kann er den geschriebenen mit dem gesprochen Text vergleichen.


Theatre Drury Lane

Das Theatre Royal Drury Lane wurde 1663 eröffnet und war die wichtigste Shakespearebühne Londons. Das Gebäude brannte mehrmals ab. Das heutige Theatergebäude wird seit 1812 bespielt und bietet für mehr als 2000 Zuschauer Platz und ist das Theater mit der ältesten, forlaufenden Spieltradition Londons. Dieses Theater spielte zu Voltaires Lebzeiten viele seiner Stücke in englischer Sprache:
1735 Junius Brutus. T. (William Duncombe),
1736. The Tragedy of Zara. [Zaire, Adaption v. Aaron Hill.],
1744. Mahomet the Imposter. T.  [Le Fanatisme, ou Mahomet le Prophète, Adaption v. James Miller und (?) John Hoadly, ein 5.Akt ist von ihm],
1749. Meropé [sic]. T.[Mérope, Adaption v. Aaron Hill.],
1759. The Orphan of China. T.  [Orphelin de la Chine, Adaption v. Arthur Murphy.],
1760. The English Merchant. C. [L'Écossaise, Adaption v. George Colman, the elder.],
1765. Mahomet the Impostor. T. [James Miller’s 1744 version, verändert durch (?) Garrick.],
1771. Almida. T. By a Lady. [Tancrède, Adaption v. Dorothea (Mallet) Celesia],
1776. Semiramis. T. [Sémiramis, Adaption v. George Edward Ayscough.
Quelle:Bartleby 10.IV


Lincoln Inn Fields

The Lincoln Inn Fields Theatre lag an der Südseite des gleichnamigen Platzes und bestand von 1661 bis 1848. Hier wurde 1728 John Gays Beggar's Opera aufgeführt, die Voltaire dort wohl gesehen haben dürfte. Heute steht an der Stelle das sehr sehenswerte paläontologische und anatomische Museum der Sammlung Hunter, eine der weltweit ältesten paläontologischen Sammlungen.

Lincoln Inn Fields Park

1735 spielte das Theater Voltaires Alzire in einer Adaption von Aaron Hill

 

 

 

 

 


Ende des Jahres 1726

besucht er Lord Bolingbroke in dessen Landhaus Dawley, lernt bei ihm den Dichter, Schriftsteller und Homer Übersetzer Alexander Pope kennen, besucht ihn mehrmals in Twickenham (heute Stadtteil von London). Nach einer glaubhaften Anekdote kam es dabei zu einem Zwischenfall. Voltaire antwortet nämlich auf die Frage, warum er denn bei so schlechter Gesundheit sei, daß ihn "die verdammten Jesuiten, als er noch ein Kind war, so mißbraucht hätten, daß er sich davon Zeit seines Lebens nicht mehr erholen würde". Diese Äußerung ist bei dem katholischen Pope nicht gut aufgenommen und die Beziehung der beiden war seitdem angespannt.

Ende Januar 1727

Voltaire hat in der englischen Gesellschaft Anschluß gefunden, er unterhält Kontakt zu den höchsten Gesellschaftskreisen, er wird von König Georg I empfangen und die königliche Familie unterstützt ihn sogar bei der Herausgabe seiner exklusiven und kostspieligen 'Henriade'.

Am 20.3.1727 

stirbt Issac Newton, wird in Westminster Abbey beigesetzt, auch dies für Voltaire ein Zeichen der Fortschrittlichkeit Englands: in Frankreich verweigert man manchem Wissenschaftler Anerkennung und ein ordentliches Begräbnis, während England ihnen höchste Ehren zukommen lässt.

Mai 1727

Voltaire lernt John Gay kennen, den Autor der 'Beggar's Opera' (die Brecht zur Dreigroschenoper umarbeitete) und Johnathan Swift, dessen Gulliver ihn begeistert. Er wohnt wieder in Wandsworth, jetzt aber bei einem Färber, trifft in dessen Nachbarschaft Quäker , über das Zusammentreffen berichtet Voltaire im ersten seiner philosophischen Briefe.

Juni 1727

Voltaire wohnt in Parson's Green, bei Lord Peterborough, neben Bolingbroke sein wichtigster Förderer in England. Voltaire kommt in Kontakt zu Lady Mary Wortley Montagu, der großen englischen Propagandistin der Pockenschutzimpfung. Er besucht George Bubb Dodington, Lord Melcombe, in Eastbury, der durch seine posthum erschienen Memoiren berühmt wurde.
Die Subskriptionsliste der Neuausgabe von Henry IV. wird ausgelegt. Voltaire lernt Andrew Pitt, den Führer der Quäker kennen, besucht ihn in Hamstead, wird von ihm zu einer Quäkerversammlung in die Grace Church Street mitgenommen. Heute ist die Gracechurchstreet in London eine Geschäftsstrasse mit netten Hinterhöfen. Von dem früheren Zentrum der Quäker ist nichts mehr geblieben, 1821 ist es einem Brand zum Opfer gefallen. In dieser Strasse wurde 1670 William Penn verhafet, weil er öffentlich predigte - denn innerhalb des Hauses zu predigen, hatte man ihm verboten.

