Philosophisches Taschenwörterbuch:
Le Ciel des anciens – Der Himmel in der Antike (Kommentare)

Man vergleiche den Artikel von Voltaire, 260 Jahre alt, mit einem neueren zum gleichen Thema, etwa mit dem der Sternwarte der Universität Innsbruck. Er ist ebenso kurz, umfasst eine ähnliche Zeitspanne; sogar die gleichen Personen kommen in dem Artikel vor – aber wie tief ist unsere Zeit gesunken, dass man den Studenten/Schülern mit solchem Gedankenschleim das Gehirn füllt: Zur Geschichte der Astronomie. Wenn es darin um die Frage geht, warum sich die Menschen für die „Sterne“ interessierten, fühlt man sich an Pangloss (Candide) erinnert: „Merken Sie wohl! Alle Nasen wurden gemacht, Brillen zu tragen, darum haben wir Brillen.“ Dass die besten Wissenschaftler existentiell bedroht waren, wenn sie die Sonne ins Zentrum stellten, oder eine Drehbewegung der Erde für wahrscheinlich ansahen, erfährt man nicht, nicht einmal bei Galilei , auch nicht bei Kepler, dessen Mutter einem ekelerregenden Hexenprozess ausgesetzt war.

Dies ist eine nur erste Bemerkung zum Thema, ausgelöst durch das Erschrecken bei der Lektüre des genannten Innsbrucker Sternwartenartikels.

So kurz Voltaires Artikel ist, hat er es doch in sich: er streift die Entwicklung der menschlichen Beobachtungsgabe hin zur Wissenschaft, enthält die Verfolgung ihrer Protagonisten durch die Kirche und führt hin zu den für die Astronomie im 18. Jahrhundert grundlegenden Erkenntnissen Newtons.

Hintergrund:
A
. Die Astronomie im 18. Jahrhundert:
In seiner allgemeinverständlichen Geschichte der Astronomie (Die Himmelskunde, Düsseldorf: Econ, 1965) bezeichnet der Autor Willy Ley das 18. Jahrhundert als das „Himmlische Jahrhundert“, weil jetzt die Erkenntnisse Newtons zu einem Aufblühen der Astronomie als Wissenschaft führte. In Frankreich waren die wichtigsten Protagnisten Charles Messier, Joseph Nicolas Delisle, Alexandre-Gui Pingré und der einflussreiche Bovier de Fontenelle.
Von den 9 Planeten unserer Hemsiphäre kannte man fünf: Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn.

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Voltaire, Questions sur L’Encyclopédie, Le ciel matériel (1770). In dieser Schrift fasst Voltaire die astronomischen Kenntnisse seiner Zeit zusammen.
– De Fontenelle, Bernard le Bovier,  Entretiens sur la pluralité des mondes, Paris: Blageart, 1686, 359 p. [dt.: Dialogen über die Mehrheit der Welten, übersetzt von J. Chr. Gottsched, Berlin: Himburg, 1780, 355 S.). F. stellt die astronomischen Lehren von Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes vor, die allesamt der christlichen Annahme von der Erde als Mittelpunkt der Welt widersprechen. Es kam sofort auf die Liste der verbotenen Bücher
– Newton, Isaac, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, 1687 [frz.:]
– ders. De motu corporum in gyrum, 1684
– Pluche, Noël-Antoine, [dt.: Schau-Platz der Natur. Oder: Unterredungen von der Beschaffenheit und den Absichten der Natürlichen Dinge, 8 Bde. Monath, Wien und Nürnberg 1750–1754]
– ders., Histoire du ciel, 2 Bde. Paris: Veuve Estienne, 1739–1741. [dt.: Historie des Himmels darinnen vom Ursprunge der Abgötterey und von den philosophischen Irrthümern über die Entstehung des Weltgebäudes und der ganzen Natur gehandelt wird. 3 Bde. Hekel, Dresden und Leipzig 1740–1742.]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: (S.90, „wie Fontenelle sehr gut…bemerkt hat“): De Fontenelle, Bernard le Bovier (1657-1757), in seinen Entretiens bringt er die Seidenraupen-Analogie im ersten Gespräch (Dass die Erde ein Planet ist, der sich sowohl um sich selbst, als auch um die Sonne drehet, Dialogen, S.45,46).

Anmerkung 2: (S.92, 1. Absatz, ..dass die Erde und die Planeten um die Sonne kreisen. „Das jedenfalls lehrt uns Aristarchos von Samos“): Plutarch, der in seiner Schrift De facie in orbe lunaeÜber das Gesicht im Monde (Moralia, XII, engl – p 52 ) Aristarchs Lehre vorstellt, lässt einen seiner Streitenden folgende Worte aussprechen: „Nur gehe nicht hin, mein guter Freund, und strenge einen Prozeß gegen mich an wegen Gottlosigkeit…“ (Ley, Die Himmelskunde, S.47).

Anmerkung 3: (S.93, unten, „Ein Schriftsteller, den man, glaube ich, Pluche nennt“): Noël-Antoine Pluche war im 18. Jhdt ein außerordentlich erfolgreiche Schriftsteller. Sein Spectacle de la nature (8 vols) und seine Histoire du ciel (3 vols) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Voltaire besaß sie alle beide und hatte sie vielfach angemerkt. Pluche popularisierte die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und versuchte sie mit der christliche Religion zu „harmonisieren“.

Anmerkung 4: (S.94, zweiter Absatz, „Calmet…spricht vom System der Hebräer“): In der Tat waren die astronomischen Kenntnisse Israels im Vergleich zu Babylon, Assyrien und Ägypten sehr bescheiden. In einigen Bibelstellen wird die Himmelskunde als fremden, feindlichen Völkern zugehörig dargestellt und in die Nähe einer Gotteslästerung gerückt (etwa Zephania 1,5, Jesaja 47,13-14). In Sonnen oder Mondfinsternissen sah man Zeichen einer drohenden Bestrafung.

Anmerkung 5: (S.94, letzter Absatz, „Ausgenommen die Chaldäer“): Im Alten Testament werden die Babylonier „Chaldäer“ genannt, evtl. weil Nebukadnezar, ab 625 v u. Z. König v. Babylon war, aus dem chaldäischen Volk stammte, das im übrigen mit den Assyrern eng verwandt war. Im engeren Sinne versteht man unter Chaldäer die Priesterastronomen Babylons. Sie waren in der Lage, bestimmte Planetenkonstellationen ziemlich genau vorherzusagen.

Anmerkung 6: (S.95. erster Absatz, „es ist leicht einzusehen, dass nach dieser Auffassung Antipoden unmöglich waren“): Bis in das frühe Mittelalter glaubte man, dass der untere Teil der Erde nicht bewohnt sei. Die Menschen würden dort ja schließlich hinunterfallen. Erst mit Newtons Entdeckung der Gravitationsgesetze konnte man diesem Irrglauben wissenschaftlich begegnen, wenn auch schon durch die frühen Seefahrer mehr und mehr klar wurde, dass diese Behauptung falsch ist.