Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amour propre – Eigenliebe (Kommentare)

Hintergrund:
Wie könnte das Christentum die Eigenliebe positiv sehen, wenn es jahrhundertlang den Hass auf die Sexualität predigte, die ihm immer ein Teufelswerk war? Wer könnte die Devise befolgen „Liebe Deinen Nächsten wie die Dich selbst“, wenn ihm sein Körper als satanischer Gegner, als Territorium der Angst erscheint? Wem wäre es möglich, sich selbst zu lieben, ohne die Sexualität dabei einzubeziehen? Konsequent und ehrlich, wie er war, lehnte Blaise Pascal, der große Theoretiker des im 18. Jahrhundert einflussreichen Jansenismus, die Eigenliebe komplett ab. Sie führe unweigerlich dazu, dass man seine Unvollkommenheit, seine Laster und Fehler erkenne und dann, durch Eigenliebe zur Heuchelei getrieben, den Schein der Vollkommenheit aufrechtzuerhalten versuche. Aus der Erkenntnis der eigenen Mängel resultiere Selbsthass und Selbstverleugnung: „Der Mensch ist also nichts als Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl in sich selbst als gegen die anderen“ (Pascal, Gedanken über die Religion…, I. 5, Eitelkeit, Eigenliebe). Ein wahrhaft philosophischer Gedanke!
Voltaire dagegen bekennt sich zu einer Eigenliebe, die für die Genüsse und Freuden des Lebens und sogar für das gute Funktionieren der Gesellschaft die Grundlage darstellt (siehe auch Philosophische Briefe, 25.XI, Bemerkungen über Pascal). Erstaunlich ist, wie Voltaire, Jahrhunderte vor der Psychoanalyse, völlig selbstverständlich erklärt, dass der Kern der Eigenliebe die Sexualität ist, die man genauso wie diese liebt, jedoch verstecken muss.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 36, 1. Absatz, „Ein Missionar reiste durch Indien und traf auf einen Fakir“): Voltaire baute die Geschichte in seine kleinen Erzählung: „Lettre d’un Turc sur les fakirs (1750)“ (dt. Bababek und die Fakire, in: Sämtliche Romane, übersetzt v. Ilse Lehmann) ein. Auch dort setzt der Fakir auf eine Entschädigung für seine Leiden im Himmel. Es sei daran erinnert, dass die Selbstgeißelung bei den Jesuiten gängige Praxis war. Der erotische Roman Therèse philosophe des Marquis d’Argens, in dessen Haus Voltaire in Potsdam (dem Marquisat) 1751 eine zeitlang lebte, stellte die Verbindung zwischen der Flagellation und der masochistischen Lustbefriedigung, einer sehr irdischen Entschädigung also, explizit her. In Voltaires Erzählung befriedigt den Fakir stattdessen die öffentliche Anerkennung. Was sind Viele bereit zu erdulden, um solcher Belohnungen willen!

Anmerkung 2 (S. 36, 2. Absatz, „Die Eigenliebe ist die Grundlage all unserer Empfindungen und Handlungen“):
An dieser Stelle weist die Voltaire Foundation, Oxford, darauf hin, dass das 18. Jahrhundert mit Voltaire an erster Stelle (und beginnend mit Pope’s Essay on man) die Eigenliebe rehabilitierte. Gegenüber welcher Tradition die Eigenliebe rehabilitiert werden musste, sagen die Voltaire-Spezialisten – wie an vielen anderen Stellen – leider nicht.