Philosophisches Taschenwörterbuch: Corps – Körper (Kommentare)

Die Frage, ob es außerhalb unserer Wahrnehmung eine unabhängig von uns existierende Materie gibt, um die es in Voltaires Artikel geht, beschäftigte die Menschheit mindestens seit der Antike. Auch heute ist diese Debatte noch in Gang, Filme wie „Inception“ oder „Matrix“ besitzen Kultstatus und erfassen weite Kreise, oft Jugendliche, die aus den geschickt gemachten Streifen großes Misstrauen der objektiven Wirklichkeit gegenüber ableiten und gleichzeitig eine Haltung rechtfertigen, die sich vor allem mit den eigenen subjektiven Phantasien und Innenwelten beschäftigt. Würden sie ihn kennen, wäre Bischof Berkeley ihr geistiger Urvater und Voltaire, was in dem Artikel klar zum Ausdruck kommt, ihr intellektueller Gegner.

A. Hintergrund:
George Berkeleys (1685-1753) Lehre ist seine christliche Antwort auf die Philosophie der Aufklärung, er verneint die Existenz einer objektiven Realität und behauptet, alle Dinge würden nur in Beziehung zu unserer Wahrnehmung existieren. Diese Position wurde verschiedentlich als sensualistischer Idealismus bezeichnet und ist noch extremer als die von Immanuel Kant, der wenigstens mit seinem „Ding an sich“ Dogma (dass man das eigentliche Wesen eines Objekts nicht erkennen kann, da wir es ja nur durch die Brille unserer Sinnesorgane wahrnehmen) die prinzipielle Existenz der Objekte nicht in Frage stellt.
Sicher erscheint es jedem Nichttheologen grotesk, dass der Schreiner die Existenz seines von ihm selbst hergestellten Stuhls auf dem er sitzt, nur als ‚Könnte sein‘-Objekt annehmen dürfen soll, dessen eigentliches „Ding an sich“ Wesen er nach Kant nicht zu erkennen vermag. Berkeley ging aber noch einen Schritt weiter: die gesamte außer uns existierende Welt ist nach ihm nur deshalb existent, weil wir sie wahrnehmen.
John Locke, dem Voltaire folgt, geht dagegen davon aus, dass nichts in unserem Kopf ist, was nicht zuvor durch unsere Sinne empfangen wurde und unterscheidet primäre Qualitäten wie Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, Undurchdringlichkeit und Zahl, die der Materie ursprünglich eigen sind, von sekundären Qualitäten wie Gerüche, Farben, Töne, Geschmacksempfindungen usw., die wir von den Körpern zwar sinnlich empfangen, aber subjektiv in uns ausgestalten und benennen.
Demgegenüber huldigt Berkeley einem radikalen Immaterialismus: „Sein ist Wahrgenommenwerden oder Wahrnehmen“. Das Wahrgenommene besitzt keine eigene selbständige Existenz. Worin liegt nun der christliche Clou in Berkeleys Argumentation? Wenn es Objekte gibt, die eine eigene Existenz haben, so wären sie auch von Gott unabhängig und widersprächen der universalen Abhängigkeit der Schöpfung vom Schöpfer! Darauf muss man erst einmal kommen. Der hochgläubige Mann schrieb gegen die Freigeisterei eines Mandeville und Shaftesbury , er betätigte sich als christlicher Missionar in Übersee und war überzeugt, mit seiner Lehre das Christentum gegen die Aufklärung retten zu müssen.


