Philosophisches Taschenwörterbuch:
Guerre – Krieg (Kommentare)

Der Artikel ist heute (2022/2023) von einer erschreckenden Aktualität. Wieder zerstört pure Machtbesessenheit ganze Völker, wieder sind es „drei- oder vierhundert“ Personen, die Menschen gegeneinander aufhetzen, die eigentlich keinen Grund haben, gegeneinander zu kämpfen und tatsächlich segnet die Kirche noch immer die Waffen „ihrer Soldaten“.

Hintergrund

Wenn in unserer Zeit Schreibtischstrategen sich über Völkerrecht, widerrechtliche Annektion, berechtige Separation usw. in die Haare bekommen, führen sie eine Diskussion, wie sie bereits in der Antike geführt wurde und dann im 17. Jahrhundert mit der Schrift De jure belli ac pacis (1625) (dt. Über das Recht des Krieges und des Friedens) von Hugo Grotius (1583 – 1645) ihren vorläufigen Höhepunkt an Gelehrsamkeit erreichte (darüber informiert kurz und bündig Seminarpapier Uni Münster pdf).

Nicht, dass die Absicht, Ordnung in die Debatte zu bringen verwerflich wäre, ganz im Gegenteil; verwerflich ist nur, wenn im konkreten Fall das Leid der Menschen eine viel kleinere Rolle spielt, als recht zu haben oder recht zu behalten.
Obwohl Voltaire diese Schriften kannte – das Buch von Grotius zum Beispiel befand sich in seiner Bibliothek -, beschäftigt er sich mit ihnen hier nicht – für ihn ist der Krieg schrecklich wie ein Seuche, wie eine Hungersnot und, da menschengemacht, ein Zeichen von Rückständigkeit. Zudem: Wenn die Kirche diese Kriege auch noch weihevoll anfeuert, so kann sie seiner Verachtung sicher sein.

Zwar hat Voltaire seinen Artikel, als er ihn 1771 in seinen Questions sur l’Encyclopédie erneut abdruckte, um einen Absatz erweitert, in dem er die Frage stellt, ob ein Präventivkrieg gerechtfertigt sein könnte. Seine Behandlung dieses Themas zeigt aber, worum es ihm in erster Linie geht: Kriege bringen unermessliches Leid über die Menschen und alle Maßnahmen, die sie verhindern können, sind gute Maßnahmen. Nur wenn man angegriffen wird, sind militärische Mittel zur Verteidigung als ultima ratio unvermeidlich.

Der namensgleiche Artikel Guerre der Enzyklopädie (Band 7, 1757) behandelt dagegen militärhistorische und militärtaktische Überlegungen („Kriegskunst“), oder die Frage, wann Kriege gerecht bzw. ungerecht sind, welche Gesetze der Humanität auch während des Krieges beachtet werden müssen und viele ähnliche Dinge mehr. ( siehe die Übersetzung dieses Artikels und auch den Essay von Alexander Kluge, Krieg in: Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt/Main: Eichborn, 2001, S.209 -216). Voltaires Antwort darauf ist eindeutig: Sollte jemand die so häufig trügerische Vorstellung hegen, zum gerechtesten aller gerechten Kriege berechtigt zu sein, bedenke er zunächst das furchtbare Leid, das er über die Menschen bringt, nur um einen Macht- oder Gebietszuwachs zu erzielen.


Hier nun Voltaires Zusatz zu seinem Artikel Guerre – Krieg des Philosophischen Wörterbuchs aus dem Jahr 1771 (Questions de l‘ Encyclopédie, Übersetzung E.Salewski):

„Der berühmte Montesquieu, der als menschlich galt, hat gleichwohl behauptet, dass es gerecht sei, seine Nachbarn mit Feuer und Schwert heimzusuchen, wenn man befürchten müsse, dass es ihnen gar zu gut gehe. Wenn dies der Geist der Gesetze ist, dann kann es nur derjenige eines Borgia und Machiavelli sein. Wenn er zum Unglück die Wahrheit gesagt hat, dann muss man gegen diese Wahrheit schreiben, auch wenn sie durch die Tatsachen bestätigt wird.