Grace Church Street in London

 

 

 

 


Quaker

Die 'religiöse Gesellschaft der Freunde', wie sich die Religionsgemeinschaft auch nennt, war durch George Fox, einem Handwerker im 17 Jahrhundert, der sich für erleuchtet hielt, gegründet worden. Sie waren der Ansicht, daß in jedem Menschen etwas vom Licht Gottes leuchte, deshalb bezeichneten sie sich auch selbst als Kinder des Lichts. Ihr Führer William Penn war der Namensgeber und Gründer von Pennsylvania.
Für Voltaire waren die Quäker in mehrerer Hinsicht interessant :
o sie lehnten, ganz im Gegensatz zur katholischen Kirche,  Priester als Vermittler zwischen Gott und den Menschen ab. Jeder war selbst in der Lage, mit Gott zu kommunizieren .
o sie hatten sich gegen schlimme Verfolgung behauptet
o sie bildeten eine Gemeinschaft von Gleichen
o in ihrem Land Pennsylvania galt als oberstes Gesetz, daß niemand wegen seines Glaubens verfolgt werden dürfe.
Zu Voltaires Zeit war die religiöse Verfolgung in England abgeschafft: "Dies hier ist das Land der Sekten. Als freier Mann kommt der Engländer auf dem Weg, der ihm paßt, in den Himmel".


 

Am 29. Juni 1727

erhält er die Erlaubnis für 3 Monate nach Frankreich zu reisen. Voltaire bleibt in England, da sich durch den Tod Georg I. neue Perspektiven am englischen Königshof ergeben. Im Herbst wohnt er bei John Brinsdon, Sekretär von Lord Bolingbroke in der Durham Yard (Parallelstraße zur Strand). Er erkrankt, wird von seinen Gastgebern und Vermietern gesund gepflegt. Im Dezember zieht er in die Maiden Lane, ins Haus der 'White Peruke', heute auf der Rückseite des Vaudeville Theaters gelegen (hier gibt es dank Noamy Petty eine Gedenktafel), wohnt dort bis Juni 1728.

Am 6.12.1728

erscheinen 2 Essays von Voltaire, geschrieben in englischer Sprache: Essay upon civil wars und Essay upon the epick poetry.

1728 März

die Henriade erscheint, und zwar zuerst im Buchformat 4°, dann in 8°. Im Juni wohnt Voltaire wieder in Wandsworth.

Im Oktober 1728

Rückkehr nach Frankreich - Dieppe. Voltaire wohnt bei M. Fréret, einem Apotheker, Rue de la Barre - dann erst, 1729 im März Rückkehr nach Paris.

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Werke Voltaires - in London entstanden

    • Lettres philosophiques. In 25 Briefen vergleicht Voltaire die Zustände in England mit denen in Frankreich. Der Vergleich fällt eindeutig zugunsten Englands aus und macht ihm in Frankreich viele Feinde. Die 'Philosophischen Briefe' erschienen 1733 zuerst in englischer Sprache als: 'Letters concerning the English Nation by M. de Voltaire',erst ein Jahr später auf Französisch, und zwar in Amsterdam (Lettres philosophiques, par M. de V.... Amsterdam: E. Lucas, 1734, 387 S. (in-12°), denn in Frankreich durften die 'Briefe' nicht erscheinen....mehr
    • La Henriade Mit seiner Henriade setzt Voltaire Henri IV., dem großen Versöhner der Religionen in Frankreich ein Denkmal. Die Henriade war schon 1723 in Frankreich erschienen, machte ihn berühmt und zum Idol aller freiheitsliebenden Menschen, und zum Feind aller katholischen Finsterlinge. In London bringt Voltaire das Werk in einer sehr exklusiven Ausstattung im Format 4° neu heraus.

 

  • Essay upon civil wars of France extracted from curious manuscripts; London: Jallasson, 1727, 35 S. (8°) Es handelt sich um den Abriss der Lebensgeschichte Henri IV bis zu seiner Thronbesteigung. Die kleine Schrift konnte auf französisch erst 2 Jahre später in Holland erscheinen, weil sie in Frankreich von der Zensur verboten wurde.
  • Essay upon the epick poetry Der Versuch über die epische Poesie war als Einleitung zur Henriade gedacht und erschien 1728 unter dem Titel Essai sur la poésie épique, traduit de l’anglais de M. de Voltaire, par M. *** Paris, Chaubert, 1728, 170 S. ( in-12°). Die Abhandlung ist eine Art Selbsvergewisserung Voltaires gegenüber den Größen der epischen Literatur wie Homer, Vergil, Lukian, Tasso, Milton. Eine deutsche Übersetzung ist bis heute nicht erschienen.