B. Die Diskussion um die Frage nach der äußeren Realität im 18. Jahrhundert
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts stand das akademische Personal ganz im Banne Descartes und seines Körper-Geist/Seele Dualismus. Das ist eine Haltung, die den Geist (die Seele) als eine eigenständige Seinsform oder Substanz ansieht und diese von der Materie, der körperlichen Welt, trennt. Die materielle Substanz sei „ausgedehnt“ und teilbar, die geistige dagegen unteilbar und unendlich. Der Geist (die Seele) sei dem Menschen eigen, Tiere hätten ihn nicht und seien Maschinen ähnlich, erklärte Descartes und bestritt Voltaire (s. Artikel im Philosophischen Taschenwörterbuch Âme-Seele).
Aus diesem Körper/Geist Dualismus erst ergab sich das erkenntnistheoretische „Problem“, wie dieser Geist in seinem Gehäuse die Außenwelt wohl erkennen könnte. Berkeley löste das Problem, wie bereits gesagt, indem er der objektiven Außenwelt eine Existenz überhaupt absprach. Bis heute beschäftigt sich die Philosophie und auch die Naturwissenschaft mit diesem Thema. Eine Rezension des Buches zweier Hirnforscher, Haynes/Eckholdt „Fenster ins Gehirn“ aus dem Jahr 2021, zeigt das sehr gut, / und sie zeigt insbesondere, wie eng die Annahme des Dualismus an die Religion gekoppelt ist. Über zweihundert Kommentare geben einen guten Einblick in die Verwirrung, die dieser Dualismus bis heute anstiftet.
Es ist offensichtlich, dass es vor allem die nicht überwundene Religion war, die die Intellektuellen im 18. Jahrhundert daran hinderte, zu erkennen, dass der Geist und das Denken durchaus körperlich sind und dass der behauptete Dualismus überhaupt nicht existiert.
Man bezeichnet diese Gegenposition zum Dualismus heute als Monismus (bekannter Vertreter: Ernst Häckel) oder einfach als Materialismus, da sie die Vorstellung, es gäbe zwei Grundprinzipien, zwei Substanzen in der Welt ablehnt, und die Auffassung vertritt, dass alles Materie ist, auch der Geist.
Im 18. Jahrhundert war es vor allem der verfemte La Mettrie, Demokrit wieder aufnehmend, der diese Position vertrat und es gebührt ihm die Ehre, mit seinem Werk „Der Mensch als Maschine“, diesen Weg als erster im 18. Jahrhundert wieder beschritten zu haben, einen Weg, den nach ihm unter anderem Diderot, Helvetius und d’Holbach beschreiten sollten.

Leibniz‘ Monadologie, Voltaire erwähnt sie in seinem Artikel, stellt einen weiteren, allerdings mystisch-religiös eingefärbten Versuch dar, den Leib-Seele, Körper-Geist Dualismus mit Hilfe der Mathematik aufzulösen und ein einheitliches Prinzip, eben die Monade, Geist und Materie in einem, einzuführen. Zu diesem Thema existiert ein Wikipedia-Artikel, der Leibiz Monadenlehre hinreichend und verständlich erklärt.

In seiner vor über 100 Jahre erschienenen, aber noch immer lesenswerten Geschichte der Philosophie gibt Windelband (im Kapitel V, Die Philosophie der Aufklärung, S.358 ff ) einen guten Überblick über die Winkelzüge, die das Körper-Geist Dualismus Problem im 18. Jahrhundert hervorrief und welche Lösungsansätze dafür angeboten wurde. Berkley steht auf der einen Seite des Extrems (Verneinen der materiellen Welt zugunsten der geistigen), La Mettrie auf der anderen.

Und Voltaire? Er hielt es mit John Locke und hielt sich selbst vornehm – oder vorsichtig – zurück, gab aber immer wieder zu erkennen, dass er den Dualismus ablehnte und er verbannte die göttlich-geistige Sphäre in die Ecke des Ungewissen.

C. Quellen
– Breidert, Wolfgang, George Berkeley: Wahrnehmung und Wirklichkeit, in: Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen: Vandenhoek, 1979, S.211 – 240
Berkeley, Georges, Three dialogues between Hylas and Philonous, Amsterdam,1750, [dt.: Berkeley, Drei Dialoge…übers. und eingeleitet v. Dr. Raoul Richter Leipzig: Dürr, 1901]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.100 unten: „Es gibt nur Körper, sagen Demokrit und Epikur):  Leukipp und Demokrit (ca. 460-370 v. Chr.) entwickelten materialistisch- mechanistische und atomistische Theorien, die man bei Epikur wiederfindet, während Zenon von Elea die Unmöglichkeit von Materie und Bewegung zu beweisen versuchte.

Anmerkung 2 (S.101, 2. Absatz: „Er glaubt zu beweisen, dass es keinerlei Ausdehnung gibt“):  In Berkeleys Three Dialogues 170-172 dt. Drei Dialoge S.39,

Anmerkung 3 (S. 102: 2. Absatz: „Ich habe mich vor langer Zeit mehrfach mit ihm unterhalten…“): Das Treffen mit Berkeley muss zwischen 1726 und 1728  während Voltaires Exil in London stattgefunden haben.

Anmerkung 4 (S.176: „wenn er Hylas fragt…“):
Voltaire vertauscht hier die Namen der beiden Gesprächspartner.

Anmerkung 5 (S.176: „… dass die Körper aus unendlich vielen kleinen Wesen bestehen, die keine Körper sind“): Voltaire setzte sich mit  Leibniz‘ Monadologie in seinen Élements de la philosophie de Newton auseinander: Kapitel 8 (frz).