Voltaire-Übersetzer: Christlob Mylius

Christlob Mylius, (* 11.11.1722 in Reichenbach an der Pulsniz – † 6.3.1754 in London). Sein Vater war der Pfarrer Caspar Mylius, seine Mutter dessen zweite Ehefrau Marie Elisabeth geb. Ehrenhaus. Er hatte vier ältere Brüder, die alle den Christus im Namen tragen: Christlieb, Christfried, Christhelf und Christhilf.

Von ihm stammt die bisher einzige Übersetzung von Voltaires Streitschrift, der Diatribe du Docteur Akakia, 1752/3.

Nach seinem Studium in Leipzig entwickelte er sich, vielseitig interessiert und begabt, zu einem der ersten Wissenschaftsjournalisten Deutschlands. Er gab mehrere Periodika heraus, unter anderem die Zeitschrift „Der Wahrsager“, die 1749 von der preußischen Zensur nach der 20. Ausgabe (im Mai) verboten wurde (so viel zu Friedrichs Haltung zur Pressefreiheit, die er Mai 1749 dann auch entschieden einschränkte). Dazu heißt es bei Ernst Cosentius, dem bis heute besten Bericht zu Mylius Leben:

Gewissermaßen als Feuilleton zur Zeitung gab M. seit dem 2. Januar 1749 unter dem Titel: „Der Wahrsager“ wiederum eine satirisch-moralische Wochenschrift heraus, die lediglich als eine Erwerbsquelle von M. zu nennen wäre, hätten sich die Schullehrer Berlins nicht über das 7. Stück des „Wahrsagers“, in dem sie sich gezeichnet glaubten, beschwert. Dies Stück darf man eine ironische Empfehlung der La Mettrie’schen Philosophie nennen. Es gab, wie das 9. Stück, das ein satirisches Lob der Hahnreihe brachte, den Ministern Friedrich’s des Großen Anlaß, beim Könige ein neues Censur-Edict zu beantragen und den Verfasser und Verleger des „Wahrsagers“ zu verwarnen. Daß die Leser satirischer Blätter stets nach lebenden Modellen suchten, war ein alter Uebelstand. Nach Mylius’ Ankündigung zum „Wahrsager“ hatten sie vielleicht auch ein Recht dazu. Jetzt, wo M. gewarnt war, lenkte er sein Blatt in die ruhige Bahn einer wohlgesitteten Wochenschrift und wurde nicht müde zu versichern, daß er Niemanden im Bösen meine; aber Friedrich der Große verbot trotzdem den „Wahrsager“ und erließ am 11. Mai 1749 das von den Ministern vorgeschlagene Censur-Edict. Das letzte (20.) Stück des „Wahrsager“ datirt vom 15. Mai 1749.

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„Die freundliche Ideologie“, Stefan Ripplinger, Junge Welt, 29.7.2023

In der Wochendausgabe der Jungen Welt vom 29.7.23, die unter dem grotesken, aber ernstgemeinten Titel „Kapitalismus killt Klima“ aufmachte, erschien auch der oben genannte Artikel eines gewissen Stefan Ripplinger, ein Vielschreiber, der auch die obskure Jungle World mit „auf den Weg“ brachte. In seinem neuesten Elaborat verspricht er, drei Publikationen vorzustellen, die den modernen „Wokismus“ kritisieren. Wir werden es hier unterlassen, seine äußerst fragwürdige Kritik einer Analyse zu unterziehen, das lohnte den Aufwand nicht und jeder Leser kann sich ja selbst ein Bild davon machen. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die in dem Artikel enthaltene Abwertung der Aufklärung, die er, wie auch den Wokismus, als „freundliche Ideologie“ tituliert und insbesondere auf seine Schmähung Voltaires, ihres wichtigsten und bekanntesten Vertreters.

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Philosophisches Taschenwörterbuch:
Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus (Kommentare)

Im Chinesischen Katechismus gibt Voltaire einen Einblick in aktuelle Positionsbestimmungen der Aufklärung zum Christentum.
Zu der aus dem Humanismus stammenden zentralen Aussage, dass die Menschen bei ihrer Verbindung zu Gott keine vermittelnde Institution benötigen, kommt im 18. Jahrhundert die klare Ablehnung der Gottesidee selbst hinzu, wie sie de Meslier, de La Mettrie, Diderot, d’Holbach und d’Alembert, formulierten, außerdem die Suche nach einer humanen, nichtchristlichen Ethik. Diese Positionsbestimmung wird auf verschiedenen Ebenen vorgenommen:

1. Auf der Ebene der christlichen Religion selbst: Welche Argumente gibt es für die Existenz ihres Gottes (Alleine, dass man an diese Frage verstandesmäßig herangeht, war für die Kirche ein erster Schritt zum Scheiterhaufen) und welche Argumente halten einer rationalen Überprüfung stand?
2. Auf der Ebene des Subjekts: Wie kann man sich den Kontakt des einzelnen Menschen zu Gott im Christentum vorstellen?
3. Welche Bedeutung kommt der christlichen Religion in Bezug auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu?
4. Mit welchem Recht behauptet die christliche Kirche, Vertreterin der einzig wahren Religion und Gottesidee zu sein? Da es mehrere Religionen und mehrere Religionsgemeinschaften/Kirchen gibt: Wie kann ihr Zusammenleben, wenn doch jede ihren Gott für den einzigen hält, organisiert werden?
Zumindest für die Ebenen 3 und 4 war China bedeutend, weil dort selbst nach den Berichten der Jesuiten (siehe unseren Kommentar zum Artikel Über China) ein Staat existierte, der seit Jahrhunderten völlig ohne Religion und Kirche, insbesondere ohne das Christentum auskam und nach seinen eigenen konfuzianischen nicht-religiösen Grundsätzen funktionierte. Deshalb kleidet Voltaire diese für die Aufklärung entscheidende Diskussion in ein chinesisches Gewand. Die Entdeckung Chinas und der dortigen Lebensweise war ebenso überwältigend, wie wenn man heute einen fremden Planeten entdeckte, auf dem die Menschen völlig friedlich, bei gemeinschaftlicher Herstellung und Verteilung des Reichtums, genüsslich lebten – und das alles mit 20 Stunden Arbeit pro Woche….


Hintergrund:
A
.
Die alltägliche Verfolgung von Religionskritikern steht im Hintergrund des Chinesischen Katechismus, die Voltaires Vorsicht, sein Zurückweichen zum Schluss eines jeden der ersten drei Gespräche dieses Dialogs, verständlich machen. Zwei Beispiele für die existentielle Bedrohung von Philosophen der Aufklärung seien hier exemplarisch aufgeführt, auch das Leben de La Mettries gehört hierher, der sich vor den christlichen Häschern an den Hof Friedrich II. nach Berlin retten konnte, um dort als dessen Vorleser und Spassmacher zu fungieren:  

Die Verfolgung von Christian Wolff, Mathematikprofessor und Prorektor der Universität Halle
Wolff wurde nach seinem Vortrag mit dem Titel: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (12. Juni 1721) von der Universität und aus Preußen überhaupt verbannt. In seinem Artikel De La Chine berichtet Voltaire von dem empörenden Vorgang und zeigt Wolff als Märtyrer der Aufklärung, Opfer des verfolgerischen Christentums. Seinen Chinesischen Katechismus, insbesondere den zweiten Teil, kann man als Ergänzung zu Wolffs Rede lesen. Voltaire war mit Christian Wolff durch seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet, eine Wolffianerin, intensiv befasst und er besuchte ihn sogar in Halle. Er teilte nicht dessen Ansicht von unserer Welt als der besten aller möglichen und auch nicht Wolffs Hoffnung, Gott und die Religion verstandesmäßig, mit mathematischer Genauigkeit begründen zu können.
Dies sind die Thesen von Christian Wolff die er in seiner Rede vertritt, in der er seine starke Übereinstimmung mit Konfuzius  aufzeigt (Wolff bezieht sich dabei – wie später auch Du Halde in seinen Bericht über Konfuzius  – auf François Noël ):
– wie schon Konfuzius lehrt, ist es dem Einzelnen möglich, zu erkennen, was gut und was böse ist. Dieses Erkenntnisvermögen zu schulen ist eine wichtige, lebenslange Aufgabe
– den Menschen ist (Ethik der Autonomie) das Erkenntnisvermögen „ins Herz geschrieben, sie selbst sehen, was gut ist“, das wirklich tugendhafte Handeln, resultiert aus der Vernunft und nicht aus der Furcht vor einem Herren, nicht als Reaktion auf Belohnung oder Strafe: (Woher die Tugend kommt).
„Wer durch die Vernunft zum Guten angetrieben wird, der wird durch den freien Willen zu guten Handlungen bestimmt und braucht, um beim guten zu bleiben, keinen Herren“ (S.37 V 436 f).
– Zur Vollkommenheit  gelangt man durch nicht durch ständiges Bekämpfen des Bösen/der Laster, sondern durch beständiges Fortschreiten in der Erkenntnis, im Gebrauch der Vernunft. Die Erprobung dieser Grundsätze, könne man, meint Wolff, „nirgendwo sicherer auffinden als bei den alten Chinesen, bei denen es überhaupt keine Religion gab“(S.47, V. 615). Prof Heiner Roetz (Univ. Bonn) schrieb 2021 in einem Aufsatz zum 300 jährigen Jubiläum der Rede Wolffs: „Wolffs China-Rede war eine der seltenen Sternstunden einer zukunftsweisenden kosmopolitischen Philosophie. Seine Liaison mit dem Konfuzianismus hat nicht nur dazu beigetragen, die Ethik von ihrer Bevormundung durch die Theologie zu befreien, sondern auch dazu, sie auf den Pfad der Autonomie zu bringen“.
Lit.: Heiner Roetz, Menschen brauchen keine Religion und keine Gesetze – „Sie sehen selbst, was gut ist“ 08.07.2f021 (Heiner Roetz ist emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie Chinas an der Universität Bochum).

Die Inhaftierung von Denis Diderot wegen seinem Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden , 1749
Kurz nach der Veröffentlichung seines Textes wurde Diderot am 24.7.1749 verhaftet und in dem Gefängnis Vincennes inhaftiert, aus dem er erst am 3. November 1749 wieder entlassen wurde. In dem Brief über die Blinden geht es um die Frage, wie es mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren sei, dass es Menschen gibt, die von Natur aus blind sind. Ausgehend von John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, nachdem in der Welt unseres Verstandes nichts existiert, was nicht auf einer sinnlichen Wahrnehmung beruht, bezweifelt er, dass man Gründe für die Annahme der Existenz eines allmächtigen Gottes finden könnte. Wenn man die Existenz Gottes, wie es der Deismus tut, aus der bewundernswerte Harmonie der Welt und ihrer unveränderlichen (Natur-) Gesetze ableitet, welche Stellung nehmen dann in dieser Welt die von Natur aus Blinden ein? Ausgehend von dieser Frage kommt er zu einem grundsätzlichen Zweifel an der christlichen Schöpferidee. Wenn es aber keinen allmächtigen Gott gibt, sind auch unsere Ideen über das Böse und das Gute nicht absolut gültig, sondern relativ. Auch sie sind abhängig von unserer körperlich-sinnlichen Wahrnehmung. Diese, in die Worte eines Blinden gekleidete Argumentation war ausreichend, um Diderot ins Gefängniss zu werfen. (siehe dazu:  Pierre Lepape, Denis Diderot, Frankfurt: Campus, 1994,S.8-16, S.88 ff, er folgt: Paul Bonnefon, Diderot prisonnier à Vincennes, in: Revue d’histoire littéraire de la France, Juli-Sept. 1899; einige der Briefe der Buchhändler und Verleger, die sich für die Freilassung Diderot einsetzten, findet man (frz.) in ARTFL, einem US-amerikanischen Projekt zur Digitalisierung bedeutender französischsprachiger Texte) .

