Voltaire: Vom ewigen Frieden (De la Paix perpétuelle, par le docteur Goodheart, traduction de M. Chambon, 1769),
übersetzt und kommentiert von Rainer Neuhaus

auf der Basis der deutschen Erstübersetzung von W.Ch.S. Mylius. [1]

I. Frieden durch übernationale Institutionen ist eine Illusion

Der einzige ewige Frieden, der unter den Menschen geschaffen werden kann, ist der der Toleranz: Der Frieden, den sich ein Franzose namens Abbé de Saint-Pierre ausgedacht hat, ist ein Hirngespinst, das zwischen Fürsten ebenso wenig Bestand haben wird wie zwischen Elefanten und Nashörnern, zwischen Wölfen und Hunden. Die fleischfressenden Tiere werden sich immer bei der ersten Gelegenheit zerfleischen [2].

II. Die Wissenschaften haben die Sitten gemildert

Wenn es schon nicht gelungen ist, das Ungeheuer des Krieges aus der Welt zu verbannen, so ist es doch gelungen, es weniger barbarisch zu machen: Wir sehen heute nicht mehr, dass die Türken einem Bragadini [3], dem Gouverneur von Famagusta, die Kehle durchschneiden lassen, weil er seine Festung tapfer gegen sie verteidigt hat. Wenn man einen Fürsten gefangen nimmt, wird er nicht in Ketten gelegt oder in den Kerker geworfen, wie es Philipp, genannt Augustus, mit Ferrand, dem Grafen von Flandern, tat [4] und wie Leopold von Österreich noch nichtswürdiger mit unserem Richard Löwenherz verfuhr [5].

Die Folterungen Konradins, des rechtmäßigen Königs von Neapel, und seines Vetters, die von einem tyrannischen Vasallen angeordnet und von einem souveränen Priester genehmigt wurden [6], wiederholen sich nicht mehr: Es gibt keinen Ludwig XI. mehr, genannt der Allerchristlichste oder Phalaris, der Verliese bauen lässt, ein Taurobolus in den Markthallen aufstellt und junge souveräne Prinzen [7] mit dem Blut ihrer Väter übergießt: Wir sehen nicht mehr die Schrecken der roten und der weißen Rose [8], noch fallen auf unserer Insel gekrönte Häupter unter dem Beil der Henker; die Humanität scheint endlich der Grausamkeit der christlichen Fürsten zu folgen; sie haben nicht mehr die Gewohnheit, Botschafter zu ermorden, wenn sie vermuten, dass diese gegen ihre Interessen intrigieren, so wie Karl V. die beiden Gesandten von Franz I., Rincon und Frégose, töten ließ [9]; niemand führt mehr so Krieg wie der berühmte Bastard von Papst Alexander VI, der Gift, Stilett und die Hand der Henker mehr als sein Schwert benutzte [10]: Die Wissenschaften haben haben endlich die Sitten gemildert.

Es gibt viel weniger Kannibalen in der Christenheit als früher; das ist immerhin ein Trost bei der schrecklichen Geißel des Krieges, die Europa niemals zwanzig Jahre lang in Ruhe atmen lässt [11].

III. Die Scheiterhaufen brennen seltener

Wenn der Krieg selbst weniger barbarisch geworden ist, scheinen auch die Regierungen der einzelnen Staaten weniger unmenschlich und weiser zu werden. Die guten Werke, die seit einigen Jahren geschrieben wurden, sind in ganz Europa vorgedrungen, ungeachtet der Trabanten des Fanatismus, die an allen Wegen Wache hielten. Die Vernunft und das Mitleid sind bis zu den Pforten der Inquisition vorgedrungen. Die Taten der Menschenfresser, die man Glaubenshandlungen nannte, preisen den Gott der Barmherzigkeit nicht mehr so oft im Licht der Scheiterhaufen und inmitten der Ströme von Blut, die von den Henkern vergossen werden. In Spanien beginnt man zu bereuen, dass man die Mauren, die das Land bebauten, vertrieben hat; und wenn es heute zur Debatte stünde, das Edikt von Nantes zu widerrufen, würde es niemand wagen, eine so verhängnisvolle Ungerechtigkeit vorzuschlagen [12].

