Philosophisches Taschenwörterbuch: Bornes de l’ésprit humain – Grenzen des menschlichen Geistes. (Kommentare)

Hintergrund:
Die Philosophie der Aufklärung wendet sich gegen das jahrhundertelang praktizierte Verfahren, aus allgemeinen Begriffen die Wirklichkeit abzuleiten („universalia realia sunt“), vom Allgemeinen auf das Besondere zu schließen. David Hume (1711-1776) führte in seinen epochalen Werken Treatise of Human Nature (1739) und Enquiry Concerning Human Understanding (1748) die menschliche Fähigkeit, Vorgänge nach Ursache und Wirkung zu unterscheiden, auf die empirischen Erfahrung der Menschen, aus der sie induktiv auf die Ursache eines Phänomens schließen, zurück und lehnte die Annahme eingeborener Ideen oder Kategorien ab (Kap.4. Enquiry). In Frankreich war es vor allem Étienne Bonnot de Condillac (1714.1780), der in seinem Werk Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis (erste Ausgabe 1746) das Einfachste, von dem man auf der Suche nach der Wahrheit ausgehen müsse, in der sinnlichen Wahrnehmung und nicht in den Denkvorgängen sah, die nur allzuoft Fehler und Vorurteile enthalten.
Voltaire war schon sehr früh derselben Ansicht (Drama Ödipus 1719): „Vertrauen wir nur uns selbst, sehen wir alles mit unseren eigenen Augen. Sie sind unsere heiligen Gefäße, unsere Orakel, unsere Götter“. Der kurze Artikel bezieht vor allem Position gegen René Descartes‘ (1596-1650) Rationalismus, dessen Auffassungen von Materie und Geist in Frankreich unter den Gebildeten immer noch vorherrschend waren. An sie richtet Voltaire in diesem Artikel das Wort und fordert sie auf, den Weg zur Befreiung von religiöser Bevormundung, zur Überwindung der Grenzen des menschlichen Geistes weiterzugehen.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.77, zweiter Satz: Wie dein Arm und dein Fuß Deinem Willen gehorchen): In seinem „Discours sur la Methode“ (5.Teil) sagt Descartes über die „Lebensgeister“ (ésprits), dass durch deren Verteilung in den Muskeln die Glieder des Körpers sich verschieden bewegen.

Anmerkung 2 (S.77, dritter Satz: Wie sich das Kind in der Gebärmutter bildet): Über die Frage, wie Leben entsteht, war im 18. Jahrhundert eine lebhafte Diskussion im Gange. Die Präformationstheorie besagte, dass in der Eizelle – oder im Sperma  – der fertige Mensch (ein Homunculus) mit all seinen Organen enthalten sei und nur noch wachsen müsse. Voltaire glaubte dagegen an eine Entwicklung aus einem seit jeher bestehenden Bauplan (Epigenese: Die Organe werden während der Entwicklung neu gebildet), er folgte darin seinem Zeitgenossen, dem berühmten Biologen Georges Buffon (1707 – 1788) der  in seinem Werk Allgemeine Naturgeschichte, Zehntes Kapitel: Von der Bildung der Leibesfrucht (1749).die Homunculustheorie ablehnte.

Anmerkung 3 (S.77, zweiter Absatz: Wie das Weizenkorn wächst): Voltaire spielt hier auf den Fall des von der Inquisition in Toulouse auf dem Scheiterhaufen verbrannten Lucilio Vanini (1585-1619) an, der mit dem Weizenkorn-Beispiel die Existenz Gottes beweisen wollte.  

Anmerkung 4 (S.77, zweiter Absatz: wie die Erde einen Apfel oben auf diesem Baum hervorbringt): Auch dies ist ein Hinweis auf den Biologen Georges Buffon. Er beschrieb in seiner Allgemeinen Naturgeschichte (Zweites Kapitel: Von der Hervorbringung seines Gleichen überhaupt), wie man sich die Fortpflanzung von Pflanzen vorzustellen habe.

Anmerkung 5 (S.77, letzter Satz: Deine Devise ist: Was weiß ich nicht): Das ist der rote Faden in den Meditationen von Descartes, an allem zu zweifeln: „Was also bleibt Wahres übrig? Vielleicht nur das Eine, dass nichts gewiss ist“ (Meditationen, II, 2). In ihrer Anmerkung zu dieser Stelle meint die Voltaire-Foundation, es könnte mit dem angesprochenen „hochnäsigen Dummkopf“ der Literat Jean-Jacques Lefranc de Pompignan gemeint sein, der, als Nachfolger des verstorbenen Maupertuis, in seiner Antrittsrede 1760  zu seiner Aufnahme in die Académie française die Enzyklopädisten massiv angegriffen hatte.