B.
Außerdem sollte man sich den religiösen Hintergrund für die sechs Gespräche des Chinesischen Katechismus vor Augen führen:
1. Gespräch: Der Himmel als „Wohnung Gottes“ ist der Ort, wo die Guten landen während die Hölle für die Schlechten ist (Das christliche Glaubensbekenntnis: „ich glaube an Gott, …den Schöpfer des Himmels und der Erde…..“)
2. Gespräch: Gott als Schöpfer der Welt ist dem Christentum zufolge allmächtig („ich glaube an den allmächtigen Gott…“)
3. Gespräch: Die Seele ist der unsterbliche Teil des Menschen und wird nach dem Tod entweder aufsteigen oder muss, besonders wenn sie nicht getauft ist, in der Hölle schmoren. („ich glaube an die Auferstehung der Toten … und an das ewige Leben.“, Jesus wird „richten die Lebenden und die Toten.“)
4. Gespräch: Das Christentum ist der einzig wahre Glauben und seine religiösen Grundsätze stehen über den weltlichen Gesetzen. Keiner anderen Religion soll es erlaubt sein, über der christlichen zu stehen. („ich glaube an die heilige/christliche– katholische Kirche“)
5.  Und 6. Gespräch:  Glaube, Liebe und Hoffnung gelten dem Christentum als die höchsten Tugenden.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Erstes Gespräch

Anmerkung 1 Titelerklärung (S.108):
– Zisi, auch Tse Sse (481 – 402 vuZ) war der Großenkel von Konfuzius.
– Voltaires Dialog fußt auf der Description de la Chine von J.-B. Du Halde, in der er das vierte der klassischen Bücher (Meng Tsée, ou livre de Mencius) vorstellt, das ihm in der Übersetzung von François Noël vorlag. Mengzi (um 370–290 v. Chr.), einer der bedeutendsten Konfuzianer, unterweist dort diverse Adlige in der Kunst des guten Regierens. Diese Dialoge des Mencius waren ganz offensichtlich das Vorbild des Chinesischen Katechismus.
– Jean-François Fouquet, Jesuit, (1655-1741) hielt sich von 1710 bis 1717 in Peking auf. Er ist der Verfasser von Abhandlungen über das Tao, über Konfuzius. Einige seiner Manuskripte befinden sich in der Bibliothek des Vatikans.

Anmerkung 2 (S.108 „Himmel (Shangdi)“):
Der Begriff Shangdi https://en.wikipedia.org/wiki/Shangdi geht auf das zweite chinesische Kaiserreich zurück, die sogenannte Shang Dynastie (18. – 11. Jhdt v.u.Z.) deren Kaiser auf Orakelknochen genannt und offenbar göttlich verehrt wurden. Der Kaiser so glaubte man, empfing sein Herrschermandat vom Himmel und kehrte nach seinem Tod an die Seite des „Shangdi“ zurück. Weil diese Vorstellung der christlichen vom Gottkaisertum und von Gott als dem „Schöpfer des Himmels und der Erde“ fast vollständig entspricht, kann sie hier als „chinesische“ gefahrlos lächerlich gemacht werden.

Anmerkung 3 (S.111 oben „… die Strahlen, die von Ihren Augen bis zum Scheitelwinkel zwei gleiche Winkel bilden“): Gemeint sind die beiden Geraden, die vom Rand eines Gegenstands zum Auge führen, dort im Scheitelpunkt zusammenkommen und sich im gleichen Winkel in das Innere des Auges fortbewegen, wo sie auf die Netzhaut treffen. Die Natur des Lichts wurde im 18. Jahrhundert von Newton erforscht und beschrieben. Voltaire machte die Entdeckungen Newtons bereits 1732 in seinen Philosophischen Briefen bekannt. Später bauten er und seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet die Experimente Newtons in ihrem physikalischen Labor in Cirey nach und überprüften seine Aussagen. Ihre Ergebnisse veröffentlichte Voltaire die Eléments de la philosophie de Newton (1738). Emilie du Châtelet wiederum übersetzte bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1749 Newtons Principia Mathematica vom Lateinischen ins Französische: Principes Mathématiques de la Philosophie naturelle par feue Madame la Marquise du Chastellet, Paris: Desaint & Saillant, Lambert, 1756 Vol 1, 417 p. vol 2 297p.

Zweites Gespräch

Anmerkung 4 (S.114 Zisi: „Die (Regeln) des Konfuzius…“): Voltaire zitiert die beiden Regeln aus dem Lun-yu (Buch der Gespräche), dem zweiten kanonische Buch der konfuzianischen Lehren, wie es Du Halde präsentierte. In der Übersetzung von Buch XI: „Einer bat, dass er ihn lehren möge, wohl zu sterben, so sagt er: Ihr habt noch nicht angefangen wohl, lernet dieses, so wisset ihr auch wohl zu sterben“; Buch XII: „Gehet mit anderen so um, als ihr es euch selbst von anderen wünschet“

Anmerkung 5 (S. 115 Gu: „So wird ihnen Gott erlauben böse zu sein…?)
Wie das Böse in die Welt kam, wenn doch Gott allmächtig ist, war – nicht nur im 18. Jhdt. – eine vieldiskutierte Frage. Leibniz schrieb ein ganzes Buch (die Theodizee) darüber und kommt zu dem Schluss, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen haben musste, in der das Böse eben vorkommt. Siehe dazu den Artikel Tout est bien – Alles ist gut und unsere Kommentarseite dazu.

Anmerkung 6 (S. 115 Gu: „Aber wenn ich sicher bin, dass es überhaupt keines [anderes Leben nach dem Tod] gibt?“): Das zweite Gespräch mündet in einer atheistischen Position, was im 18. Jhdt. ziemlich gefährlich war. Vielleicht deshalb wird sie von Voltaire mit dem klassischen Winkelzug der Beweisumkehr, dass der Zweifelnde beweisen soll, dass es Gott, oder ein anders Leben nicht gibt, entschärft.

Drittes Gespräch

Dieses Gespräch ist ein gutes Beispiel dafür, wie Voltaire sich hinter seinen Protagonisten versteckt, mal ist er Gu, mal ist er Zisi. Vertritt Voltaire atheistische, gotteslästerliche Meinungen? Nein, nur Gu vertritt sie (S.120)…Zisi tritt ihnen entgegen, aber schon die Antwort Gus (S.121) ist wieder eine original Voltairesche Position usw. Deshalb ist es so schwer herauszufinden, wie weit Voltaire in seiner Religionskritik wirklich ging. Deshalb waren zwei ausgewiesene Voltaire Experten Pomeau (er hält Voltaire für eine Deisten) und Bestermann (er hält ihn für einen Agnostiker) gegensätzlicher Meinung. Siehe dazu unser Exzerpt der Dissertation von Pomeau: La Réligion de Voltaire.

Anmerkung 6 (S. 116 Gu: „Ist also die Seele…selbst nichts als ein Wort?“): Siehe dazu den Artikel Âme – Seele und unsere Kommentarseite dazu, außerdem die Diskussionsbeiträge zum Thema Die Seele im 18. Jhdt.

Anmerkung 7 (S. 119 Gu: dass wir immer Vorstellungen haben, auch wenn wir schlafen): Siehe dazu den Artikel Songes – Träume,

Anmerkung 8 (S. 120 oben, Zisi: „..haben Sie einen Willen und sind frei“): Über die Freiheit des Menschen s. den Artikel De La Liberté – Über die Freiheit.

Anmerkung 9 (S. 120 unten, Zisi: „..Deshalb ist es nötig, dass das Gute und das Schlechte ihr Urteil in einem anderen Leben finden“): Diesen Gedanken äußert Voltaire an etlichen Stellen, er unterstützt die disziplinierende Funktion der Religion und hofft, dass sie hilft, die Aggressionen des Volkes einzudämmen. Über Funktion des Glaubens an eine „jüngstes Gericht“ siehe unsere Zusammenfassung von R. Pomeau, La Religion de Voltaire, S. 398-406 und den Art. Enfer -Hölle.

Anmerkung 10 (Gu: “..zweihundert Familien ehemaliger Sionous..“): Eine Stadt, in der Juden seit dem 8., 9. Jh. lebten, war Kaifeng. Sie waren über die Seidenstraße gekommen. Die dortige Synagoge wurde von einem Franzosen, dem Jesuitenpater Jean Domenge, 1722 gezeichnet. Voltaire konnte von ihrer Existenz bei Du Halde (Description de la Chine, III, 64 b) erfahren.

Viertes Gespräch


In diesem Gespräch stellt Voltaire mit Hilfe der jesuitischen Kritik an den Konkurrenzreligionen, wie sie Du Halde wiedergibt, bevor er die jesuitische Mission in den höchsten Tönen lobt, die Absurditäten nicht nur jener, sondern auch der jesuitischen Glaubenserzählungen bloß. Die chinesische konfuzianische Lehre schneidet dagegen außerordentlich gut ab.

Anmerkung 11 (S. 123 oben, Zisi: „Sie opfern [dem Shangdi] vier mal im Jahr“): Du Halde beschreibt ausführlich die Frühlingszeremonie, bei der der Kaiser wie ein Bauer die Saat mit fünf verschiedenen Körnern ausbringt, um sie im Herbst zu ernten.

Anmerkung 12 (S.123 Gu: „fette Bergweisen, die nicht betrachtet werden dürfen“): Ironische Anspielung auf den Psalm 67, Vers 17 n.d. Bibelübersetzung von Lemaistre de Sacy : https://fr.wikisource.org/wiki/Bible_Sacy/Psaumes#CH068 „Was schaut ihr bewundernd auf Berge, die fett und fruchtbar sind?“ Voltaire beginnt mit den Absurditäten des Christentums.

Anmerkung 13 (S.123 Gu: „wenn ich den Mond zum Stillstand gebracht haben werde“):
Bezieht sich auf das Alte Testament, Josua, Kap. 10, Vers 12-13 „Sonne stehe stille zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte.“

Anmerkung 14 (S.123, Gu: „Einerseits sehe ich Laotse…“): Über die sagenumwobene Geburt des Laotse und seine weißen Haare berichtet Du Halde (1735, III, 49; dt. III, S. 63 ; was die Lehre von der Vernichtung angeht, bezieht sie Du Halde in dem direkt auf Laotse folgenden Paragraphen ((1735, III, p.49; dt. III, S. 64 §116) auf Fo, d.i. Buddha: „Sehet ihr aber nicht, dass diese schöne Lehre von der Vernichtung seiner selbst, von der allgemeinen Entäußerung endlich auf eine chimärische Unsterblichkeit und auf ein solches Verlangen hinauslaufe, das nie erfüllt werden kann“.

Anmerkung 15 (S.124 Gu: „…Phantastereien von den Bonzen…“): Du Halde macht deutlich, wie die (buddhistischen) Bonzen das Volk täuschen, er beschreibt ihre Selbstkasteiungen und erzählt eine Anekdote, nach der sich ein Bonze auf einen ganz mit Nägeln besetzten Stuhl setzte und er berichtet von anderen, die sich dicke Ketten von mehr als 30 Fuß Länge um Hals und Füße hatten anbringen lassen. (Du Halde, 1735, III, 24 a + b; dt.: Du Halde III, S.32,33 §60 u. 61)

Anmerkung 16 (S.124 Mitte, Gu: „dass es besser ist, Gott mehr als den Menschen zu gehorchen“): Das ist die Antwort, die Petrus und die Apostel im Tempel dem Hohenpriester geben (Apostelgeschichte 5,29): „Haben wir euch nicht streng geboten, in diesem [christlichen] Namen nicht zu lehren? Und seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Anmerkung 17 (S.124, Zisi: „Der Shandi bewahre mich davor, in Ihnen den Geist der Toleranz …auslöschen zu wollen“): Siehe den Artikel Tolérance -Toleranz.

Anmerkung 18 (S.125, Zisi: „Die chaldäischen Priester…behaupteten, ein berühmter Hecht namens Oannes habe sie einst die Theologie gelehrt“): Oannes, halb Mensch, halb Fisch, ist ein Götterbote der babylonischen Religion aus den Anfängen der Zeit, wie von Berossos (302- v.u.Z.) berichtet und von Abbé Bannier erzählt wird. Es ist offensichtlich, dass Voltaire die Geschichte als Schablone benutzt, um sich über die scholastischen Grübeldebatten lächerlich zu machen.

Fünftes Gespräch

Anmerkung 20 (S.128, Gu: Könige die 300 Frauen haben, kommen nicht zu den Staatsgeschäften):
Das ist eine Anspielung auf den König Salomon und seine legendäre Polygamie (AT, I. Könige, 11, 3)
Während für Voltaire einerseits die Polygamie abzulehnen ist, kritisiert er ebenfalls das katholische Zölibat als gegen den prosperierenden Staat gerichtet. Der Abbé Saint-Pierre (=Charles Irénée Castel de Saint-Pierre) forderte dessen Abschaffung (Ouvrages de politique, vol 2, V. Observations politique sur le célibat des prêtres, Rotterdam 1733-1741 p.150-183)

Anmerkung 21 (S.128: Gu: 50 Eunuchen, um in der Pagode zu singen):
Wieder versteckt Voltaire seine Kritik an der Kirche, diesmal hinter dem Dalai Lama. Mit den Verstümmelten des Dalai Lama sind deutlich die Jungen gemeint, die man noch im 18. Jhdt. auf Befehl des Papstes kastrierte, um sie als Sopranisten im Chor des Vatikans einzusetzen (siehe: Ambrosini, Maria Luisa, Die Geheimen Archive des Vatikans, München Kösel, 1972, S.188 f. Der Autorin zufolge wurde die Jungen-Kastration von Benedikt XIV abgeschafft, andere bekannte Kastraten im 19. Jahrhundert deuten auf einen wesentlich längeren Fortbestand der Praxis hin. Als letzter Kastrat des Vatikans gilt ein gewisser Alessandro Moreschi, der von 1858 -1922 lebte) .