IV. Die christliche Intoleranz als Ursache von Krieg

Wenn die Welt nur aus einer wilden Horde bestünde, die von Raubzügen lebt, so wäre ein ehrgeiziger Schlaukopf vielleicht zu entschuldigen, wenn er diese Horde betrügt, um sie zu zivilisieren, und sich dazu des Beistands der Priester bediente. Aber was würde dann geschehen? Bald würden die Priester den Ehrgeizigen selbst unterwerfen, und zwischen seinen Nachkommen und ihnen würde ein ewiger, teils versteckter, teils offener Hass entstehen: Diese Art, eine Nation zu zivilisieren, würde in kurzer Zeit schlimmer sein als das Leben in der Wildnis. Denn welcher Mensch würde nicht lieber mit den Hottentotten und Kaffern auf die Jagd gehen, als unter Päpsten wie Sergius III, Johannes X, Johannes XI, Johannes XII, Sixtus IV, Alexander VI. und vielen anderen Ungeheuern dieser Art zu leben? Welche wilde Nation hat sich jemals mit dem Blut von hunderttausend Manichäern befleckt, wie die Kaiserin Theodora [13]? Welche Irokesen oder Algonkin haben religiöse Massaker wie die Bartholomäusnacht [14], den heiligen Krieg in Irland [15], die heiligen Morde des Kreuzzugs von Montfort [16] und hundert ähnliche Gräuel zu verantworten, die das christliche Europa in ein großes, mit Priestern, Henkern und Geplagten bedecktes Schafott verwandelt haben? Die christliche Intoleranz allein hat diese schrecklichen Katastrophen verursacht; nun muss die Toleranz sie beseitigen.

V. Ohne das intolerante Christentum keine Religionskriege

Warum hauste das Monster der Intoleranz im Schlamm der Höhlen, die die ersten Christen bewohnten? Wie kommt es, dass es aus diesen Kloaken, in denen es sich ernährte, in die Schulen von Alexandria gelangte, wo jene Halbchristen und Halbjuden lehrten? Wie kommt es, dass es sich bald auf den Bischofsstühlen niederließ und schließlich auf dem Thron neben den Königen saß, die gezwungen waren, ihm Platz zu machen, und die oft von ihm von ihrem Thron gestürzt wurden? Bevor dieses Monster geboren wurde, gab es auf der Erde nie Religionskriege und nie einen Streit über den Gottesdienst. Nichts ist wahrer; und die entschlossensten Betrüger, die heute noch gegen die Toleranz schreiben, würden es nicht wagen, dieser Wahrheit zu widersprechen.

VI. Ägypten als Quelle der Intoleranz

Die Ägypter scheinen die ersten gewesen zu sein, die die Idee der Intoleranz hervorgebracht haben; jeder Fremde war bei ihnen unrein, es sei denn, er ließ sich in ihre Mysterien einbinden: Man war unrein, wenn man von einem Gericht aß, das er benutzt hatte, unrein, wenn man ihn berührte, und manchmal sogar unrein, wenn man mit ihm sprach. Dieses elende Volk, welches nur dafür berühmt war, dass es seine Armen dazu benutzte, die Pyramiden, Paläste und Tempel seiner Tyrannen zu bauen, und das von allen, die es angriffen, immer unterworfen wurde, zahlte einen hohen Preis für seine Intoleranz [17] und wurde nach den Juden das am meisten verachtete Volk aller Völker.

