Philosophisches Taschenwörterbuch: Critique – Kritik (Kommentare)

Dieser Kommentar gibt Hintergrundinformationen zu dem Artikel Critique aus dem Philosophischen Wörterbuch (1764) von Voltaire, das wir 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und im reclam Verlag herausgegeben haben. Das Buch gibt es gebunden und seit 2023 auch als Taschenbuch. Die Übersetzung des Artikels Critique besorgte Angelika Oppenheimer; es ist die erste Übersetzung ins Deutsche.

Hintergrund: Streit zwischen den Anhängern der Antike mit den Modernen

Voltaires Artikel Critique bezieht sich auf die Debatte zwischen den Freunden der Antike und den Modernen, die in Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts begann, aber im 18. Jahrhundert fortgeführt wurde. Schon im einleitenden Abschnitt spielt Voltaire auf diese Debatte an und auch die Schriftsteller, die er erwähnt, waren Protagonisten der sogenannten Querelle des Anciens et des Modernes.
Dabei ging es um die Frage, ob die Kunst der Antike für alle Zeiten Vorbildfunktion haben sollte, oder ob in einer Zeit, wo unter Ludwig XIV. Wissenschaft und Technik in Frankreich bisher unerreichte Höhen erklommen hatten, auch die Gegenwartskunst Mittel und Wege finden sollte, um an den antiken Vorläufern vorbeizuziehen. Die Freunde der Antike versammelten sich um Nicolas Boileau-Despréaux, die der Moderne um Charles Perrault.
Nicolas Boileau-Despréaux (1636-1711) war ein Autor satirischer Komödien, von Elogen auf Ludwig XIV und theoretischer Schriften. Einflussreich wurde vor allem seine Art poétique), in denen er die Aristotelischen Regeln für das Theater zum Maßstab aller neueren Werke erhob. Er war mit Molière, Racine und La Fontaine befreundet. Im Unterschied zu diesen ist er heute weitgehend in Vergessenheit geraten. 1684 wurde er in die Académie Française aufgenommen. Als er sich gegen Ende des 17. Jhdts. den Jansenisten zuwandte und die Jesuiten attackierte, fiel er in Ungnade.
Charles Perrault (1628 – 1703) wurde 1671 in die Académie aufgenommen und war dort der Anführer der Modernen. Mit seinem Versepos  Le Siècle de Louis le Grand (1687), das er in der Académie vortrug, eröffnete er den Angriff auf die Freunde des Altertums. Perrault ist heute vor allem durch seine Märchensammlung Les Contes de ma mère l’Oye (1697) [dt.: Märchen nach Perrault neu erzählt.. ) bekannt, die in Deutschland auch die Brüder Grimm inspirierte..

Die Debatte um Antike und Moderne war nicht bloß eine Positionsbestimmung der Kunst, sondern auch der Politik. Die Modernen feierten den französischen Absolutismus als schönste Blüte der menschlichen Geschichte, während, wer die Antike lobte, den Absolutismus indirekt kritisierte, oder sich zumindest ein unangreifbares Rückzugsgebiet schuf. Der Humanismus, in der Renaissance entstanden, wo er die Antike gegen das mittelalterliche Christentum positionierte, sah sich jetzt mit einer neuen Geisteshaltung konfrontiert, deren Protagonisten den Fortschritt in den Mittelpunkt stellten und, der Zukunft zugewandt, mit den Alten nichts mehr anfangen konnten – oder wollten und gewissermaßen den Humanismus selbst als überholt ansahen.

Die Debatte begann 1687 und spielte sich unter den Mitgliedern der Académie Française ab, die Louis XIV. installiert hatte, um eine ihm genehme Kulturpolitik finanziell mindestens ebenso gut auszustatten, wie es die theologischen Fakultäten taten.