Anmerkung 22 (S.130: die Freundschaft):
Die Freundschaft gehört bei Konfuzius zu den fünf elementaren menschlichen Beziehungen und ist die einzige Beziehung unter Gleichrangigen. Siehe dazu auch den Artikel Amitié – Freundschaft

Anmerkung 21 (S.131 Zisi: „dass unsere guten Handlungen nur glanzvolle Sünden seien“):
In seinem Kampf gegen den Pelagianismus Julians spricht Augustinus (Contra Julianus Plegianus) den Ungläubigen ab, tugendhaft sein zu können. Sie haben vielleicht ihre Pflichten erfüllt, aber nicht wirklich Gutes getan, sondern ihre Taten waren alle mehr oder weniger schwere Sünden, weil ihnen der christliche Glaube fehlte. Ein schlechter Baum bringt keine guten Früchte hervor. S. dazu Johann Ernst, Augustinus gegen Julian, S.80 fff

Sechstes Gespräch

Anmerkung 23 (S.132, Zisi: Lob der Gastfreundschaft): Viele der frühen Chinareisenden berichteten über die große dort herrschende Gastfreundschaft, insbesondere die der kostenlosen Unterkünfte – Voltaire hat diese Einrichtung in das Eldorado seines Candide übernommen.

Anmerkung 24 (S.134, Sammoncodom lässt die Drachen steigen): Sammonocodom ist zwar nach der Enzyklopädie der siamesische Name für Buddha, doch soll er bereits lange vor Christi Geburt der Gott der Siamesen gewesen sein und sich in 550 Tieren inkarniert haben. Voltaire folgt dem jesuitischen Missionar Guy Tachard (Voyage de Siam, Paris 1686), der mehrfach nach Siam gereist war. Von ihm stammt die Geschichte über Sammonocodom, der Drachen steigen lässt und den Bäumen befiehlt, dabei nicht zu stören.

Anmerkung 25 (S.134, die Kamis, die vom Mond herunterkamen): Die Kamis sind im japanischen Shintoismus verehrte Geister oder Götter. Voltaire bezieht sich auf Engelbert Kaempfer (1651-1716), einer der ersten Europäer, die Japan bereisten. Er wurde Leibarzt des Grafen Friedrich Adolf zur Lippe, weshalb er nicht dazu kam, alles zu veröffentlichen. Erst nach seinem Tod wurden einige seiner Manuskripte veröffentlicht, Teile seines Nachlasses wurden vom Leibarzt des englischen Königs Sir Hans Sloane gekauft, übersetzt und als The History of Japan 1727 publiziert. Bereits 1729 erschienen die ersten Auflagen einer französischen Übersetzung und Christian Wilhelm Dom brachte 1777-79 unter dem Titel Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan bei Meyer in Lemgo eine deutsche Version heraus. Ausführlich dazu der Wikipediaeintrag Engelbert Kaempfer.

Philosophisches Taschenwörterbuch: De la Chine – Über China. (Kommentare)

Hintergrund:
Das 18. Jahrhundert war, noch kurz vor dem Erscheinen des Philosophischen Wörterbuchs Voltaires, Schauspiel einer heute fast unbekannten, sehr heftig geführten Auseinandersetzung über China. Erbitterte Angriffe gegen Chinas angeblich götzendienerische Religion wurden von christlich-fundamentalistischer Seite geführt und trugen zum Verbot des Jesuitenordens bei, weil dieser sich der geforderten Sinophobie verweigerte. Diese antichinesischen Angriffe legten auch die Wurzeln für den Hass, der China im 19. Jahrhundert während der Zeit der Kolonisierung entgegenschlug und wirken noch heute in der agressiven Ablehnung Chinas fort, weil es dem westlich eingespielten Modell einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie nicht folgt und nicht zu folgen bereit ist.

Bei der Missionierung für das Christentum war in China der Jesuitenorden besonders erfolgreich. Seit Pater Matteo Ricci (1555-1610), Pater Johann Adam Schall von Bell (1591 -1666) und viele andere Jesuiten sich in einer über 100 jährigen zähen Missionsarbeit mit ihren Kenntnissen auf den Gebieten der Geometrie, Astronomie und Mathematik das Vertrauen des chinesischen Hofes erworben hatten, ging es mit dem Christentum in China voran. Selbst Mitglieder der Kaiserfamilie waren Ende des 17. Jahrhunderts zum Christentum übergetreten und der Kaiser Kangxi höchstpersönlich erließ am 22.3.1692 ein Toleranzedikt, dass den Christen (Jesuiten) für ihre Missionstätigkeit freie Hand ließ.

Der Erfolg der Jesuiten war erstens ihren unbestreitbaren wissenschaftlichen Kenntnissen, die sich die Chinesen zunutze machten, zweitens ihrer Anpassungsbereitschaft an lokale chinesische Gepflogenheiten (z.B. der Kleiderordnung) und drittens ihrer Bereitschaft, die religiösen Riten und Gebräuche in das von ihnen den Chinesen verkündete Christentum zu integrieren (Einen kurzweilig zu lesenden Überblick über das Engagement der Jesuiten in China gibt: Fülöp-Miller, Réné, Macht und Geheimnis der Jesuiten, 1947 VMA: Wiesbaden 1960, 829 S., insb. S.350-419).

So war es auch im Falle der Chinamission: Plötzlich erschienen Pamphlete, die die Jesuiten anklagten, die christliche Lehre verwässert zu haben, indem sie den chinesischen Ahnenkult akzeptierten, die Anbetung von Ahnenbildern/-statuen tolerierten, was Götzendienst sei und schließlich, dass sie die Kreuzigung Jesus bei ihrer Verkündigung des Christentums unter den Chinesen unter den Teppich kehrten (was stimmte, denn die Jesuiten wussten sehr wohl, dass der Kreuzestod für Chinesen eine äußerst verächtliche und schmachvolle Todesart war).

Nach Jahren der Mißwirtschaft in Frankreich war die Monarchie geschwächt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gewann die Kirche wieder stärkeren Einfluß auf den Hof. Sie hatte direkten Kontakt zum König über den am Hof installierten königlichen Beichtvater (einen Jesuiten), der 1670 sogar das Recht erhielt, Kandidaten für sämtliche neu zu besetzenden Kirchenstellen vorzuschlagen. Sie nutzte den Zuwachs an Einfluss sofort, um die ihnen verhassten Hugenotten einer heftigen Verfolgungswelle zu unterziehen. Aber sie überspannten den Bogen und gingen auch gegen die Janseninsten vor, die im absolutistischen Machtapparat sehr viel besser verankert waren. So kam es, dass am Ende der Jesuitenorden selbst als Gefahr für den Absolutismus gesehen wurde und 1764 in Frankreich, aber auch in Portugal und in Spanien verboten wurde. Das war praktisch: man zeigte dem Papsttum seine Grenzen, attackierte „nur“ seinen wichtigsten Orden und ermöglichte so der Kirche, sich durch taktische Manöver aus dem Schussfeld zu nehmen, wobei sie auch nicht davor zurückschreckte, die Jesuiten, denen sie so viel zu verdanken hatte, durch Dominikaner und Franziskaner angreifen zu lassen.
Die Kampagne gegen die Jesuiten gipfelte schließlich in der Aufhebung des Jesuitenordens durch den Vatikan im Jahr 1773 und in allen katholischen Ländern Europas.

Voltaire bezieht sich auf den Bericht des Jesuiten Daniel Louis le Comte (1655 – 1728) (zu le Comte s. frz. Wikipediaartikel , mit einer Beschreibung der von Ludwig XIV. unterstützten jesuitischen Mission) , der seine Erfahrungen als christlicher Missionar in China in dem 1696 erscheinen Werk Nouveau mémoire sur l’état présent de la Chine veröffentlichte und damit großes Aufsehen erregte, vor allem, weil er behauptete, die Chinesen hätten die wahre Religion bereits viele Jahre vor dem Christentum entdeckt. Sein Werk wurde 1762, also zwei Jahre vor dem Erscheinen des Philosophischen Taschenwörterbuchs, in Paris auf höchstrichterlichen Entscheid verbrannt.
1698 erschien von Pater Charles le Gobien (1652 – 1708) Nouveaux mémoires sur l’état présent de la Chine, Paris 1698, III.[1-2]. Diese Schrift wurde am 18. 10.1700 durch die Theologischen Fakultät in Paris zensiert, weil le Gobien die chinesische Ahnenverehrung nicht verdammte.
Von 1709 – 1743 veröffentlichte Jean Baptiste du Halde (1674 . 1743) seine Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l’empire de la Chine et de la Tartarie chinoise mit zahlreichen Karten und gezeichneten Darstellungen chinesischer Orte. Dt: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey. Johann Christian Koppe, Rostock 1747–1756, Band I 1747, Band II 1748, Band III 1749, Band IV 1749, Zusätze 1756. Das Werk ist gewissermaßen die Zusammenfassung der über 100 jährigen Missionstätigkeit der Jesuiten in China, du Halde war zwar selbst nie in China, er verarbeitete jedoch die Berichte seiner Ordensbrüder zu einem sehr publikumwirksamen Werk. Es blieb bis in das 19. Jahrhundert hinein das maßgebliche Standardwerk über China und beeinflusste die Diskussion über die chinesische Welt. Er achtete sorgsam darauf, die chinesische Kultur der europäischen stets unterzuordnen. Darin folgte ihm auch Denis Diderot , der in seinem Artikel „Chinois“ der Enzyklopädie v. 1753 behauptet, China sei rückständig, stehengeblieben und nur durch die europäischen Missionare wieder zu neuem, fortschrittlichen Wissen gelangt.

Die aufgeklärten Kreise in Frankreich und auch Deutschland diskutierten leidenschaftlich die Frage, ob und wie es sein könne, dass eine Gesellschaft wie die Chinesische über Jahrhunderte existierte, ohne wirklich an einen Gott zu glauben, ohne eine zentrale Religion zu haben. Pierre Bayle (Dictionnaire historique et critique, 2. Ausgabe von 1702) nahm China als Beispiel für eine Gesellschaft von Atheisten, die funktionierte, also ohne Religion auskam. Das brachte die christlichen Gegner zur Weißglut. Als Professor Christian Wolff (siehe dazu die Biographie: H. J. Kertscher, Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff – eine Biographie, Halle: mdv, 2018: dazu unsere Rezension) am 12. Juli 1721 in einem Vortrag auf Latein mit dem Titel „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ in Halle ähnliches vertrat, waren seine Tage gezählt, die Pietisten um den Pfarrer Lange ruhten nicht, bis sie Wolff am 23 November 1723 außer Landes getrieben hatten (Es war 1740 eine der ersten Amtshandlungen Friedrichs des Großen, Wolff aus dem Exil zurückzurufen).

Man kann von einer wahren Chinabegeisterung im 18. Jahrhundert sprechen, chinesisches Porzellan, chinesische Seide, chinesische Tees waren gefragte und sehr teure Artikel bis hin zu Gebäuden im chinesischen Stil, wie sie noch heute die zahlreich vorhandenen Chinapavillons in den Schlossparks zeugen (etwa im Garten von Sans Souci in Potsdam). Während die klerikal-christlichen Kreise nach dem Ende der Jesuitenmission China verteufelten, wendete sich die Aufklärung China positiv zu.

Voltaire hatte bereits 1751 in seinem Siècle de Louis XIV (Kapitel 39) über die Feindseligkeiten gegen die erfolgreiche Missionstätigkeit der Jesuiten berichtet, die am Ende dazu führten, das sich China angeekelt vom Christentum abwandte.

1756 waren die ersten beiden Kapitel seines Essay sur les moeurs, mit dem er nichts weniger als die erste, nicht von christlicher Heilslehre verunreinigte Weltgeschichte publizierte, China gewidmet. Dieses umfassende, bis zu Ludwig XIII. im 17. Jhdt reichende Geschichtswerk, beginnt nach einem Vorwort mit der Geschichte Chinas und behandelt im zweiten Kapitel die chinesische Religion. Nach Voltaire resultiert die Zuschreibung Chinas als atheistische Kultur auf der Unart des Christentums, alles, was nicht seiner Lehre entspricht, als gottlos und als atheistisch zu verdammen:
„Wir haben die Chinesen nur deshalb verleumdet, weil ihre Metaphysik mit der unseren nicht völlig übereinstimmt. Wir hätten aber zwei ihrer Vorzüge bewundern sollen, nämlich, dass sie sowohl den Aberglauben der Heiden, als auch die Sitten der Christen verabscheuten“ (2.Kap., S. 34).

