Hintergrund:
Arthur O. Lovejoy, ein Philosoph aus den USA, zeigt in seinem Buch „The Great chain of being: a study of the history of an idea, Harvard, 1933, [dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.]“, wie sich der Gedanke von einer Kette oder Stufenleiter der (Lebe-)wesen aus der Antike bis hin zu Locke, Pope und Leibniz, Spinoza entwickelte um sich schließlich im 20. Jahrhundert ganz aus dem Bewusstsein zu verabschieden. Er sagt:
„Die Vorstellung des Kosmos als einer Kette von Wesen … fand ihre weiteste Verbreitung und Zustimmung im 18. Jahrhundert“ (S.221).
Nach Lovejoy waren Addison, King, Bolingbroke, Pope, Haller, Akenside, Thomson, Buffon, Bonnet, Goldsmith, Diderot, Lambert, Kant, Herder, Schiller, Anhänger der Vorstellung von einer ununterbrochenen Kette der Wesen, wogegen Voltaire (und in England Dr. Samuel Johnson (1709 – 1784)) den Angriff auf das ganze Gedankengebäude führten.
Platon stellt die Stufenleiter im letzten Absatz seines Timaios („Nachdem, wie gesagt, Männer entstanden waren…“) so dar, dass Gott zunächst die Männer erschuf. Aus diesen wurden dann in einem zweiten Leben Frauen, Vögel, Landtiere, Wassertiere – in absteigender Reihenfolge, je nachdem, ob sich ein Mann gut oder schlecht betragen hatte.
Vom Christentum wurde der Gedanke einer Stufenleiter, die vom einfachsten Wesen mit zunehmender Vollkommenheit immer weiter hinaufführt, gerne aufgenommen, führte sie doch direkt zum Allmächtigen selbst. Dieser christlichen Vorlage folgten auch Locke (Versuch über den menschlichen Verstand), Spinoza und Leibniz.
Alleine schon wegen dieser weitverbreiteten Hilfsfunktion für die christlichen Gottesbeweiskonstruktionen dürfte die Stufenleitertheorie für Voltaire unsympathisch gewesen sein.
Wie man sich den Übergang von der Materie zu den lebenden Wesen vorzustellen habe, war im Rahmen des Stufenleitermodells im 18. Jahrhundert Gegenstand einer intensiven Debatte um die sogenannte Spontanerzeugung. Dabei wurden erstmals auch naturwissenschaftliche Experimente zur Wahrheitsfindung herangezogen.
Antoni van Leeuwenhoeck (1632 -1723) hatte in Delft durch immer genaueren Glasschliff Lupen entwickelt, mit denen er 1674 erstmals Mikroorganismen sichtbar machen konnte. Er publizierte Zeichnungen von Bakterien, Protozoen und anderen Einzellern, was weltweit als Entdeckung des Bindeglieds zwischen der Materie und dem Lebendigen interpretiert wurde. Man fragte sich, ob diese Mini-Lebewesen direkt, „spontan“ aus der Materie entstanden sein könnten. Das ist, was als Debatte über die Spontanerzeugung die Anfänge der Mikrobiologie begründete.
Es folgen die Experimente von John Needham (1713 -1781) und Lazzaro Spallanzani (1729-1799). Needham schloss aus der Beobachtung, dass in einer Fleischbrühe, obwohl man sie so heiß gekocht hatte, dass alles Lebendige darin abgetötet worden war, trotzdem wieder Leben entsteht, dass dieses Lebendige dort spontan entstanden sein müsse.
Needhams Experiment wurde von Spallanzani widerlegt, der die Fleischbrühe ebenso wie dieser abkochte, anschließend aber luftdicht verschloss – wonach in dieser Fleischbrühe kein „spontanes“ Leben mehr entstand. Damit war bewiesen, dass die Mikroorganismen von außen in die Flüssigkeit hineingekommen sein mussten und dort nicht spontan entstanden waren.
Diderot und d’Alembert, auch d‘Holbach, vertraten interessanterweise die Position Needhams, wohl weil sie ein Argument gegen das Christentum zu liefern schien: Wenn aus der Materie spontan Leben entsteht, ist es nicht Gott, der ihr Leben und Geist eingehaucht hat.