VII. Juden führten keine Kriege aus religiösen Gründen

Die Hebräer, die den Ägyptern benachbart waren und einen Großteil ihrer Riten übernahmen, ahmten auch deren Intoleranz nach und übertrafen sie sogar noch; in ihren Geschichtsbüchern wird jedoch nicht erzählt, dass das Ländchen Samaria jemals gegen das Ländchen Juda nur aus religiösen Gründen Krieg geführt hätte. Die judäischen Hebräer sagten zu den Samaritischen nicht: „Kommt und opfert auf dem Berg Moriah [18], oder ich werde euch töten“, und ebenso wenig die samaritanischen nicht zu jenen: „Kommt und opfert in Garizim [19], oder wir werden euch umbringen“. Die beiden Völker verabscheuten sich als Nachbarn, als Ketzer, als von Minikönigen mit gegensätzlichen Interessen regiert; aber trotz dieses grausamen Hasses ist nicht zu erkennen, dass jemals ein Einwohner Jerusalems einen Bürger Samarias zum Wechsel der Glaubensrichtung zwingen wollte: Ich bin damit einverstanden, dass mich ein Dummkopf hasst, aber ich will nicht, dass er mich unterwirft und tötet. Minister Louvois sagte zu den gelehrtesten Männern, die es in Frankreich gab: „Glaubt an die Transsubstantiation, über die ich mich selber in den Armen von Frau Du Fresnoy lustig mache, oder ich lasse euch rädern.“ [20] Bis zu diesem abscheulichen Despotismus haben es die Juden, so barbarisch sie auch waren, es doch niemals getrieben.

VIII. Das handeltreibende Holland und sein Sündenfall

Die Tyrer [21] gaben den Juden ein großes Beispiel, von dem diese Horde, die sich neu bei ihnen niedergelassen hatte, jedoch keinen Gewinn zog; sie brachten die Toleranz zusammen mit dem Handel und den Künsten unter alle Nationen. Die heutigen Holländer könnten mit ihnen verglichen werden, wenn sie sich nicht ihr Konzil von Dordrecht gegen die guten Werke und das Blut des ehrwürdigen Barneveldt, der im Alter von einundsiebzig Jahren verurteilt wurde, weil er die Kirche Gottes so sehr wie möglich verärgert hatte, vorwerfen lassen müssten [22]. O Menschen! O Ungeheuer! Calvinistische Kaufleute, die sich in Sümpfen niedergelassen haben, beleidigen den übrigen Teil des Universums! Es ist wahr, dass sie für dieses Verbrechen gesühnt haben, indem sie die christliche Religion in Japan verleugneten [23].

IX. Von der Toleranz in der Antike

Die alten Römer und Griechen, die so hoch über die anderen Menschen erhaben waren, wie ihre Nachfolger unter sie herabgesunken sind, zeichneten sich nicht nur durch ihre Kriegskunst, sondern ebenso durch Toleranz, durch die schönen Künste und durch die Rechtsprechung aus.

Die Athener errichteten Sokrates einen Tempel und verurteilten die ungerechten Richter, die diesen ehrwürdigen alten Mann, diesen Barneveldt von Athen, vergiftet hatten, zum Tode [24]. Es gibt kein einziges Beispiel für einen Römer, der wegen seiner Ansichten verfolgt wurde, bis zu der Zeit, als das Christentum kam, um die Götter des Reiches zu bekämpfen. Die Stoiker und die Epikureer lebten friedlich miteinander. Wiegt diese große Wahrheit ab, ihr armseligen Magistrate unserer barbarischen Länder, deren Eroberer und Gesetzgeber die Römer waren; errötet, ihr Sequaner, Septimaner, Kantabrer und Allobroger [25].

X. Rom verfolgte Christen als Aufrührer

Es steht fest, dass die Römer den schändlichen Aberglauben der Ägypter und Juden tolerierten; und zur selben Zeit, als Titus Jerusalem einnahm und Hadrian es zerstörte, hatten die Juden in Rom eine Synagoge, durften Lumpen verkaufen und ihr Passahfest, ihre Pfingsten und ihr Laubhüttenfest feiern: Man verachtete sie, aber man ertrug sie [26]. Warum vergaßen die Römer ihre übliche Nachsicht so weit, dass sie manchmal Christen, für die sie genauso viel Verachtung empfanden wie für die Juden, mit dem Tode bestraften? Es stimmt, dass nur sehr wenige von ihnen hingerichtet wurden. Origenes selbst gibt dies in seinem dritten Buch Gegen Celsus mit folgenden Worten zu: „Es gab nur sehr wenige Märtyrer, und auch das nur in großem zeitlichen Abständen; dennoch“, sagt er, „lassen die Christen nichts unversucht, um alle Menschen dazu zu bringen, ihre Religion anzunehmen; sie ziehen in die Städte, in die Dörfer und in die Dörfer.“ [27] Aber bei alldem ist es doch wahr, dass einige Christen mit dem Tod bestraft wurden; wir wollen also sehen, ob sie als Christen oder als Aufrührer bestraft wurden.