Er hält China nicht für eine Gesellschaft von Atheisten, denn die Zuschreibung „atheistisch“ sei falsch. Nach Voltaire hätten die Chinesen getreu der konfuzianischen Lehre doch an einen allmächtigen, hinter dem Kaiser stehenden Gott geglaubt. Der Essay sur les moeurs war im Übrigen das allererste Werk der Neuzeit, das die Geschichte der Welt nicht auf den europäischen Kontinent beschränkte und anerkannte, dass lange vor der europäischen Zivilisation in China eine dieser deutlich überlegene Hochkultur existierte.
Die Größe der chinesischen Kultur ist auch Thema in Voltaires Theaterstück „L’Orphelin de la Chine“ (1755), in dem der grausame Mongolenherrscher Dschingis Khan die Überlegenheit Chinas über das barbarische mongolische Reitervolk anerkennt.

Quellen:
– Voltaire, Oeuvres complètes, Oxford: Voltaire Foundation, 1968 – 2022, 205, hier: Bd. 35
Etiemble, René, L’Europe Chinoise, Bd. 2: De la sinophilie à la sinophobie, Paris: Gallimard, 1898, 408 p.
Tricoire, Damiens, Von der Sinophilie zur Sinophobie?: aufklärerische Geltungsansprüche und Chinabilder im 18. Jahrhundert, in: Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 67, S.151-172
Pinot, Virgile, La Chine et la Formation de l’Esprit Philosophique en France (1640-1740), Paris: Geuthner, 1932, 480 p.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.104, erster Absatz: „…dass sie zum frischgebackenen Adel gehörten…”): Bis 1727 musste man in Frankreich, um Staatssekretär zu werden, das Amt kaufen. Derjenige, der es kaufte, wurde sogleich geadelt, weshalb das Verfahren auch als „Gemeinenseife“ bezeichnet wurde. Deshalb gab es auch den netten Spruch: „Hätte Adam nur ein Quentchen Verstand besessen, er hätte sich das Amt des königlichen Staatssekretärs gekauft und die ganze Menschheit wäre adlig geworden“ (H. Méthivier, L’Ancien régime en France, Paris 1981, S. 80, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, S. 530).

Anmerkung 2 (S. 105, erster Absatz und ff: „…ihn [Wolff] zu beschuldigen, dass er nicht an Gott glaube..“): Im Vorwort zu Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) findet sich folgende Anmerkung: „So hat der Doktor Lange den respektablen Wolff als Atheisten tituliert, weil er die Moralität der Chinesen gelobt hatte; und als Wolff sich auf das Zeugnis der Jesuitenmissionare in China berief, antwortete der Doktor: ‚Weiß man denn etwa nicht, dass die Jesuiten Atheisten sind?’“. nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 14, S. 532

Anmerkung 3 (S. 105, zweiter Absatz: „…die Regierung in Peking sei atheistisch..“): Noch 1730 war Voltaire der Annahme von Pierre Bayle (Dictionnaire historique et critique, 2. Ausgabe von 1702) vom Atheismus der gebildeten Chinesen gefolgt. 1755 jedoch schreibt er in Bezug auf China in einer seiner Tagesnotizen (Oeuvres complètes, 1968, 81, S.135): „Es gibt [in China] Atheisten, doch die Regierung ist nicht atheistisch und kann es nicht sein“. nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 15, S. 533

Anmerkung 4 (S. 106 zweiter Absatz „…dass dort die Gesetze herrschten.…“): Nach Du Halde setzte Fuhi einen ersten Minister ein und teilte die Regierung des Reiches unter vier Mandarine auf: „So erlebten seine Gesetze eine Blütezeit“. (Description de la Chine, I.272-73, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 21, S. 536).

Anmerkung 5 (S. 106 zweiter Absatz „…und all die anderen Künste.…“): Im Essai sur les moeurs, erinnert Voltaire daran, dass die Chinesen seit zweitausend Jahren, lange vor den Persern, den Buchdruck erfunden haben und gelernt haben, Glas herzustellen; dass sie mit dem Hammer geprägte Münzen aus Gold und Silber hatten.

Anmerkung 6 (S. 106 dritter Absatz „…seltsame Berechnungen.…“): Denis Petau (1583-1652), damals ein berühmter Chronologe und Historiker in Paris, hatte berechnet, dass ein einziger Sohn Noahs eine Rasse hervorbrachte, die nach zweihundertfünfundachtzig Jahren sechshundertdreiundzwanzig Milliarden und sechshundertzwölf Millionen Menschen zählte. Voltaire: „Die Rechnung geht ein bisschen zu weit“ La Philosophie de l’histoire, Kap. 24, in Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation Bd. 59, S. 172).

Anmerkung 7 (S. 106 dritter Absatz, Ende „…wie wenig sich die Menschheit doch vermehrt.…“): Montesquieu u.a. behaupteten, die Bevölkerung der Erde im achtzehnten Jahrhundert sei zehnmal geringer als die primitive und dreißig mal geringer als die zu Zeiten Cäsars (Lettres persanes, CXIII). Voltaire bezweifelte diese Theorie: anstelle eines Bevölkerungsrückgangs schlägt er eine kontinuierliche Zunahme vor, die sich dem von der Menschheit gemachten materiellen Fortschritt verdankt, und geht so auch auf Abstand zu der These von Damilaville (in seinem Artikel ‚Population’ für die Enzyklopädie), für den die Weltbevölkerung immer ungefähr gleich geblieben ist. In den Augen Voltaires kann die Bevölkerungszunahme nur sehr langsam vonstatten gehen: die Kindersterblichkeit betrifft zumindest ein Drittel der Geburten; sie kann diese sogar um die Hälfte reduzieren. Questions sur l’Encyclopédie, 1770, Art. Population, (Œuvres compl. 1877-85, XX.247-48)

Anmerkung 8 (S. 107 oben „…Mandarine Stockschläge.…“): „Wie gefürchtet auch die Autorität dieser Mandarine sein mag, sie können kaum ihre Stellen beibehalten, wenn sie nicht in dem Ruf stehen, ein Vater des Volkes zu sein und nach nichts anderem als nach seinem Glück zu streben. […] Ein Mandarin, der zu streng wäre und bei dem man nicht diese Zuneigung zu dem Volk, das ihm unterstellt ist, bemerkte, würde mit Sicherheit negativ in den Berichten erwähnt werden, die alle drei Jahre von den Vizekönigen an den Hof gesendet werden, und diese Bemerkung wäre ausreichend, um ihn seine Stelle zu kosten“ (Du Halde, Description de la Chine, II, 31, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 32, S. 540)).

Anmerkung 9 (S. 107 oben „…die einzige Verfassung, die Preise für die Tugend ausgesetzt hat.…“): Im Essai sur les moeurs (Ende des 1. Kapitels) bringt Voltaire dazu folgende Anekdote „Vor einiger Zeit fand ein armer Bauer namens Chicou einen Beutel voller Gold, den ein Reisender verloren hatte. Er reiste bis in die Provinz des Reisenden und übergab den Beutel dem Magistrat des Kantons, ohne etwas für seine Mühen zu wollen. Der Magistrat, bei Strafe, abgesetzt zu werden, war verpflichtet, das Oberste Gericht in Peking zu benachrichtigen; dieses Gericht war verpflichtet, den Kaiser zu benachrichtigen, und der arme Bauer wurde zum Mandarin der fünften Ordnung ernannt, denn es gibt Mandarinsstellen für Bauern, die sich in der Moral auszeichnen, wie auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft am erfolgreichsten sind. Man muss zugeben, dass man bei uns diesen Bauern nur dadurch ausgezeichnet hätte, dass man ihm eine höhere Steuer auferlegt hätte, weil man der Meinung war, dass es ihm wohl ergehen müsse.“

Anmerkung 10 (S. 107 zweiter Absatz „…geben wir auch noch zu.…“): All die hier von Voltaire angeführten Beispiele bringt Du Halde als Beleg für die Überlegenheit der europäischen Kultur, an der Voltaire durchaus zweifelt. (siehe auch: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 39, S. 542)

In eigener Sache: Facebook-Seite der Voltaire-Stiftung am 18.11.2022 gesperrt

Bereits 2021 wurde die facebook-Seite der Voltaire-Stiftung ohne Angabe von Gründen gesperrt. Durch anwaltlichen Beistand konnte facebook gezwungen werden, die Seite 10 Monate später (!) wieder zu aktivieren. Jetzt wurde uns wieder mitgeteilt: „Dein Konto wurde deaktiviert“. Eine Begründung? Fehlanzeige.
Die Voltaire-Stiftung wird gegen diese bösartige facebook Maßnahme nicht noch einmal den teuren Rechtsweg beschreiten und stattdessen zu Telegram wechseln. Unseren Voltaire Telegram Kanal können Sie über folgenden Link erreichen:
https://t.me/s/voltaire_stiftung
Wer kein Telegram Konto hat, kann die Beiträge wenigstens lesen (nicht aber kommentieren).

Wie auch bisher schon, werden wir auf dem Voltaire-Blog Beiträge rund um Voltaire veröffentlichen und seine, angesichts einer immer weitgehenderen Einschränkung der Meinungsfreiheit, immense Aktualität aufzeigen.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Certain, Certitude – Gewiss, Gewissheit. (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaire bezieht sich in seinem, in Anbetracht der Bedeutung dieser zentralen philosophischen Fragestellung nach der Gewissheit menschlicher Erkenntnis, sehr kurzen Artikel kritisch auf den 1752 im zweiten Band der Enzyklopädie erschienenen, dagegen sehr langen (26 seitigen) Artikel Gewissheit (frz.:Certitude, engl.:Certainty) des Abbé de Prades. Jean-Marie de Prades (1720-1782), der mit Diderot befreundet war, hatte in seiner Dissertation zu zeigen versucht, dass man sogar auf Grundlage der sensualistisch-empirischen Grundthese Lockes („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“), die biblische Behauptung, dass Jesus Wunder getan habe, rechtfertigen kann. Er war mit dieser Idee auf den erbitterten Widerstand der Kirche gestoßen, die keine Ruhe gab, bis man de Prades sämtliche universitären Titel aberkannt und ihn 1752 außer Landes vertrieben hatte (Friedrich der Große nahm ihn als seinen Vorleser in Berlin auf und rettete ihn vor dem sicheren Untergang).
Die Kirche lehnte den Empirismus-Sensualismus als Irrlehre ab, insbesondere, weil er den christlichen Glauben an eine vernunftbegabte, von Gott eingepflanzte Seele ablehne, die alleine den Menschen von einem Tier und von einer Maschine unterscheide. Eine Position, die sie, Descartes missbrauchend, an den französischen Universitäten als allein gültige Lehre durchgesetzt hatte.
In seinem Enzyklopädie-Artikel Certitude versucht de Prades nun eine Art Kombinationslehre von Zeugenaussagen zu liefern und behauptet, dass eine Tatsachenbehauptung um so glaubwürdiger sei, je mehr Menschen (also tout Paris) davon berichteten. Auch Erzählungen über Wundertaten erscheinen ihm als belegt, wenn nur die Berichtenden glaubwürdig waren. So kommt er – auch darin John Locke folgend – schließlich zur Einschätzung, dass die Evangelien hohe Glaubwürdigkeit beanspruchen könnten, weil viele ernsthafte Menschen zu biblischen Zeiten über das Leben Jesus berichtet hätten und widerspricht damit dem Herausgeber Diderot. Diderot hält (in seinen Pensées philosophiques) weder die Evangelien, noch Berichte über Wunder, noch Tatsachenberichte bloß deshalb für glaubwürdig, weil sie von Vielen geteilt werden. Eine höhere Anzahl von Zeugen erhöht die Glaubwürdigkeit einer Aussage nicht (siehe unten, Anmerkung 6).

John Locke An Essay Concerning Human Understanding (1689 dt.: Versuch über den menschlichen Verstand)
Zur Gewissheit der Offenbarung:
„Nehmen wir zum Beispiel an, vor einigen Generationen wäre geoffenbart worden, dass die Summe der drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sei. Nun könnte ich der Wahrheit dieses Satzes auf Grund der Glaubwürdigkeit der Überlieferung, dass er geoffenbart worden sei, zustimmen. Diese würde mir jedoch nie eine ebenso große Gewissheit geben, wie die Erkenntnis der Wahrheit auf Grund einer Vergleichung und Messung meiner eigenen Ideen von zwei rechten Winkeln und der drei Winkel eines Dreiecks“ (Essay, Kap.4, §22).
und :
„Daher kann kein Satz als göttliche Offenbarung anerkannt werden, ..wenn er unserer klaren intuitiven Erkenntnis widerspricht“ (z.B. dass derselbe Körper nicht gleichzeitig an zwei Orten sein kann). (Essay, Kap.18, §5)
Locke setzte sich damit in diametrale Opposition zur katholischen Lehre, die bereits im 5. Laterankonzil (1512–1517) festgelegt: hatte, dass kein Satz in der Philosophie wahr sein kann, wenn er im Gegensatz zur christlichen Glaubenslehre steht. Die Kirche fügte das Werk ab 1737 ihrer Liste der verbotenen Bücher hinzu.