Auch im 18. Jahrhundert wurde über diese Frage noch erbittert gestritten. Die Positionen der Aufklärer waren dabei nicht eindeutig pro oder contra Antike/Moderne. Was die Philosophie angeht, positionierte sich zumindest Voltaire ganz klar: „Locke allein wäre ein hervorragendes Beispiel für den Vorzug, den unser Zeitalter vor den schönsten Tagen Griechenlands voraus hat“ (Zeitalter Ludwig XIV, Bd II, S. 93). Eine eher vermittelnde Position vertrat er in der Kunst.

Die Fortschrittslehre konnte sich generell auf dem Gebiet der Kunst nicht wirklich durchsetzen, im Gegenteil schien es so (z.B. Diderot in seinem Artikel Encyclopedie), als ob die Kunst gerade durch die enormen Fortschritte in der Wissenschaft und Technik unter Druck geraten sei und hier eine Besinnung auf die Antike heilsam sein könnte, um von dort neu aufzusetzen. Die Antike behielt ihre Vorbildfunktion gegenüber der Moderne.
Auch, was die Gesellschaft, das Zusammenleben der Menschen betraf, galt das demokratische Athen für viele noch immer als Prüfstein für die Modelle der neuen Zeit. Und tatsächlich entfaltete sich während der französischen Revolution ein regelrechter Antikenkult. Im Namen der antiken Ideen von Republik, Demokratie und Religionsfreiheit wurde die absolute Monarchie und ihre Einheitsreligion, Idole der Moderne, weggefegt.

Werner Krauss, Professor für Romanistik in der DDR und Spezialist für die Aufklärung, veröffentlichte 1966 ein Buch mit dem Titel Antike und Moderne, in dem er die Diskussion zusammenfasst und mit einer Vielzahl von Texten in Originalsprache illustriert. Er griff damit auch in eine ganz ähnliche, in der DDR geführte Diskussion ein: In der sozialistischen Republik war es die deutsche klassische Literatur, die von den dortigen Eliten, ganz ähnlich wie im 18. Jahrhundert die Antike, zum Maßstab für gute Literatur erklärt wurde. Berthold Brecht, aber auch Peter Hacks stellten sich dem entgegen und forderten, dass eine dem Sozialismus angemessene Kunst zu entwickeln sei. Brecht schuf dafür sein episches Theater und er bezweifelte, dass die Klassik Goethes geeignet sei, um das Bewusstsein der Menschen im Sozialismus weiterzuentwickeln.
Speziell auf die Annahme, dass die Katharsis des antiken Theaters für die Menschen im Sozialismus ein adäquates Mittel sei, um gesellschaftliche Widersprüche zu begreifen (aufzuheben – Georg Lukacs), reagierte Brecht ablehnend. Für ihn stand fest, dass Widersprüche nicht geglättet werden dürfen, wenn es – dialektisch – zu einer produktiven Lösung kommen soll.

Vor dem Hintergrund dieser Diskussion arbeitete Krauss in seinem bedeutenden Artikel Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes heraus, welche gravierenden Folgen die Querelle für das Begreifen der Geschichte hatte:

  • Nicht mehr ein einzelner König, Krieger, Held ist das Subjekt des Weltgeschehens, sondern die Nation und das Volk.
  • Die Theologie verliert ihre Deutungshoheit über die Geschichte. Die Ursache für geschichtliche Veränderungen ist nicht mehr der unerfindliche Wille Gottes. Gesellschaftliche Gründe werden für das Weltgeschehen „entdeckt“: Menschen verantworten ihre Geschichte selbst.
  • Nicht die kriegerischen, sondern die kulturellen Leistung stehen im Mittelpunkt des historischen Interesses.  Voltaire arbeitete dies in seiner Geschichte Karls XII klar heraus. Karl XII. große, aufopfernden militärischen Taten findet er zwar erstaunlich, aber nicht bewundernswert: „…doch steigerte er alle seine heldischen Tugenden bis zu einem Übermaß, wo sie ebenso gefährlich sind, wie die entgegengesetzten Laster…Seine großen Eigenschaften, von denen eine allein einen anderen Fürsten hätte unsterblich machen können, haben Schwedens Unglück bewirkt… Sein Leben sollte Könige lehren, wie hoch eine friedliche, glückliche Regierung über noch so viel Ruhm steht“. (Althaus, 1965, S.294/5)
  • Das zyklische Geschichtsbild, nachdem eine Epoche – ähnlich wie das Menschenleben –entsteht, zu Kraft kommt, um dann aber unterzugehen, wird abgelöst durch ein Geschichtsbild des kontinuierlichen Fortschritts. Auch die kleinsten Errungenschaften bringen die Menschheit voran, indem sie den Berg von Kenntnissen erhöhen. Auf dessen Gipfel reicht der Blick weiter als zuvor, sei es auch nur ein weniges.
  • Die Quellenkritik tritt an die Stelle von suggestiven, meist klerikalen Darstellungen der Geschichte. Sie rückt zahlreiche Darstellungen des antiken Lebens und Denkens zurecht. Objektive Tatsachen, die Beschreibung plausibler Abläufe, ersetzten in der Geschichtsschreibung die Darstellung der Geschichte als einer göttlichen Heilsordnung.

C. Quellen
– Werner Krauss, Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18 Jahrhunderts, Berlin: Akademie, 1966, 383 S. Das Werk wird durch die beiden Grundlagentexte von Krauss und Kortum eingeleitet, es folgen in französischer Sprache eine Auswahl von Grundlagentexten zu der Debatte.
– Voltaire, Le siècle de Louis XIV [dt. Das Zeitalter Ludwigs XIV. Deutsch von Robert Habs, Leipzig: Philipp Reclam jun., 1887, 2 Bd. , oder xenonmoi: Berlin, 2015

D. Literaturhinweise
– Artikel Querelle des Anciens et des Modernes in Wikipedia
– zu Werner Krauss: Artikel in Wikipedia

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.177, 1. Absatz): Als „scoliaste“ bezeichnete man im 18. Jhdt. Kommentatoren von klassischen Texten der Antike.

Anmerkung 2 (S. 177, 2. Absatz: „las einmal mit mir zusammen Tasso“):
Torquato Tassos (1544-1595) Epos Das befreite Jerusalem, sein Hauptwerk, ist ein Loblied auf das heldenhafte Christentum, wie es sich gegenüber dem Islam behauptet, allerdings mit phantasievollen Einfällen angereichert. Der Modernist Quinault benutzte es als Vorlage für sein Libretto der Lully-Oper Armide (tragédie en musique). Der Anführer der Antiken, Boileau, kritisiert in seinen Satiren (Stanzen IX) den Quinaults Rückgriff auf Tasso („der falsche Glanz, das Flitterwerk“), dem Vergil („das Gold“), der von 70 – 19 v.u.Z lebte, deutlich vorzuziehen sei.
Voltaire las Tasso in der Originalsprache mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet. In seinem Werk Essai sur la poésie épique (1728) widmet er Tasso ein ganzes Kapitel. Er stellt Tasso Homer gleich und hebt seine immense Bedeutung für die Literatur hervor.

Anmerkung 3 (S.178 1. Absatz: „was Euer Boileau Flitterglanz nennt“?): In seinem Zeitalter Ludwig XIV. schreibt Voltaire über Boileau: „Er versuchte sich als Anwalt und dann an der Sorbonne. Als er von diesen beiden Schikanen angewidert war, gab er sich nur seinem Talent hin und wurde zur Ehre Frankreichs“.