Einen Menschen unter Folter umzubringen, nur weil er nicht so denkt wie wir, ist eine Abscheulichkeit, zu der selbst Kannibalen nicht fähig sind. Wie hätten also die Römer, diese großen Gesetzgeber, ein solches Verbrechen zum Gesetz erheben können? Man könnte antworten, dass die Christen diesen Schrecken so oft begangen haben, dass auch die alten Römer sich damit befleckt haben könnten. Aber der Unterschied ist bemerkenswert. Die Christen, die eine unzählige Menge ihrer Brüder abgeschlachtet haben, waren von einem heftigen Glaubenswahn besessen; sie sagten: „Gott ist für uns gestorben, und die Ungläubigen kreuzigen ihn zum zweiten Mal; lasst uns mit ihrem Blut das Blut Jesu Christi rächen.“ Die Römer haben niemals eine solche Überheblichkeit an den Tag gelegt. Wenn es Verfolgungen gab, dann geschah dies offensichtlich, um eine Partei zu unterdrücken, und nicht, um eine Religion abzuschaffen.

XI. Kirchenväter als Hetzer und Fanatiker

Beziehen wir uns auf Tertullian selbst. Niemals hat ein Mensch mit mehr Heftigkeit geschrieben; Ciceros Philippika gegen Antonius sind Komplimente im Vergleich zu den Beleidigungen, die dieser Afrikaner gegen die Religion des Reiches ausstößt, und den Vorwürfen, die er gegen die Sitten seiner Herren erhebt. Man beschuldigte die Christen, sie tränken Blut, und in der Tat stellt der Wein, den sie beim Abendmahl trinken, das Blut Jesu Christi dar. Dies kontert er mit der Beschuldigung, die römischen Damen würden ein Likörchen trinken, das noch kostbarer ist als das Blut ihrer Liebhaber, ein Etwas, das ich nicht nennen kann und woraus dereinst Menschen hätten werden sollen: Quia futurum sanguinem lambunt.(Kap.IX). [28]

Tertullian beschränkt sich in seiner Apologetik nicht darauf, zu sagen, dass man die christliche Religion tolerieren soll, sondern er gibt an hundert Stellen zu verstehen, sie müsse allein herrschen, sie vertrage sich schlechterdings nicht mit den anderen.

Wer in mein Haus aufgenommen werden will, wird aufgenommen, wenn er klug und nützlich ist; wer es aber nur betritt, um mich zu vertreiben, ist ein Feind, den ich loswerden muss. Offensichtlich wollten die Christen die Kinder aus dem Haus vertreiben, daher war es nur recht und billig, sie zu unterdrücken: Man bestrafte nicht das Christentum, sondern deren intoleranten Teil von Unruhesiftern; und auch dies geschah so selten, dass Origenes und Tertullian, die beiden heftigsten Deklamatoren, in ihren Betten gestorben sind. Unter den ersten Cäsaren wurde keiner der sogenannten Päpste von Rom gefoltert. Sie waren in der Hauptstadt der Welt intolerant und wurden doch darin toleriert. Die armselige Zweideutigkeit des Wortes Märtyrer darf nicht zu der Annahme verleiten, der Papst Telesphorus sei wirklich hingerichtet worden [29]. Märtyrer bedeutete Zeuge, Bekenner.