David Hume (1711-1764): An Enquiry Concerning Human Understanding. (1748), dt. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand).
Zur Gewissheit von Erfahrungstatsachen:
Wenn eine Billardkugel mittig auf eine zweite trifft, wird diese sich wegbewegen, während jene zum Stehen kommt. Zwar wird man sagen, dass die Fortbewegung der zweiten mit diesem Stoß in Zusammenhang stand, aber kann man auch sagen, dass das Auftreffen der ersten die Fortbewegung der zweiten bewirkte und falls ja, wäre man berechtigt, diese Wirkung als notwendige oder das ganze gar als einen gesetzmäßigen Ursache-Wirkungszusammenhang zu bezeichnen? (Enquiry, E61)
Und außerdem: „Bei einigen Ereignissen hat es sich gezeigt, dass sie beständig in Verbindung stehen; andere zeigten sich als veränderlicher und manchmal unsere Erwartungen enttäuschend, so dass es in unserem Urteil über Tatsachen alle erdenklichen Grade der Sicherheit gibt, von der höchsten Gewissheit bis zur niedersten Art moralischer Evidenz (Enquiry, Über Wunder, E90).
Hume hatte die zweifelhafte Ehre, dass ab 1761 alle seine Werke auf die Liste der verbotenen Bücher der Catholica kamen.
Voltaire besaß die Werke Humes im Original, teilweise auch in französischer Übersetzung und stand seinen Auffassungen sehr nahe.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.81, Ein falscher Taufschein: „Sie haben immer noch Gewissheit von etwas, das nicht so ist“): Schriftliche Dokumente können keine absolute Gewissheit beanspruchen, sie kommen über eine bestimmte Wahrscheinlichkeit nicht hinaus.
Voltaire bezieht sich auf Pierre Bayle, dessen historische Quellenkritik Vorbild für die Geschichtsschreibung Voltaires und für die Aufklärung insgesamt war (vgl. dazu: Sandra Richter, Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv (pdf), Zeitschrift für Ideengeschichte, 2019).
Auch Voltaires eigener Taufschein enthielt im Übrigen eine falsche Geburtsangabe. War er nach eigener Aussage am 20.2.1694 geboren, so trägt sein Taufschein, dem die meisten seiner Biographen folgen, das Datum 21.11.1694.

Anmerkung 2 (S.81, dritter Absatz: „Ist die Sonne aufgegangen, ist sie untergegangen?“): Für Ptolemäus (Almagest, 140 n.u.Z.) schien es evident, dass sich die Sonne um die Erde dreht, weil sie offensichtlich im Laufe eines Tages über den Himmel wandert (geozentrisches Weltbild).
Erst Kopernikus bewies, dass das Gegenteil richtig ist. Und Newton lieferte durch die Entdeckung der Gravitationsgesetze (auf das Weltall angewendet) die mathematischen Grundlagen zur Berechnung der Planetenbewegungen. Voltaire hatte Newtons Werk zusammen mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet in Frankreich bekannt gemacht (Elemente der Philosophie Newtons (1748), siehe hier insb. Abschnitt 3.4. „Dass die Gravitation und die Anziehung den Lauf aller Planeten lenken“).
Den Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild erläutert allgemeinverständlich: https://astrokramkiste.de/heliozentrisches-weltbild.

Anmerkung 3 (S.81, vierter Absatz: „Die Zauberei, das Wahrsagen…sind die sicherste Sache der Welt gewesen“): Voltaire bezieht sich auf David Humes Enquiry (Kapitel X, „Über Wunder“).

Anmerkung 4 (S.82, zweiter Absatz: „…doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig“):
John Locke: „Alle mathematischen Ausführungen über die Umwandlung eines Kreises oder Kegelschnittes in ein Viereck oder über andere Theile der Mathematik beziehen sich nicht auf das Dasein dieser Gestalten, vielmehr bleiben ihre Beweise, die nur von ihren Vorstellungen bedingt sind, unverändert gültig, mag ein Kreis oder Viereck in der Welt bestehen oder nicht“ (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §8).
Und auch Hume unterscheidet die Aussagen in der Geometrie (Satz des Euklid), Algebra und Arithmetik, die durch bloße Denktätigkeit geprüft werden können, deren Gewissheit unabhängig davon bestehen bleibt, „ob im Weltall etwas existiert“ von Tatsachen- oder Existenzbehauptungen. Eine Tatsache kann sein oder nicht sein, auch das Gegenteil kann stimmen, ohne dass es zu einem Widerspruch käme. So ist diese Art von Aussagen stets mehr oder weniger wahrscheinlich. Aussagen in der Geometrie können dagegen absolute Gewissheit beanspruchen (Enquiry, E41).

Anmerkung 5 (S.82, dritter Absatz: „Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz“):
John Locke: „Die Gewissheit der inneren Wahrnehmung ist der geometrischen ebenbürtig.
Denn nichts kann offenbarer für uns sein als das eigene Dasein. Ich denke, ich überlege, ich fühle Lust oder Schmerz; kann all dies offenbarer für mich sein als das eigene Dasein? Selbst wenn ich alles Andere bezweifle, so lässt mich dieses Zweifeln mein eigenes Dasein wahrnehmen und daran nicht zweifeln. Denn wenn ich Schmerz empfinde, so habe ich offenbar eine ebenso sichere Wahrnehmung von meinem eigenen Dasein, wie von dem gefühlten Schmerz; und wenn ich weiß, dass ich zweifle, so habe ich eine ebenso sichere Wahrnehmung von dem zweifelnden Dinge, als von dem Gedanken, den ich Zweifel nenne. So lehrt uns die Erfahrung, dass wir ein anschauliches Wissen von unserm eigenen Dasein haben, und eine innere untrügliche Wahrnehmung, dass wir sind. Bei jedem einzelnen Fühlen, Denken oder Überlegen sind wir uns des eigenen Seins bewusst, und hier fehlt uns nichts an der höchsten Gewissheit“. (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §3).

Anmerkung 6 (S.82, vierter Absatz:„Mit der Gewissheit, die durch Augenschein übermittelt wird… ist es nicht dasselbe“):
Voltaire folgt hier John Locke und David Hume die sich mit der Gewissheit von Aussagen über die Außenwelt beschäftigten. Sie können mehr oder minder wahrscheinlich sein. Nach Hume sind Berichte über Wunder abzuweisen, wenn sie den mit höchster Wahrscheinlichkeit versehenen menschlichen Grunderfahrungen widersprechen -und das tun sie in aller Regel.
Voltaire widerspricht damit explizit auch de Prades, der in seinem Enzyklopädie-Essay den Anhängern des Skeptizismus zurief: „Ihr erkennt die Existenz der Stadt Rom an, an der Ihr nicht zweifeln könnt“ und damit bewiesen zu haben glaubte, dass auch Aussagen über die Außenwelt absolute Gewissheit beanspruchen könnten.
Diderot hatte zur Bedeutung der großen Zahl von Zeugen geschrieben (Pensées philosophiques (XLVI )): „Ein ganzes Volk, werden Sie sagen, ist Zeuge dieser Tatsache und Sie wagen es, sie zu leugnen? Ja, ich traue es mich, solange sie mir nicht durch die Autorität von jemandem bestätigt wird, der nicht zu Ihrer Partei gehört, und ich nicht weiß, dass dieser jemand unfähig zu Fanatismus und Verführung war. Mehr noch: Wenn mir ein Autor von ausgewiesener Unparteilichkeit erzählt, dass sich in der Mitte einer Stadt ein Abgrund auftat; dass die Götter, die zu diesem Ereignis befragt wurden, antworteten, dass er sich wieder schließen werde, wenn man das Wertvollste, was man besitzt, hineinwirft; dass ein tapferer Ritter sich selbst hineinstürzte und dass sich dadurch das Orakel erfüllte: Ich werde ihm viel weniger glauben, als wenn er einfach gesagt hätte, dass sich ein Abgrund auftat und man viel Zeit und Arbeit verwendete, um ihn wieder zu füllen. Je weniger wahrscheinlich eine Tatsache ist, desto mehr verliert das Zeugnis der Geschichte an Gewicht. Ich würde ohne weiteres einem einzigen ehrlichen Mann glauben, der mir mitteilt, dass Seine Majestät soeben einen vollständigen Sieg über die Alliierten errungen hat; aber wenn mir ganz Paris versichern würde, dass in Passy ein Toter wieder zum Leben erwacht ist, würde ich das nicht glauben. Ob ein Historiker uns etwas aufdrängt oder ein ganzes Volk sich irrt, macht es nicht zum Wunder“ (dt., übers. Correspondance Voltaire).

Anmerkung 7 (S.83, erster Absatz: „Man hat in der Enzyklopädie eine sehr amüsante Geschichte abgedruckt“):  Voltaire verweist am Ende seines Artikels explizit auf den Adressaten seiner Ausführungen zum Thema Gewissheit. Dass er de Prades sehr schonend kritisiert, mag man der Tatsache zuschreiben, dass dieser als Opfer der katholischen Kirche 1752 nach Preußen geflüchtet war und nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren durfte.

Anmerkung 8 (S.83, letzter Absatz:„Der andere Autor… schreibt gegen sich selbst und wollte auch lachen“): Dieser andere Autor ist Diderot, der als Herausgeber der Enzyklopädie den Artikel Gewissheit von de Prades in seiner Vor- und Nachbemerkung zustimmend, überschwänglich positiv kommentiert, obwohl de Prades Argumentation der seinigen diametral entgegengesetzt ist. Voltaire interpretiert dies als ironische Scharade Diderots.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Caractère – Charakter. (Kommentare)

Hintergrund:
Wenn Voltaire als „homme de théâtre“ davon ausging, dass jeder Mensch natürlicherweise einen unveränderlichen Charakter hat, war er mit der Kirche weitgehend einig, wenngleich diese ihn nicht für Naturgegeben, sondern für Gottgegeben (nach Augustinus durch die heiligen Sakramente verliehen) hielt.
Folgender Definition aus der Encyclopédie (Art. Caractère dans les personnages) hätte er sicherlich zugestimmt: „Le caractère […] n’est donc autre chose qu’une passion dominante qui occupe tout à la fois le coeur & l’esprit ; comme l’ambition, l’amour, la vengeance, dans le tragique ; l’avarice, la vanité, la jalousie, la passion du jeu, dans le comique. (dt.: Der Charakter […] ist daher nichts anderes als eine dominante Leidenschaft, die sowohl das Herz als auch den Verstand beherrscht; wie Ehrgeiz, Liebe, Rache, in der Tragödie; Geiz, Eitelkeit, Eifersucht, Leidenschaft für das Spiel in der Komödie).
Andererseits kannte Voltaire gewiss das Werk Les Caractères (1699) von La Bruyère (1645 – 1699), das mit einer Übersetzung der Charakterologie von Theophrast (371 – 287 v.u.Z), einem Schüler des Aristoteles, beginnt und zahlreiche, als Charaktere bezeichnete Persönlichkeitseigenschaften aufzählt, (z.B. Zerstreutheit, Schmeichelei, Geiz…), er folgte aber eher der systematischen Charakterkunde Galenus von Pergamon (130 -200 u.Z.), der lehrte, dass es vier Typen von Temperamenten gebe (Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker).
Eine weiterführende Zusammenfassung zur Begriffsgeschichte in der Philosophie gibt Robert Eisler (1882-1949) in seinem Handwörterbuch der Philosophie , Artikel Charakter.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.78, vierter Satz: kann ich auf den Charakter einwirken, den die Natur mir gegeben hat?): Die Frage, wie man zu seinem Charakter käme, wurde, darin Galenus folgend, entweder der Natur zugeschrieben, oder aber gesellschaftlichen Einflüssen und denen der Erziehung. Eine Position, die mit dem Namen Rousseaus verbunden ist, obwohl auch er von einem natürlicherweise vorhandenen Charakter des Menschen ausgeht, den man in der Erziehung erkennen und – eben als naturgegeben – nicht unterdrücken soll.