Voltaire vertrat dagegen die (richtige) Position Spallanzanis: Aus toter Materie kann, anders als es die Bibel glauben machen will – nichts Lebendiges entstehen – und schon gar nicht spontan. Aber auch er schlussfolgert eine Art Gottesbeweis: Wenn jedes Lebewesen aus einer Keimzelle (wie die Pflanze aus einem Samenkorn) hervorgeht , stößt man am Ende der „Kette“ auf eine causa finalis, eine göttliche Endursache, die selbst keine weiteren „Verursacher“ hat (siehe Artikel Atheismus).
Trotz des eindeutigen experimentellen Gegenbeweises durch Spallanzani hielten Diderot und d’Alembert, d‘Holbach an ihrer Position fest, was zeigt, wie wenig selbst in diesen aufgeklärten Kreisen die objektive experimentelle Methode als entscheidendes Wahrheitskriterium vorgedrungen war.
Quellen:
o Lovejoy, Arthur O., The Great chain of being: a study of the history of an idea, dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.) hat die Geschichte der Idee von einer Stufenleiter von der Antike bis ins 18. Jahrhundert nachgezeichnet.
o Zur Geschichte der Spontanerzeugung: Paul de Kruif, Mikrobenjäger, Zürich: Orell Füssli 1927
o Voltaire diskutiert insbesondere im ersten Gespräch seines Dialogue entre Lucrèce et Poseidonios, zuerst erschienen in Mélanges III, 1756 [dt. Gespräch zwischen Lukrez und Poseidonios, in: Voltaire Kritische u Satirische Schriften, 1970, S. 77-95] die Frage nach der Entstehung der Arten. Poseidonios verteidigt gegen Lukrez die Ansicht, dass es eine Entwicklung von der Materie zum Leben nicht gegeben haben kann und es eines intelligenten Schöpfers bedurfte, um Leben entstehen zu lassen.
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):
Anmerkung 1 (S.88, erster Absatz: „Zoophyten”): „Es war in den Augen des 18.Jahrhunderts ein großer Augenblick in der Geschichte der Wissenschaft, als Trembley im Jahre 1739 den Süßwasserpolypen Hydra wiederentdeckte (er war vorher schon von Leeuwenhoeck beobachtet worden), ein Wesen, das sofort als das langgesuchte fehlende Glied zwischen Pflanzen und Tieren begrüßt wurde. – Aristoteles‘ nebulöse Zoophyten konnten dieser Aufgabe nicht länger gerecht werden (Lovejoy, Die große Kette, S. 280f).“ Abraham Trembley (1710 – 1784) war ein Genfer Zoologe, der sich intensiv mit dem Süsswasserpolpypen Hydra beschäftigte.
Anmerkung 2 (S.88, zweiter Absatz: „.. zwischen ihm und Gott befindet sich die Unendlichkeit”):
Der Absatz ist nicht nur eine Polemik gegen die christliche Selbstüberhöhung, sondern zeigt darüberhinaus Voltaires Abneigung, die Stufenleiter mit Werturteilen zu verknüpfen, so dass ein Wesen auf der höchsten Stufe mehr wert wäre als eines auf der unteren.
Anmerkung 3 (S.88, unten und 89 oben: „.. Wo ist also die Kette?….“):
Voltaire nimmt die Vorstellung von einer Kette wörtlich, wenn es also ein Element nicht mehr gibt, bricht die Kette auseinander. Das Argument zeigt, dass Voltaire dem Konzept einer evolutionären Abstammungslehre nicht folgt. Daher ging es ihm auch nie darum, das Bindeglied zwischen Affen und Menschen zu suchen und womöglich eine oder mehrere Untermenschenrassen zu (er-)finden. Affen und Menschen können durchaus nebeneinander und gleichwertig exisistieren, gewisse Varietäten unter den Menschen müssen nicht der einen oder anderen über- oder untergeordnet werden.
Damit setzt er sich in Gegensatz zu Leibniz („Die Natur macht keine Sprünge“) und zu d’Alembert („Die Natur bildet ein Kontinuum, das alle Wesen wie eine Kette miteinander verbindet“ ).
Anmerkung 4 (S.89, vierter Absatz: „Jenseits der Menschen, bringen Sie, götttlicher Platon, im Himmel einige himmlische Wesen unter…“): in Phaidros 246e-247c. In Phaidon 110-111 beschreibt Platon die Existenz einer „höheren Erde“
Anmerkung 5 (S.89 unten/90 oben: „Welche Abstufung besteht, bitte, zwischen Ihren Planeten?”):
Die kosmologischen Vorstellungen Platons finden man z.B. im Timaios 38d (pdf).