Montesquieu sagt folgendes (Geist der Gesetze, Buch X, Kap.2): ‚Zwischen Staaten zieht das Recht der natürlichen Verteidigung manchmal die Notwendigkeit nach sich, zum Angriff überzugehen, wenn ein Volk bemerkt, dass ein längerer Frieden ein anderes dazu befähigen würde, es selbst zu vernichten, und der Angriff in diesem Augenblick das einzige Mittel ist, die Vernichtung zu verhindern.‘

Wie kann der Angriff mitten im Frieden das einzige Mittel zur Verhinderung dieser Vernichtung sein? Dann müsstet ihr sicher sein, dass dieser Nachbar euch vernichten wird, wenn er stark ist. In diesem Falle müsste er bereits Vorkehrungen zu eurer Vernichtung getroffen haben. Dann aber ist er es, der den Krieg beginnt. Eure Voraussetzung ist also falsch und widerspruchsvoll. Wenn es je einen offensichtlich ungerechten Krieg gegeben hat, dann ist es der, den ihr empfehlt.

Ihr wollt eure Mitmenschen umbringen, damit sie (der euch keineswegs angreifen) euch nicht anzugreifen vermögen. Dann müsstet Ihr also die Vernichtung eures eigenen Landes in der Hoffnung riskieren, ohne Grund ein anders vernichten zu können. Das ist gewiss weder anständig noch nützlich; denn des Erfolgs ist man nie sicher, das wisst ihr wohl. Wenn euer Nachbar im Frieden zu stark wird, warum macht ihr euch dann nicht ebenso stark? Wenn er Bündnisse schließt, tut das doch auch! Wenn er weniger Mönche hat, dafür aber mehr Fabrikanten und mehr Soldaten hat, dann eifert ihm nach in dieser klugen Wirtschaftsführung. Wenn er seine Matrosen besser ausbildet, dann tut das auch!

Das alles ist recht und billig. Aber euer Volk dem furchtbarsten Elend auszusetzen, in der so häufig trügerischen Vorstellung, euren durchlauchtigsten Bruder, den Fürsten eines Nachbarlandes, zerschmettern zu können, diesen Rat dürfte der Ehrenvorsitzende einer Friedensgesellschaft euch nicht geben.

[Le célèbre Montesquieu, qui passait pour humain, a pourtant dit qu’il est juste de porter le fer et la flamme chez ses voisins, dans la crainte qu’ils ne fassent trop bien leurs affaires. Si c’est là l’esprit des lois, c’est celui des lois de Borgia et de Machiavel. Si malheureusement il a dit vrai, il faut écrire contre cette vérité, quoiqu’elle soit prouvée par les faits. Voici ce que dit Montesquieu(28): « Entre les sociétés le droit de la défense naturelle entraîne quelquefois la nécessité d’attaquer, lorsqu’un peuple voit qu’une plus longue paix en mettrait un autre en état de le détruire, et que l’attaque est dans ce moment le seul moyen d’empêcher cette destruction. » Comment l’attaque en pleine paix peut-elle être le seul moyen d’empêcher cette destruction? Il faut donc que vous soyez sûr que ce voisin vous détruira s’il devient puissant. Pour en être sûr, il faut qu’il ait fait déjà les préparatifs de votre perte. En ce cas, c’est lui qui commence la guerre, et ce n’est pas vous; votre supposition est fausse et contradictoire. S’il y eut jamais une guerre évidemment injuste, c’est celle que vous proposez; c’est d’aller tuer votre prochain, de peur que votre prochain (qui ne vous attaque pas) ne soit en état de vous attaquer: c’est-à-dire qu’il faut que vous hasardiez de ruiner votre pays dans l’espérance de ruiner sans raison celui d’un autre; cela n’est assurément ni honnête ni utile, car on n’est jamais sûr du succès; vous le savez bien. Si votre voisin devient trop puissant pendant la paix, qui vous empêche de vous rendre puissant comme lui? S’il a fait des alliances, faites-en de votre côté. Si, ayant moins de religieux, il a plus de manufacturiers et de soldats, imitez-le dans cette sage économie. S’il exerce mieux ses matelots, exercez les vôtres; tout cela est très juste. Mais d’exposer votre peuple à la plus horrible misère, dans l’idée si souvent chimérique d’accabler votre cher frère le sérénissime prince limitrophe! ce n’était pas à un président honoraire d’une compagnie pacifique à vous donner un tel conseil.]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.237, 2. Absatz, „das Volk von Veij oder die Volsker“): Die etruskische Stadt Veii wurde 396 v. u. Z. von Rom besiegt, die Bewohner versklavt und die Stadt mit römischen Bürgern neu besiedelt. Die Volsker , ein altitalienischer Volksstamm, wurde im Jahr 338 v. u. Z. von Rom unterworfen.