Anmerkung 2 (S.78, unten: Doch wenn Franz I sich mit Physiognomien auskennt..): Das Werk Les Charactères des Passions von Martin Cureau de la Chambre (1594 – 1669), in dem er Gefühle wie Hass, Leid, Mut, Trauer, Furcht, Hoffnungslosigkeit untersucht, und sein L’Art de connoistre les hommes bereiten den Weg zur Psychologie unserer Zeit. Er beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Leidenschaften eines Menschen erkennen lassen:
„Celui qui donnait avis de consulter son miroir dans la colère, avait raison de croire que les Passions se devaient mieux connaître dans les yeux que dans l’âme même“ (Wer im Zorn die Meinung seines Spiegels einholen wollte, hätte Grund zu der Annahme, dass sich Gefühle besser in den Augen als in der Seele erkennen lassen)
nach: Florence Dumora, Topologie des émotions. Les Caractères des passions de Marin Cureau de La Chambre, in: Littératures classiques 2009/1 (N° 68), pages 161 à 175

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Philosophisches Taschenwörterbuch: Bornes de l’ésprit humain – Grenzen des menschlichen Geistes. (Kommentare)

Hintergrund:
Die Philosophie der Aufklärung wendet sich gegen das jahrhundertelang praktizierte Verfahren, aus allgemeinen Begriffen die Wirklichkeit abzuleiten („universalia realia sunt“), vom Allgemeinen auf das Besondere zu schließen. David Hume (1711-1776) führte in seinen epochalen Werken Treatise of Human Nature (1739) und Enquiry Concerning Human Understanding (1748) die menschliche Fähigkeit, Vorgänge nach Ursache und Wirkung zu unterscheiden, auf die empirischen Erfahrung der Menschen, aus der sie induktiv auf die Ursache eines Phänomens schließen, zurück und lehnte die Annahme eingeborener Ideen oder Kategorien ab (Kap.4. Enquiry). In Frankreich war es vor allem Étienne Bonnot de Condillac (1714.1780), der in seinem Werk Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis (erste Ausgabe 1746) das Einfachste, von dem man auf der Suche nach der Wahrheit ausgehen müsse, in der sinnlichen Wahrnehmung und nicht in den Denkvorgängen sah, die nur allzuoft Fehler und Vorurteile enthalten.
Voltaire war schon sehr früh derselben Ansicht (Drama Ödipus 1719): „Vertrauen wir nur uns selbst, sehen wir alles mit unseren eigenen Augen. Sie sind unsere heiligen Gefäße, unsere Orakel, unsere Götter“. Der kurze Artikel bezieht vor allem Position gegen René Descartes‘ (1596-1650) Rationalismus, dessen Auffassungen von Materie und Geist in Frankreich unter den Gebildeten immer noch vorherrschend waren. An sie richtet Voltaire in diesem Artikel das Wort und fordert sie auf, den Weg zur Befreiung von religiöser Bevormundung, zur Überwindung der Grenzen des menschlichen Geistes weiterzugehen.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.77, zweiter Satz: Wie dein Arm und dein Fuß Deinem Willen gehorchen): In seinem „Discours sur la Methode“ (5.Teil) sagt Descartes über die „Lebensgeister“ (ésprits), dass durch deren Verteilung in den Muskeln die Glieder des Körpers sich verschieden bewegen.

Anmerkung 2 (S.77, dritter Satz: Wie sich das Kind in der Gebärmutter bildet): Über die Frage, wie Leben entsteht, war im 18. Jahrhundert eine lebhafte Diskussion im Gange. Die Präformationstheorie besagte, dass in der Eizelle – oder im Sperma  – der fertige Mensch (ein Homunculus) mit all seinen Organen enthalten sei und nur noch wachsen müsse. Voltaire glaubte dagegen an eine Entwicklung aus einem seit jeher bestehenden Bauplan (Epigenese: Die Organe werden während der Entwicklung neu gebildet), er folgte darin seinem Zeitgenossen, dem berühmten Biologen Georges Buffon (1707 – 1788) der  in seinem Werk Allgemeine Naturgeschichte, Zehntes Kapitel: Von der Bildung der Leibesfrucht (1749).die Homunculustheorie ablehnte.

Anmerkung 3 (S.77, zweiter Absatz: Wie das Weizenkorn wächst): Voltaire spielt hier auf den Fall des von der Inquisition in Toulouse auf dem Scheiterhaufen verbrannten Lucilio Vanini (1585-1619) an, der mit dem Weizenkorn-Beispiel die Existenz Gottes beweisen wollte.  

Anmerkung 4 (S.77, zweiter Absatz: wie die Erde einen Apfel oben auf diesem Baum hervorbringt): Auch dies ist ein Hinweis auf den Biologen Georges Buffon. Er beschrieb in seiner Allgemeinen Naturgeschichte (Zweites Kapitel: Von der Hervorbringung seines Gleichen überhaupt), wie man sich die Fortpflanzung von Pflanzen vorzustellen habe.

Anmerkung 5 (S.77, letzter Satz: Deine Devise ist: Was weiß ich nicht): Das ist der rote Faden in den Meditationen von Descartes, an allem zu zweifeln: „Was also bleibt Wahres übrig? Vielleicht nur das Eine, dass nichts gewiss ist“ (Meditationen, II, 2). In ihrer Anmerkung zu dieser Stelle meint die Voltaire-Foundation, es könnte mit dem angesprochenen „hochnäsigen Dummkopf“ der Literat Jean-Jacques Lefranc de Pompignan gemeint sein, der, als Nachfolger des verstorbenen Maupertuis, in seiner Antrittsrede 1760  zu seiner Aufnahme in die Académie française die Enzyklopädisten massiv angegriffen hatte.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Tout est bien – Alles ist gut. (Kommentare)

Hintergrund:
Folgt man der christlichen Lehre, ist der Mensch seit der Erbsünde (die Sache mit Adam und Eva) auf ewig verdammt, sein Erdenleben eine Bestrafung und der Tod eine unsichere Erlösung. Wo einer lebte, arbeitete, wann einer starb, war von der Vorsehung bestimmt und es gab keine individuelle Freiheit. Dass das Erdenleben eine Bestrafung ist, werden Viele als übereinstimmend mit ihren Lebensverhältnissen empfunden haben, nicht aber ein selbstbewußter Bürger des 18. Jahrhunderts. Wie es mit dem Glauben an einen allmächtigen Gott vereinbar ist, dass wir schwere Krankheiten erleiden, dass Kriege geführt werden, dass ersichtlich rücksichtslose und ungehobelte Menschen in Reichtum leben, während gutgesinnte, gebildete an der Existenzgrenze dahinvegetieren – dieses Thema, unter dem Begriff der „Theodizee“ bekannt, beschäftigte im 18. Jahrhundert die größten Geister und enthielt erhebliche Sprengkraft: Entweder war das Böse/Üble gottgewollt (etwa als Strafe für den Sündenfall), dann war er nicht liebenswert, oder es kam ohne seinen Willen hinzu, dann war er nicht allmächtig, oder es war eben nicht besser möglich, so dass, wie Leibniz meinte, was wir haben, die beste aller möglichen Welten wäre. In jedem der drei Fälle schneidet Gott nicht wirklich gut ab. Im 18. Jahrhundert genügte jedoch der Autoritätsbeweis (Der Papst hat gesagt…) nicht länger und die wichtigsten Denker fühlten sich aufgerufen, den Glauben an den einen gerechten und allmächtigen Gott zu retten. Folgendes waren in Kurzform ihre Positionen:

  • Gottfried Wilhelm Leibniz, (Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, 1710; dt.: Die Theodizee) prägte hier und an vielen anderen Stellen seines Werkes die Formel von der besten aller möglichen Welten: Gott hat gewissermaßen das Optimum herausgeholt, besser ging es nicht.
  • Alexander Pope, (in seinem Lehrgedicht Essay on Man, 1734; dt.: Versuch über den Menschen) prägte den Spruch: „Whatever is, is right“, der schnell in den Kreisen der Aufklärung diskutiert wurde. Pope versteht es so, dass sich alles, was ist, in einen Gesamtzusammenhang einordnet, so dass, was einerseits als schlecht erscheint, aus anderer Perspektive gut sein kann.
  • „Systemtheoretisch“ sah es Anthony Earl of Shaftesbury (Characteristics of men, manners, opinions, times, 1711) : Nur in Beziehung auf das Gesamtsystem kann beurteilt werden, ob etwas übel ist. Erst wenn es auf kein einziges Subsystem bezogen etwas Gutes darstellt könnte etwas als ‚Übel‘ bezeichnet werden. Daraus folgt, wenn sich alles in die Gesamtordnung einfügt und in dieser in irgendeiner Weise nützlich ist, kann es kein Übel geben.
  • Wie wichtig die Frage, wie das Übel in die Welt kommt, für die damalige Zeit war, lässt sich auch daran ermessen, dass 1753 die Berliner Akademie der Wissenschaften den Entschluss fasste, ihre Preisfrage genau diesem Thema zu widmen. Schon einige Jahre zuvor hatte sich Maupertuis, der Präsident der Akademie, gegen Pope gewandt. In seinem Essai de Cosmologie (1746) identifiziert er das „Alles was ist, ist gut“ als reinen Glaubenssatz, der zudem alles einer unbedingten Notwendigkeit unterwerfe. Die Preisfrage von 1753 lautete folgendermaßen:
    „Die Aufgabe besteht darin, das in der Aussage Popes (All whatever is, is right) enthaltene System zu untersuchen, insbesondere:
    1. Zu bestimmen, was diese Aussage im Sinne des Autors bedeutet.
    2. Sie zu vergleichen mit dem System des Optimismus, bzw. der bestmöglichen Welt, um genau die Unterschiede und die Beziehungen festzustellen.
    3. Schließlich die Gründe anzuführen, von denen man glaubt, dass sie das System stützen oder aber vernichten.“
    Voltaire wird von der Preisfrage gewusst haben (er lebte bis März 1753 in Potsdam/Berlin) und sein Artikel im Philosophischen Taschenwörterbuch gibt darauf eine klare Antwort, dass nämlich der Glaube an einen allmächtigen und gerechten Gott nicht zu retten ist, schon gar nicht mit den Mitteln der Vernunft. Bereits in früheren Schriften hatte er sich mit diesem Thema auseinandergesetzt: In den Philosophischen Briefen von 1728 geht es im 22. Kapitel um Pope; die Erzählung Micromégas mit dem schönen Satz „Wenn das Übel aus der Materie entspringt, besitzen wir mehr Materie als wir brauchen, um sehr viel Übles zu bewirken, und zuviel Geist, sollte das Übel aus dem Geist entspringen“ enthält eine Debatte der Erdbewohner zu dem Thema. In seinem Discours en vers sur l’homme (1736) bezieht Voltaire das „Alles ist gut“ auf das Erleben des Individuums, das gegen die christlichen Finsterlinge sein Recht auf ein glückliches Leben einfordert und die Erbsünde als Märchen ablehnt. Schließlich ist sein Gedicht über das Erdbeben von Lissabon (1755) ein klarer Abgesang auf die Formel Popes und auf die Behauptung Leibniz‘, die er auf eine ferne Zukunft verschiebt, in der es den Menschen vielleicht gelingt, nicht eine gute, aber eine immerhin annehmbare Welt zu schaffen.

Weiterführende Literatur:
Marion Hellwig, Alles ist gut: Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, 384 S. Hellwig gibt einen hervorragenden Überblick über die Debatte im 18.Jahrhundert und die Positionen Voltaires, Rousseaus, Resnels, Bolingbrokes und u.v.a. zum Theorem „Alles was ist, ist gut“ sowie über die eingereichten Arbeiten zur Preisfrage der Preußischen Akademie von 1753.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.69, Platons fünf Welten): Platon nennt fünf mögliche Welten, jeder soll eine geometrische Figur entsprechen: Feuer (Tetraeder), Luft (Oktaeder), Wasser (Ikosaeder), Erde (Hexaeder), Himmel (Dodekaeder). Platon aber sagt, dass Gott seiner Meinung nach doch nur eine einzige, alles umfassende Welt erschaffen habe (Timaois, 33).

Anmerkung 2 (S.72, zweiter Abschnitt: Basilides): Basilides (85 – 145) war ein Philosoph der Gnosis, dessen Leben und Werk wir nur von ungefähr kennen, durch seine christlichen Gegner, die ihn als Häretiker denunzieren, überliefert.

Anmerkung 3 (S.73, dritter Absatz: Bolingbroke als Quelle für Pope): Popes Essay Vom Menschen richtet sich an Bolingbroke. Lord Bolingbroke wohnte in unmittelbarer Nachbarschaft Popes und war mit ihm befreundet. Ob er aber als Quelle für Pope in Frage kommt, ist ungewiss. B. war ein entschiedener Gegner des deduktiven Vorgehens, bei dem man von Axiomen und Grundsätzen ausgeht und daraus Aussagen über die Natur oder auch Gott ableitet. Wissen entsteht nur durch Experimente und durch Beobachtung der Natur. Trotzdem versucht er (Letters or Essays adressed to Alexander Pope, 4. Brief), im Widerspruch zu seiner Maxime, den Grundsatz Popes zu verteidigen.