Anmerkung 4 (S.178, 2. Absatz: „die Opern von Quinault“): Philippe Quinault (1635 -1688)
Dramatiker, bekanntgeworden als Librettist der Opera Lyrique an der Seite Lullys. Seine Stücke waren ein bevorzugtes Opfer der Kritik Boileaus, während Charles Perrault seinen Freund vehement verteidigte und in ihm den bedeutendsten Dramatiker seiner Zeit sah.
Voltaire : …berühmt durch seine schönen lyrischen Gedichte, mit denen er die höchst unbilligen Satiren Boileaus ertrug » (Habs, II 373). Voltaire schätze ihn als Librettist Lullys höher ein als dessen Musik (372). Vor allem Liebesszenen habe er sehr gekonnt in Verse gesetzt.
Quinaults an Torquato Tassos Jérusaleme angelehnte Tragödie Armide kann als Höhepunkt seines Schaffens angesehen werden. S.a.: https://www.youtube.com/watch?v=8-TyPNWh64E

Anmerkung 5 (S.179, 1. Absatz: „bald Boursault, Hénault und dann wieder Quinault verunglimpfte“): Edme Boursault (1638-1701) griff Molière wegen dessen École des femmes an, weil die Frauen darin nicht dem christlichen Rollenbild entsprechen Molière verteidigte sich mit seinem Einakter Impromptu de Versailles. Als Boursault in seiner Komödie La satire des satires (pdf) Boileau erneut angriff, erwirkte dieser, dass das Stück gerichtlich verboten wurde.
Charles-Jean-François Hénault (1686-1770), auch Président Hénault genannt, weil er am Pariser Gerichtshof den Vorsitz über eine der Kammern innehatte. Schriftsteller u. Historiker, mit Voltaire befreundet, der vor allem dessen Chronologische Geschichte Frankreichs schätzte.

Anmerkung 6 (S. 179, 2. Absatz: „diese schöne Fassade des Louvre durch die sich Perrault unsterblich gemacht hat“): Claude Perrault (1613-1688), der Bruder von Charles (s.o.), war Mediziner und Architekt. Er entwarf die Fassade des Louvre. Die Anhänger der Anciens griffen ihn an, wohl weil er in seinem Bruder den Anführer der Modernisten hatte.

Anmerkung 7 (S.179, 3. Absatz: Sully/Orsat/Villeroi/Louvois/Colbert):
Der Duc de Sully (1559 -1641) war ein Vertrauter Heinrich IV und dessen Finanzminister.
Sullys Antipathie gegen die beiden genannten Orsat (1536 – 1604), Kardinal, Vermittler zwischen Kirche und frz. Regierung; und Villeroi (1542-1617), Außenminister unter vier verschiedenen Königen, brachte er in seinen Memoiren an vielen Stellen zum Ausdruck. Sie waren durch persönliche Animositäten beim Kampf um Einfluss bedingt, wie sie am Hofe nicht ausbleiben konnten.
Louvois (1641-1691), Kriegsminister unter Ludwig XIV und Erfinder der Dragonnaden. Mit dem großen Colbert (1619-1683), wie ihn Voltaire betitelt, Finanzminister unter Ludwig XIV., lag er wegen der Finanzierung seiner Kriege naturgemäß ständig im Streit.

Anmerkung 8 (S.179, 4. Absatz: La Motte: „ein verdienstvoller Mann,…, der Stanzen schrieb“): Antoine La Motte Houdard (1672-1731), war Dramaturg und Kritiker. Sein Hauptwerk ist die Tragödie Ines de Castro. 1714 verarbeitete La Motte einen größeren Ausschnitt aus einer kurz zuvor erschienenen Prosaübertragung der Ilias zu einer Version in Versen, womit er den Nachweis zu führen versuchte, dass dieser antike Autor in seiner Zeit zwar anerkennenswert gewesen sei, mit den modernen Autoren aber nicht mehr mithalten könne. Außerdem fand er, dass die Prosaversion der in Versen vorzuziehen sei. Als er hierauf von der Homerübersetzerin, Anne Dacire, einer Verehrerin der Antike, angegriffen wurde, antwortete La Motte mit der Schrift Réflexions sur la critique und löste damit eine Fortsetzung der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687 aus.