XII. Der Geisterglaube der Kirchenväter

Um die Intoleranz der ersten Christen kennenzulernen, brauchen wir uns nur auf sie selbst zu beziehen. Wenn wir Tertullians berühmtes Apologetikum aufschlagen, sehen wir dort die Quelle des Hasses zwischen den beiden Parteien [30]. Beide glaubten fest an Zauberei; vom Euphrat und vom Nil bis zum Tiber war dies ein allgemeiner Irrtum des Altertums. Für die unbekannten Krankheiten, die die Menschen plagten, wurden unbekannte Wesen verantwortlich gemacht: Je mehr die Natur ignoriert wurde, desto mehr war das Übernatürliche in Mode. Jedes Volk glaubte an Dämonen und bösartige Geister; und überall gab es Scharlatane, die sich damit brüsteten, die Dämonen mit Worten austreiben zu können.  Ägypter, Chaldäer, Syrer, Juden, griechische und römische Priester – sie alle hatten ihre eigene Zauberformel. In Ägypten und Phönizien wurden Wunder bewirkt, indem man das Wort Jaha, Jehova, auf die gleiche Weise aussprach, wie es im Himmel ausgesprochen wird. Mit dem Wort Abraxas wurden verschiedene Beschwörungen vorgenommen. Durch dieses Wort wurden alle bösen Dämonen, die die Menschen quälten, vertrieben. Tertullian bestreitet die Macht der Dämonen nicht. In Kapitel xxii sagt er: „Apollon erriet, dass Krösus in seinem Palast in Lydien eine Schildkröte mit einem Lamm in einem ehernen Topf kochte. Warum war er so gut informiert? Weil er im Handumdrehen nach Lydien gereist und genauso schnell wieder zurückgekehrt war.“

Tertullian wusste nicht genug, um dieses lächerliche Orakel zu widerlegen; er war so unwissend, dass er es begründete und erklärte. Er fährt fort: „Die Dämonen halten sich in der Luft zwischen den Wolken und den Gestirnen auf. Sie kündigen den Regen an, wenn sie sehen, dass er bereit ist zu fallen, und sie verordnen Heilmittel für Krankheiten, die sie selbst den Menschen gesandt haben.“

Weder er noch ein anderer Kirchenvater bestreitet die Macht der Zauberei, aber alle behaupten, sie könnten durch eine höhere Macht die Dämonen austreiben. Tertullian drückt sich folgendermaßen aus: „Man führe einen vom Teufel Besessenen vor euer Gericht; wenn ein Christ dem Dämon befiehlt zu sprechen, wird er gestehen, dass er nur ein Teufel ist, obwohl er sonst ein Gott ist. Lasst eure himmlische Jungfrau, die den Regen verspricht, und Äskulap, der die Menschen heilt, vor einem Christen erscheinen; wenn er sie nicht im selben Augenblick zwingt zu gestehen, dass sie Teufel sind, dann vergießt das Blut dieses verwegenen Christen.“

Welcher vernünftige Mensch wird beim Lesen dieser Worte nicht davon überzeugt sein, dass Tertullian ein Narr war, der andere Narren übertrumpfen wollte und das Privileg des Fanatismus für sich alleine beanspruchte?

XIII. Der christliche Kampf gegen Rom

Die römischen Magistrate waren in den Augen der Menschen zweifellos entschuldbar, wenn sie das Christentum als für das Reich gefährliche Unruhestifter betrachteten. Sie sahen, wie sich undurchsichtige Leute heimlich versammelten, und dann hörte man, wie sie lautstark gegen alle in Rom üblichen Bräuche deklamierten. Sie hatten eine unglaubliche Menge an falschen Legenden erfunden. Was sollte ein Magistrat denken, wenn er so viele fingierte Schriften sah, so viele Betrügereien, welche die Christen selbst als Betrügereien bezeichneten und mit frommen, betrügerischen Titeln schmückten? Da gab es Briefe von Pilatus an Tiberius über die Person Jesu; Pilatus Lebensgeschichte; Briefe von Tiberius an den Senat und vom Senat an Tiberius über Jesus; Briefe von Paulus an Seneca und von Seneca an Paulus; Kampf des Petrus und des Simon vor Nero; angebliche Sibyllinische Verse; mehr als fünfzig Evangelien, die sich alle voneinander unterscheiden und von denen jedes für den Bezirk, in dem es verbreitet wurde, fabriziert wurde; ein halbes Dutzend Apokalypsen, die nur Vorhersagen gegen Rom enthielten, etc, etc. [31]

Welcher Senator, welcher Rechtsgelehrte hätte an diesen Merkmalen nicht eine Gruppe verderbliche  Unruhestifter erkannt? Die christliche Religion ist ohne Zweifel himmlisch, aber kein römischer Senator hätte das erraten können.

XIV. Beispiele christlicher Fanatiker

Ein gewisser Marcellus (der Soldat) in Afrika wirft seinen Waffengürtel auf den Boden, zerbricht an der Spitze seiner Truppe seinen Kommandostab und erklärt, dass er nur noch dem Gott der Christen dienen will; dieser Aufrührer wird zum Heiligen gemacht.