Anmerkung 2 (S.237 3. Absatz: „Ein Ahnenforscher beweist einem Fürsten“): Voltaires Beispiel  geht auf die Argumentation Friedrich II. zurück, mit der er seinen Einmarsch in Schlesien ab 1740 begründete. Er verlangte von Maria Theresia vier schlesische Grafschaften (Voltaire schreibt darüber in seinem Précis du siècle de Louis XV) mit einer ziemlich weit hergeholten Begründung: 1537 hatte der Herzog Friedrich II von Schlesien (s. Wikipedia Piasten) für die Grafschaften Liegnitz, Brieg und Wohlau mit dem Kurfürst Joachim II von Brandenburg einen Nachfolgevertrag geschlossen, den Friedrich I. v. Habsburg wiederum für null und nichtig erklärte. Als 1675 mit Georg Wilhelm die Linie der Herzoge von Schlesien ausstarb, waren Liegnitz, Brieg, Wohlau sozusagen „herrenlos“. Der Kurfürst von Brandenburg erhob Anspruch auf diese Besitztümer, erhielt aber nur den Kreis Schwiebus. Aus diesen alten Vorfällen leitete Friedrich II. von Preußen seine Ansprüche ab, zusätzlich Jägersdorf, das ebenfalls dieser Adelslinie gehörte. Das ist, als wenn heute die Türkei Anrechte auf Kreta (alter osmanischer Besitz) erheben würde.
Der erste Schlesische Krieg nahm seinen Lauf. In dem entsprechenden Wikipediaeintrag  erfährt man zwar, wieviel Soldaten die preußische Armee (27.000) hatte, wie viele Tote dieser Krieg forderte, erfährt man jedoch nicht.

Anmerkung 3 (S.238 „So führen vier oder fünf Mächte gegeneinander Krieg…“)
Im siebenjährigen Krieg (1756 -1763), vielfach als erster Weltkrieg bezeichnet, standen England und Preußen gegen den „Rest der Welt“. Dieser „Rest der Welt“ um Habsburg, Frankreich, Russland, Schweden, sowie der deutsche Kaiser verdammten Friedrich II und verurteilten ihn, weil er den Krieg angefangen hatte und als relativ kleiner Potentat die Großmächte herausforderte.
Hinter Friedrich stand aber das aufstrebende England, das diesen Konflikt lange vorher durch gezielte Investitionen und Einflussnahmen vorbereitet hatte und am Ende einzig als wirkliche Großmacht übrig blieb. An dem entsprechenden Wikipediaeintrag  haben viele Militärexperten mitgearbeitet. Über die Gründe, die zu diesem Krieg führten, warum Englands zur Großmacht aufstieg, erfährt man wenig, dafür viel über die einzelnen Schlachten.
Etwas anschaulicher erzählt über die barbarische Zerstörung von Dresden durch Friedrich II eine Seite der Bundeszentrale für politische Bildung, garniert mit viel Anekdotischem und Küchenpsychologie  .

Anmerkung 4 (S. 237 unten „Er kleidet sie mit grobem blauem Tuch..“): Das war die Uniform der preußischen Armee im siebenjährigen Krieg. Siehe dazu die materialreiche Bildersammlung von Andreas Meininger. 

Anmerkung 5 (S.238 oben, „ …mit mehr gedungenen Mördern als Dschingis- Khan, Tamerlan, Bjazet jemals in ihrem Gefolge hatten): gedungene Mörder, das sind skrupellose Söldnerheere, mit denen die europäischen Mächte damals operierten. Die Namen Dschingis- Khan, Tamerlan , Bjazet  sind Beispiele für Herrscher, die in den Augen westlicher Geschichtsschreiber besonders grausam waren, ohne sie mit den Grausamkeiten ihrer eigenen Machthaber zu vergleichen.

Anmerkung 6 (S.238 unten Massillon, S. 239, 2. Absatz Bourdaloue): Beide waren zu Voltaires Zeit bekannte katholische Moralprediger, die in ihren Reden vor allem gegen Lasterhaftigkeit, also gegen die sexuelle Freiheit herzogen, aber nie ein Sterbenswörtchen gegen militärische Gräueltaten verloren..

Anmerkung 7 (S.239, „Die Juden nennen Zebaoth „Gott der Waffen“): Zur Begriffsgeschichte gibt es eine ausufernde Diskussion, ob Zebaoth die himmlischen oder die weltlichen Heerscharen und ihre Waffen gemeint sind usw.; siehe dazu den Artikel Sabaoth im kleinen Pauly

Anmerkung 8 (S.239, „Homer nennt Mars einen wahnsinnigen blindwütigen Gott“): Bei Homer heißt Mars, der Kriegsgott, Ares. Über ihn, den „blutigen Schilddurchbrecher“ erzählt die Illias (in XXI, 390 ff), wie er von Pallas Athene in seine Schranken gewiesen wurde.