Anmerkung 4 (S.73/74, Shaftesbury als Quelle für Pope): Voltaire bemerkte bereits 1756 im Vorwort zu seinem Poème sur le désastre de Lisbonne, dass Pope Shaftesburys Caracteristics sehr viel verdankt. Die Textstelle übersetzte Voltaire aus den Caracteristics (1790 Basil, vol. 2) The Moralists, A Philosophical Rhapsody, Sect.3

Anmerkung 5 (S.74,“Ein Chirurg, der die Kunst … perfektionierte“): Die von Voltaire beschriebene chirurgische Methode zur Entfernung der Blasensteine war die sog. Lithotomie, die sogar einen eigenen Beruf hervorgebracht hatte, den Lithotomus. Die Behandlung verlief oft tödlich und – man glaubt es kaum – war von 1500 bis ins 20. Jahrhundert hinein die übliche Verfahrensweise.
Das Verfahren wird auch in der Enzyklopädie im Artikel „Taille“ beschrieben.

Anmerkung 6 (S.75,“Der Sündenfall ist die Salbe…..“): Voltaire bringt hier ironisch die „Argumente“ der christlichen Gegenseite, die Pope kritisierte, weil er den Sündenfall „vergaß“. Demnach ist die Menschheit durch den Apfel-Vorfall im Paradies für alle Zeiten verdammt- und kann erst durch Gottes Gnade erlöste werden. Ein „Alles ist gut“ kann es da natürlich nicht geben, zumindest nicht zu Lebzeiten. Zur Argumentation der Kirche siehe beispielhaft Pierre de Crouzas : Examen de l’Essay de Monsieur Pope sur l’homme, 1737 (engl.: An examination of Mr. Pope’s Essay on man London 1789).

Die Bibliothek Voltaires und Russland

Wie die Bibliothek Voltaires nach St. Petersburg kam

Von Rainer Neuhaus

1. Einleitung: Voltaires Bibliothek sicher in Russland

Voltaires Bibliothek ist nicht nur umfangreich (sie umfasst 6814 Bände), sondern ist auch ein Zeugnis der geistigen Orientierung Voltaires, seiner Arbeitsweise. Während er sich in seinen Veröffentlichungen angesichts der Gefahr kirchlich-inquisitorischer Verfolgung oft verstellen musste, geben uns die vielen, äußerst lebhaften Randnotizen und Anmerkungen Katharina und Voltaire von seiner Hand heute wertvolle Hinweise auf sein wirkliches Denken.
Kaiserin Katharina II. (1729-1796) von Russland ist es zu verdanken, dass diese Bibliothek nach dem Tod Voltaires am 30. Mai 1778 nicht auseinandergerissen wurde, sondern in St. Petersburg als Ganzes erhalten blieb und bis heute von allen Interessierten besucht werden kann. Sie erreichte durch zähes Verhandeln und ein stattliches Preisangebot, dass Voltaires Universalerbin, seine Nichte Marie-Louise Denis, dem Verkauf schließlich zustimmte.

Am 21. Juni 1778 schrieb Katherina an ihren Vertrauten Friedrich Melchior Grimm nach Paris, dass sie die Bibliothek erwerben wolle: „..wenn es möglich ist, kaufe ich seine Bibliothek und alles, was von seinen Papieren übrig geblieben ist, einschließlich meiner Briefe. Ich bin bereit, seine Erben großzügig bezahlen, die, wie ich denke, den Preis von alldem gar nicht kennen. […] Ich werde einen Salon bauen, in dem seine Bücher ihren Platz finden.“1 Später entwickelte Sie den Plan, Voltaires Wohnsitz, das Schloss Ferney, originalgetreu im Park von Tsarskoye Sélo (Alexander Park, Landsitz des Königshauses) bei St. Petersburg nachbauen zu lassen und schrieb an Grimm: „Bitte lassen Sie mir ein Abbild der Fassade des Schlosses von Ferney und wenn möglich den Innenplan der Aufteilung der Wohnungen zukommen. Denn der Park von Zarskoje Selo wird nicht bestehen bleiben, beziehungsweise das Schloss von Ferney wird dort seinen Platz finden. Ich muss noch wissen, welche Wohnungen des Schlosses in Richtung Norden liegen und welche gegen Süden, Sonnenaufgang und Untergang, es ist außerdem noch wichtig zu wissen, ob man den Genfersee oder das Juragebirge aus den Fenstern des Schlosses sehen kann und auf welcher Seite“. Zu diesem Zweck ließ sie ein maßstabsgetreues Modell herstellen und von jedem Stoff (Stühle, Wände) ein Muster beschaffen, die bis heute in St. Petersburg aufbewahrt werden und dort besichtigt werden können.
Einfach umzusetzen war das Vorhaben allerdings nicht.

2. Die Verhandlungen, Der französische Staat, Wagnière kommt ins Spiel, der Vertrag

Friedrich Melchior Grimm (1723 – 1803)2, Pariser Herausgeber einer Art Geheimkorrespondenz für ausgesuchte europäische Adlige , der handschriftlich verfassten „Correspondance-litteraire“, unter seinen Korrespondenten auch Katharina die Große, erhielt von der russischen Kaiserin den Auftrag, die Verhandlungen zum Erwerb von Voltaires Bibliothek zu führen. Sicher vertraute sie auf Grimms hervorragende Beziehungen, die es ihr auch schon ermöglicht hatten, die Zensurvorhaben gegen die Enzyklopädie zu kippen, indem sie Diderot de facto zu ihrem Bibliothekar machte und damit unter ihren Schutz stellte.3 Grimm nahm also Kontakt zu Voltaires Nichte, Marie-Louise Denis, auf, die nicht abgeneigt schien, zu verkaufen, jedoch eine zähe Verhandlerin war, umso mehr, als sie von fast unbegrenzten Mitteln der Kaufinteressentin ausgehen konnte. Nur was die Manuskripte Voltaires anging, unterstützte sie das Projekt einer Publikation durch den Pariser Verleger Panckoucke, der diese in eine von ihm geplante Gesamtausgabe integrieren wollte und überließ ihm die handschriftlichen Dokumente4, die als Universalerbin in ihren Besitz übergegangen waren.

Zuvor wollte jedoch der französische Staat die „gefährlichen“ Manuskripte Voltaires sichten, befürchtete jedoch negative Reaktion vor allem des preußischen, aber auch des russischen Hofes und ließ deshalb den Plan fallen.

Angebot Denis
Letzte Seite des Angebotschreibens (15.12.1778) Mme Denis mit Unterschrift (Russische Nationalbibliothek, Sammlung Bibliothek Voltaire)

Ende 1778 war man sich handelseinig, Mme Denis erhielt 30.000 Goldrubel, einen Koffer mit Pelzen, Schmuck und ein mit Diamanten verziertes Porträt der Kaiserin. Jean-Louis Wagnière, der Sekretär Voltaires, konnte mit der Vorbereitung des Transports beginnen.

3. Die Bibliothek geht auf Reisen

Wenn ein einzelnes Buch ungefähr 500 Gramm wiegt, so war die Bibliothek von Voltaire mit ihren 6814 Büchern 3.500 kg oder 3,5 Tonnen schwer. Dazu kommt noch das Gewicht der 12 zugenagelten Kisten, in die Wagnière, Voltaires langjähriger Sekretär, die Bücher nach dem Tod seines verehrten Dienstherrn verpackt und sie auf Geheiß von Mme Denis am 7. Dezember 1778 von Ferney nach Les Délices in Genf schicken lassen hatte5, jedes in feines Seidenpapier eingeschlagen, nehmen wir an. Wie groß mag eine Kiste für 570 Bücher gewesen sein? Im 18 Jahrhundert bestimmte man die Buchgröße wie heute nach der Seitenzahl, die auf einen Normdruckbogen paßte. Es gab 12 (duodez), 8 (octav) und 4 Seiten, hinten und vorne bedruckt, auf einem Druckbogen. Bei ganz großen Bücher (Folio), druckte man auf dem 43 x 60 cm (was dem DIN A2 von heute entspricht) großen Druckbogen nur zwei Seiten, wie bei der berühmten Encyclopédie Diderots und d’Alemberts, deren 36 Bände selbstverständlich Bestandteil von Voltaires Bibliothek waren6. Dann wären in die 12 Kisten 35 Bücher pro Lage und 16 Lagen je Kiste verpackt worden (ca. 100 cm x 85cm x 65 cm). Eine stabile Kiste dieser Art wiegt mit Beschlägen mindestens 30 kg. Nehmen wir also an, daß die gesamte Ladung 4 t. gewogen hat. Ein Pferdewagen (Zweispänner) konnte im 18. Jahrhundert 2 t transportieren und man schaffte, so beladen, 50 km pro Tag, wenn die Strassen gut waren7. Wenn auf einen Pferdewagen 6 solcher Kisten paßten, waren also mindestens 2 Pferde-Planenwagen unterwegs und vielleicht noch einige Bewacher zu Pferde, um die Bibliothek auf dem Landweg bis nach Lübeck zu befördern. Kein großer Transport, wenn man ihn mit den 1800 Fahrzeugen vergleicht, die der brandenburgische Kurfürst im Dezember 1700 von Berlin aus in Bewegung setzen ließ, um mit seinen Habseligkeiten nach Königsberg umzuziehen8. Trotzdem war eine derart lange Reise (1000 km), für die man 2 Monate brauchte9, gefährlich und, weil man viele Grenzen passieren mußte, schwierig zu organisieren. Grimm, der Beauftragte von Katherina II. (die Große), kümmerte sich darum. Er bat seinen Freund François Tronchin (1704-1781), Mitglied des Rates von Genf, ihm zu helfen: „Vielleicht kann man von Basel aus über den Rhein und den Main [nach Frankfurt] kommen. In Wirklichkeit lasse ich Ihnen unbeschränkte Handlungsfreiheit über alle Vorgehensweisen, weil die Sache eines klügeren Kopfes (als ich es bin) bedarf. Ich beschränke mich lediglich darauf, Sie zu bitten, daß Sie darauf acht geben, daß der sicherste Transportweg dem preiswertesten vorgezogen wird. […] Wenn es in Genf Fahrbetriebe gibt, die direkt nach Frankfurt fahren, würde ich sie allen anderen vorziehen, weil wir dann nur mit einem einzigen zu verhandeln hätten“. Am 20 April verlässt der Transport Genf (Les Délices), am 25 April erreichen die Bücher Morges10. Tronchin hofft, dass sie auf dem Weg über Basel bereits am 16. Mai in Frankfurt ankommen. Als die Meldung eintrifft, dass die Bücher Frankfurt/M. erreicht haben, erhält Wagnière seine Papiere (Grimms Brief 155 vom 23.5.1779), er soll bis Frankfurt in einem Cabriolet fahren, wird dann „mit einer kleiner Postkutsche nach deutscher Art weiterreisen, mit der man ziemlich bequem durch ganz Deutschland kommt“11 . Er soll aber unbedingt Anfang Juli in Lübeck sein, um zusammen mit der Bibliothek per Schiff St. Petersburg anzusteuern. Wagniere verlässt Ferney am 30.5.1779 und trifft in Frankfurt am 11.6.ein. Grimm empfiehlt, dann die Route über Gotha, Potsdam und Rheinsberg nach Lübeck zu nehmen, wo es dank der guten Beziehungen sichere und komfortable Unterkünfte gebe. In Lübeck wartet Wagnière fünf Wochen auf die Ankunft des Schiffes, erreicht schließlich Petersburg am 7. Juli 1779, wo er an Katharinas Hof sehr bevorzugt empfangen wird. Seine Berichte über das Leben Voltaires stoßen dort auf reges Interesse. Er wird beauftragt, die Bücher und Manuskripte auszupacken, zu ordnen und einen Katalog über sie anzufertigen; eine Arbeit, .die ihn bis in den November beschäftigt. Wagnière verlässt schließlich St. Petersburg am 28.12.1779 und erreicht Ferney Anfang Februar 1780, wo er bis zu seinem Lebensende wohnen sollte, ausgestattet mit einer russischen Jahrespension von 1500 Pfund.