Ein Diakon namens Laurentius (von Rom), anstatt wie ein normaler Bürger zu den Bedürfnissen des Reiches beizutragen, übergibt er die dem Präfekten versprochenen Geldzahlungen an Einäugige und Lahme. Dieser Aufsässige wird zum Heiligen erklärt.

Polyeuktos, von einem höchst strafbaren Fanatismus mitgerissen, zerschlägt die heiligen Gefäße und Statuen eines Tempels, in dem man dem Himmel für den Sieg des Kaisers dankte; und man macht diesen Störenfried der öffentlichen Ruhe, der das Verbrechen der Majestätsbeleidigung verübte, zu einem Heiligen.

Ein Theodor (Tiro), ein Nachahmer des Herostratus, brennt im Jahr 305 den Tempel der Kybele in Amasia (Amasya) nieder; und dieser Brandstifter wird zum Heiligen erklärt! Die Kaiser und der Senat, die nicht vom Glauben erleuchtet waren, konnten also nicht anders, als das Christentum als eine intolerante Sekte und eine Gruppe verwegener Unruhestifter zu betrachten, die früher oder später für die Menschheit schlimme Folgen haben würde. [32]


XV. Ein römischer Senator befragt einen Christen

Eines Tages erschienen ein Jude mit gesundem Menschenverstand und ein Christ vor einem aufgeklärten Senator, in Gegenwart des weisen Mark Aurel, der sich über ihre Dogmen informieren wollte. Der Senator befragte sie einen nach dem anderen.

Der Senator an den Christen: Warum stört ihr den Frieden des Reiches? Warum begnügt ihr euch nicht wie die Syrer, Ägypter und Juden damit, eure Riten ruhig zu praktizieren? Warum wollt ihr, dass eure Sekte alle anderen auslöscht?

Der Christ: Weil sie die einzig wahre ist. Wir beten einen Juden als Gott an, der in einem Dorf in Judäa unter Kaiser Augustus im Jahr 752 oder 756 des römischen Reiches geboren wurde. Sein Vater und seine Mutter wurden dem heiligen Lukas zufolge in diesem Dorf registriert, als der Kaiser das ganze Universum zählen ließ und Cyrenius zu dieser Zeit Statthalter von Syrien war.

Der Senator: Ihr Lukas hat Sie getäuscht. Cyrenius war erst zehn Jahre nach der Zeit, von der Sie sprechen, Statthalter von Syrien: Damals war Quintilius Varus; das geht aus unseren Annalen hervor, Prokonsul von Syrien. Augustus hatte nie die unsinnige Absicht, die ganze Welt zählen zu lassen, und es gab unter seiner Herrschaft nicht einmal eine vollständige Zählung der römischen Bürger. Selbst wenn eine solche durchgeführt worden wäre, so hätte sie sich nicht auf Judäa erstreckt, das von Herodes regiert wurde, der dem Reich tributpflichtig war, und nicht von Beamten des Kaisers. Der Vater und die Mutter eures Gottes [33] waren, wie ihr sagt, Bewohner eines jüdischen Dorfes; sie waren also keine römischen Bürger und konnten nicht in den Zensus einbezogen werden.

Der Christ: Unser Gott hatte keinen jüdischen Vater. Seine Mutter war eine Jungfrau. Es war Gott selbst, der sie durch die Wirkung eines Geistes, der auch Gott war, schwängerte, ohne dass die Mutter aufhörte, eine Jungfrau zu sein. Und das ist so wahr, dass drei Könige oder drei Philosophen aus dem Osten kamen, um ihn in dem Stall, in dem er geboren wurde, anzubeten, geleitet von einem neuen Stern, der mit ihnen reiste.

Der Senator: Ihr seht es wohl, mein armer Mann, dass man sich über euch lustig gemacht hat. Wenn damals ein neuer Stern erschienen wäre, hätten wir ihn gesehen; die ganze Erde hätte davon gesprochen; alle Astronomen hätten das Phänomen berechnet [34].

Der Christ: Aber doch steht das in unseren heiligen Büchern.

Der Senator: Zeigen Sie mir Ihre Bücher.

Der Christ: Wir zeigen sie keinem Profanen, keinem Gottlosen; Sie sind ein Profaner und ein Gottloser, weil Sie nicht zu unserer Sekte gehören. Wir haben nur sehr wenige Bücher. Sie bleiben in den Händen unserer Meister. Man muss eingeweiht sein, um sie zu lesen. Ich habe sie gelesen, und wenn Ihre Kaiserliche Majestät es gestattet, werde ich Ihnen in ihrer Gegenwart darüber berichten, und sie wird sehen, dass unsere Sekte die Vernunft selbst ist.

Der Senator: Sprechen Sie, der Kaiser befiehlt es Ihnen, und ich möchte gerne vergessen, dass Sie als Christ, der Sie würdiger Weise sind, mich als Gottlosen bezeichnet haben.

Der Christ: Oh, Herr, gottlos ist keine Beleidigung; es kann einen rechtschaffenen Mann bedeuten, der das Pech hat, nicht unserer Meinung zu sein. Aber um dem Kaiser zu gehorchen, werde ich alles sagen, was ich weiß.

Erstens: Unser Gott wurde von einer Jungfrau geboren, die von vier Prostituierten abstammte: Bathseba, die mit David hurt; Thamar, die mit Juda, dem Patriarchen, hurt; Ruth, die mit dem alten Boas hurt; und die Freudentochter Rahab, die mit jederman hurt. Das alles, um zu zeigen, dass die Wege Gottes nicht die Wege der Menschen sind [35].

Zweitens solltet ihr wissen, dass unser Gott durch die Todesstrafe starb, denn ihr habt ihn wie einen Sklaven und einen Dieb ans Kreuz schlagen lassen; denn die Juden hatten damals nicht das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden. Es war Pontius Pilatus, der Jerusalem im Namen des Kaisers Tiberius regierte: Sie werden nicht leugnen, dass dieser Gott, nachdem er öffentlich gehängt worden war, insgeheim wieder auferstand. Aber was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass seine Geburt, sein Leben und sein Tod von allen jüdischen Propheten vorhergesagt worden sind. So hell wie der Tag leuchtet es ein, dass, wenn Jesaja sieben [36] oder vierzehnhundert Jahre vor der Geburt unseres Gottes verkündet: „Ein Mädchen oder eine Frau wird ein Kind gebären, das Butter und Honig essen wird, und es wird Immanuel heißen“ [37], dies bedeutet, dass Jesus Gott sein wird.

In einer unserer Überlieferungen [38] heißt es, dass Juda wie ein junger Löwe sein würde, der sich auf seine Beute stürzt, und dass die Jungfrau nicht aus Judas Schenkeln hervorkommen würde, bis dass der Held (Schilo) komme. Die ganze Welt wird zugeben, dass jedes dieser Worte beweist, dass Jesus Gott ist. Jene anderen bemerkenswerten Worte: Er bindet sein Eselchen an den Weinstock, beweisen geradewegs und vollends, dass Jesus Gott ist.

Es ist wahr, dass er nicht plötzlich Gott war, sondern nur Sohn Gottes. Aber er wurde bald erhöht, als wir in Alexandria mit einigen Platonikern Bekanntschaft machten. Sie lehrten uns, was das Wort wäre, von dem wir noch nie etwas gehört hatten, und dass Gott alles durch sein Wort, durch seinen Logos, tue. So wurde Jesus zum Logos Gottes, und da der Mensch und das Wort ein und dasselbe sind, ist es klar, dass Jesus, der das Wort ist, offenkundig auch Gott ist.