4. Was aus der Bibliothek geworden ist

Die Bücher kamen zunächst in die Räume neben dem Wohnbereich der Kaiserin im Winterpalast, der heutigen Eremitage, wo sie Teil der persönlichen Bibliothek Katharinas wurde, zu der später noch die Bibliothek Diderots hinzukam.. Nach ihrem Tod erhielt die Bibliothek unterhalb der sogenannten „Logen von Raffael“ einen ständigen Standort und war, frei zugänglich, ein beliebtes Ziel für ausländische Besucher. Während der Regierungszeit (1825 – 1855) von Nikolaus I., der Voltaire als Freidenker und Zerstörer der Gesellschaftsordnung des Ancien Régime und Vorbereiter der Dekabristen betrachtete, wurde sie für Besucher geschlossen. 1837 ordnete ein Hofminister an: „Ohne schriftliche Genehmigung darf niemand außer Mitgliedern der kaiserlichen Familie Bücher aus der Eremitage-Bibliothek ausleihen; Diejenigen, die wissenschaftliche Forschung betreiben möchten, dürfen in der Bibliothek arbeiten und Notizen machen, aber es ist verboten, die Bücher der Bibliotheken von Voltaire und Diderot zu konsultieren oder Auszüge daraus zu machen. “ Besonders die Statue des sitzenden Voltaire von Jean-Antoine Houdon, die sich in der Nähe der Bibliothek befand, scheint Nikolaus I. ein Dorn im Auge gewesen zu sein. Der Bibliophile Rudolf Minzlov schrieb in seinem „Spaziergang in der kaiserlichen öffentlichen Bibliothek“, dass „unter Kaiser Nikolaus I. dieser Freund Katharinas nicht mehr zu den Lieblingsbewohnern des Winterpalastes gehörte. Er reiste von einer Ecke zur anderen, und trotzdem stand diese Marmorstatue durch Zufall die ganze Zeit immer im Blickfeld des Kaisers.“ Voltaires berühmtes Lächeln hätte Nikolaus I. so verärgert, dass er befahl, „den alten Affen wegzunehmen“! Die Statue verließ danach die Eremitage, um zuerst einen Platz in den Kellern des Tauridenpalastes zu finden, bevor sie im Mai 1862 zu den Büchern des Philosophen zurückkehrte, die gerade in die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek (heute Nationalbibliothek Russlands) verlegt worden waren. Die Übergabe der Voltaire-Bibliothek an die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek erfolgte Ende 1861 unter Alexander II. Baron Korf, Direktor der Bibliothek, erhielt vom Hofminister eine Mitteilung, in der es hieß: „Seine Majestät der Kaiser, weist wegen der Notwendigkeit, in der Eremitage seltene und kostbare Kunstgegenstände zu installieren, ‹…› an: unter den Bibliotheken, die sich in der Eremitage, einschließlich der Bibliothek von Voltaire, befinden, [sollen der Eremitage] nur die Ausgaben verbleiben, die die bildende Kunst betreffen, ihre Geschichte und Archäologie sowie die russische Bibliothek, die für die Diener eingerichtet wurde. Alle anderen oben genannten Bibliotheken sowie alle in der Eremitage aufbewahrten Handschriften, ohne die mit Miniaturmalerei geschmückten auszuschließen, müssen in die öffentliche kaiserliche Stadtbibliothek überführt werden.“ Voltaires Bibliothek befand sich im ovalen Raum im ersten Stock (der heute die russische Sammlung beherbergt). Die Statue von Houdon war bis 1887 an gleicher Stelle bis sie im Jahr 1887 in die Eremitage zurückkehrte.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Bibliothek in die Stadt Melekess an der Wolga (heute Dimitrovgrad) evakuiert und wurde nach ihrer Rückkehr nach Leningrad (heute St. Petersburg) Teil der Abteilung für Seltene Bücher.

5. Wie sich die Bibliothek zusammensetzt12

Voltaires Bibliothek hat 6814 Bände, einschließlich Manuskripte. Mehr als ein Drittel der Drucksachen ist mit Lesenotizen ihres Besitzers versehen: marginalia (vom lateinischen Wort margo, Rand). Tatsächlich befinden sich die Anmerkungen nicht immer an den Rändern, sondern manchmal auf den Bandrücken, Titelseiten, Deckblättern, falschen Titeln, Lesezeichen usw. Einige der Lesezeichen sind auch ohne Aufschrift, bestehen aus Papierfragmenten, die unter Voltaires Hand gefallen sind – Spielkarten, Buchhaltungsunterlagen, Briefentwürfe, Zeitungsfetzen. es gibt Blumen und Grashalme und auch umgeknickte Seitenecken. Die Bibliothek diente dem Schriftsteller als Arbeitsinstrument für die Komposition seiner Werke – Geschichts- und Philosophiebücher, Theaterstücke, Erzählungen, Gedichte, Pamphlete. Wagnière erzählt in seinen Memoiren: „Die Erinnerung von M. de Voltaire war erstaunlich. Er sagte hundertmal zu mir: „Sehen Sie in diesem Werk, in diesem Band, ungefähr auf dieser Seite, ob dort so etwas steht?“, und es kam selten vor, dass er sich irrte, obwohl er das Buch seit zwölf oder fünfzehn Jahren nicht mehr geöffnet hatte. » Bücher über Geschichte dominieren (fast ein Viertel) in ungefähr gleicher Zahl wie die über Literatur und Kunst. Theologische Werke, Werke zur Geschichte der Kirche und zum kanonischen Recht bilden ein Fünftel des Ganzen, ähnlich wie die Philosophie mit den Werken von Rousseau, Diderot, Helvétius, d’Holbach, Montesquieu, Bayle, Pascal, Descartes, Malebranche, Locke, Hume, Toland, Leibniz und anderen Autoren des 18. Jahrhunderts. Die Bibliothek enthält zudem viele Sammelbände, von Voltaire „potpourris“ genannt, in denen er ausgetrennte Seiten aus Büchern und Zeitschriften zu den Themen, die ihn interessierten, zusammenbinden ließ.

Ein sogenanntes Potpourri-Buch aus der Bibliothek Voltaires – Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Sammlung Bibliothek Voltaire
6. Die Nationalbibliothek als Sachwalterin Voltaires

Um diese Bibliothek so vielen Lesern wie möglich und allen, die sich für die französische Kultur interessieren, bekannt zu machen, organisiert die Russische Nationalbibliothek (BNR) bedeutende Ausstellungen. So wurden in den Jahren 1986-1987 in Paris mehrere Bücher von Voltaire im Rahmen der renommierten Ausstellung „Frankreich und Russland im Zeitalter der Aufklärung“ präsentiert. 1994, zum dreihundertsten Geburtstag Voltaires, nahm die BNR an drei internationalen Ausstellungen teil: „Voltaire et ses combats“ in Oxford, „Voltaire chez lui“ in Genf und „Voltaire et l’Europe“ in Paris. In den Jahren 1998 und 1999 wurden Werke aus Voltaires Bibliothek im Jean-Jacques Rousseau Museum in Montmorency ausgestellt, und im Juni 1999 fand in Paris eine sehr reichhaltige Ausstellung über „Voltaire, Gerechtigkeit und öffentliche Meinung“ statt, die gemeinsam vom BNR und dem Kassationshof organisiert wurde.

Veranstaltungsplakat 1999 Paris – „Wie? Sie möchten eine Organisation mit dem Namen Grenzenlose Toleranz gründen? Die wird keine Zukunft haben!“ Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Sammlung Bibliothek Voltaire

Im Jahr 2000 waren Briefentwürfe von Voltaire, die im BNR aufbewahrt werden, Teil der Ausstellung „Friedrich der Große und Voltaire: Ein Briefdialog“ in Potsdam. Schließlich präsentierte sie 2001 im Schloss Ferney der Öffentlichkeit die Stoffproben von Voltaires Wohnungen, die 1779 gleichzeitig mit seiner Bibliothek nach Russland gebracht worden waren. Diese Popularisierungs- und Studienaktivitäten führten zu der Idee, in St. Petersburg ein Forschungs- und Informationszentrum für das Zeitalter der Aufklärung und der Enzyklopädie zu schaffen. Die grundlegenden Ziele dieses „Voltaire-Zentrums“ sind die Vervollständigung der Ausgabe des Korpus seiner Lesenotizen, die Herausgabe eines wissenschaftlichen Katalogs von Voltaires Handschriften und deren Digitalisierung, die Einrichtung einer neuen erweiterten Ausgabe des Bibliothekskatalogs von Voltaire und die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Texten, die der Aufklärung in Europa gewidmet sind. Eine der spezifischen Aufgaben des Zentrums wird es sein, die Einheit der Bibliothek von Diderot und die Privatbibliothek von Katharina II. wieder herzustellen, die derzeit in der ausländischen Sammlung des BNR verstreut ist. Im Jahr 2003 wurde der Voltaire-Bibliothek ein neuer Standort innerhalb der Russischen Nationalbibliothek zugewiesen, der dank der französisch-russischen Zusammenarbeit geschaffen wurde, die von Nikolay Kopanev, dem damaligen Direktor der Abteilung für Seltene Bücher, initiiert und von den Regierungen Russlands und Frankreichs (insbesondere Präsident Jacques Chirac) unterstützt wurde. Die Wiederaufbauarbeiten begannen 2001 und wurden 2003 abgeschlossen. Der Saal wurde während des dreihundertsten Jahrestages der Gründung von St. Petersburg am 28. Mai 2003 in Anwesenheit der Premierminister der beiden Länder, Mikhail Kasyanov und Jean-Pierre Raffarin, eingeweiht. Das Centre d’Étude du Siècle des Lumieres wurde 2004 an derselben Stelle eingeweiht. Seitdem bringt das Internationale Kolloquium Lectures Voltairiennes Forscher aus allen Ländern zusammen. Die Voltaire Bibliothek ist für Besucher und Forscher geöffnet. Sie strebt danach, Voltaires Geist weiterzugeben: Bildung, Intelligenz, Toleranz und Offenheit gegenüber der Welt.

Bibliothek Voltaire
  1. Catherine II de Russie, Friedrich Melchior Grimm, Une correspondance privée, artistique et politique au siècle de lumière, Moscou 2016, S. 150 (Brief 63)
  2. Zu Grimm: Wolf, Winfried, Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg, Regensburg: Eigenverlag (epubli), 2019, 533 S.
  3. 1765 kaufte Katharina, um Diderot aus finanzieller Not zu retten, dessen Bibliothek, mit der er in Paris arbeitete (und auch diese Bibliothek befindet sich heute in Russland) und ließ ihm ein auskömmliches Jahresgehalt (1000 Livres) anweisen.
  4. Panckoucke wurde das Projekt aber zu anspruchsvoll und er verkaufte seine Unterlagen 1779 an Beaumarchais, der dann Voltaires Werke in der berühmten Kehler Gesamtausgabe herausgab.
  5. Wagniere, Brief an Grimm vom 18.8.1778, in: Jean-Louis Wagnière ou les deux morts de Voltaire, Correspondance inedite, présentation et notes de Christophe Paillard, Saint-Malo:Christel, 2005, 460 S, S.175 f. Die eilige Überstellung nach Genf war nötig geworden, nachdem Mme Denis das Schloss Ferney verkauft hatte und befürchtete, dass der neue Eigentümer die Bibliothek nicht herausgeben könnte.
  6. Eine besuchenswerte Internetseite zu diesem Thema: http://austria-forum.org/af/Heimatlexikon/Schriftsetzer (1996)
  7. Sieferle, Rolf Peter, Transport und wirtschaftliche Entwicklung, in: ders., Breuninger, Helga, Transportgeschichte im internationalen Vergleich Europa-China-Naher Osten, Stuttgart: Breuninger Stiftung 2004, S5-44.
  8. Nur so konnte er vom Kurfürsten zum König aufsteigen. Hildebrandt, Dieter, Das Berliner Schloß, Deutschlands leere Mitte, München:Hanser, 2011, 293 S.,S.65
  9. schreibt Grimm am 25.4. an Wagnière (310), nach Paillard, Jean Louis Wagnière, Oxford: Voltaire Foundation, 2008
  10. Paillard, Christophe, Jean-Louis Wagnière ou les deux morts de Voltaire, St. Malo: Christel, 2005, S.309/310
  11. Paillard, Christophe, Jean-Louis Wagnière, S.312
  12. Der Text folgt ab hier bis zum Ende: Bibliothèque Nationale Russe: La Bibliothèque de Voltaire, https://nlr.ru/voltaire/RA415/histoire-bibliotheque-Voltaire (abgerufen: 2022) und:
    Nikolaï Alexandrovitch Kopanev, La Bibliothèque de Voltaire à St. Petersbourg ; https://gallica.bnf.fr/dossiers/html/dossiers/Voltaire/D2/Frame.htm (abgerufen: 2022)

Online Ausstellungen der Russischen Nationalbibliothek St.Petersburg:
o Rousseau und Voltaire
o Voltaire und die Religion
o Geschichte der Voltaire-Bibliothek