Wenn Sie uns fragen, warum Gott nach Judäa gekommen ist, um sich dort hinrichten zu lassen, so steht fest, dass er gekommen ist, um die Sünde von der Erde tilgen; denn seit seiner Hinrichtung hat niemand unter seinen Auserwählten auch nur den geringsten Fehler begangen. Und seine Auserwählten, zu denen ich gehöre, machen die ganze Welt aus; der Rest ist ein Haufen von Verworfenen, der als Nichts gelten muss. Die Welt ist nur für die Auserwählten geschaffen. Unsere Religion geht auf den Ursprung der Welt zurück, denn sie beruht auf der jüdischen, die sie zerstört, und diese jüdische beruht auf der Religion eines Chaldäers namens Abraham; die Religion Abrahams hat die Religion Noahs, die ihr nicht kennt, weiterentwickelt, und die Religion Noahs ist eine Reform der Religion Adams und Evas, die die Römer noch weniger kennen. So hat Gott seine universelle Religion fünfmal verändert, ohne dass jemand davon wusste, außer den Juden damals und außer uns heute, die wir an die Stelle der Juden getreten sind. Diese Abstammung, die so alt ist wie die Erde, die Sünde des ersten Menschen, die durch das Blut des hebräischen Gottes erlöst wurde, die von allen Propheten vorhergesagte Menschwerdung dieses Gottes, sein Tod, der in allen Ereignissen der jüdischen Geschichte dargestellt wird, seine Wunder, die vor den Augen der ganzen Welt in einem Winkel Galiläas geschehen sind, sein Leben, das außerhalb Jerusalems geschrieben wurde, fünfzig Jahre nachdem er in Jerusalem hingerichtet wurde. Platons Logos, den wir mit Jesus identifiziert haben, entfacht die Feuer der Unterwelt, die wir jedem androhen, der nicht an ihn und an uns glaubt [39] – all dieses große Bild leuchtender Wahrheiten zeigt, dass das römische Reich uns unterworfen sein wird und dass der Thron der Cäsaren zum Thron der christlichen Religion wird.

Der Senator: Das könnte geschehen. Der Pöbel lässt sich gerne verführen; es gibt immer mindestens hundert dumme und fanatische Gesellen gegen einen klugen Bürger. Sie erzählen mir von den Wundern Ihres Gottes: Gewiss, wenn man sich von Prophezeiungen und Wundern betören lässt, sie mit Platos Logos verknüpft, und wenn man auf diese Weise die Augen, die Ohren und den Verstand der einfachen Leute fasziniert, wenn man mit Hilfe einer unsinnigen Metaphysik, die als göttlich angesehen wird, die Phantasie der Menschen, die immer das Wunderbare lieben, erhitzt, dann kann man es eines Tages schaffen, das Reich umzustürzen. Aber, sagen Sie uns, welche Wunder hat Ihr Judengott vollbracht?

Der Christ: Das erste ist, dass der Teufel ihn auf einen Berg führte [40]; das zweite, dass er auf einer Bauernhochzeit, wo alle betrunken waren [41] und der ganze Wein getrunken war, das Wasser in Wein verwandelte und in Krüge füllen ließ. Aber das schönste aller seiner Wunder ist: Er schickte obwohl es in dem Land keine Schweine gab, doch zweitausend solchen Tieren ein paar Teufel in den Leib, so dass sie sich in einen See stürzten und ertranken [42].

XVI. Marc Aurel bitten einen Juden, Stellung zu nehmen

Marc Aurel war gelangweilt von diesen göttlichen Dingen, die seinem verblendeten Geist nur wie ausgemachte Tollheiten vorkamen, und befahl dem Christen, der sonst noch lange fortgeschwatzt haben würde, zu schweigen. Dann verlangte er, der Jude solle sich erklären und ihm sagen, ob die christliche Sekte wirklich ein Zweig der jüdischen sei und was er von der einen wie von der anderen halte. Der Jude verbeugte sich tief, erhob die Augen gen Himmel und äußerte sich wie folgt:

„Heilige Majestät, zuerst will ich Euch sagen, dass die Juden weit davon entfernt sind, so herrschsüchtig wie die Christen zu sein. Wir sind nicht so verwegen, die ganze Welt unseren Ansichten unterwerfen zu wollen; sondern sind schon zufrieden, wenn man uns nur toleriert, und respektieren alle eure Gebräuche, allerdings ohne sie anzunehmen; man sieht uns in euren Städten und Lagern keinen Aufruhr stiften; wir haben noch keinem Römer die Vorhaut abgeschnitten, während die Christen sie taufen. Wir glauben an Moses, aber wir ermahnen keinen Römer, dies auch zu tun; wir sind (zumindest jetzt) so friedlich und ergeben, wie die Christen unruhig und aufrührerisch sind.

„Ihr habt erfahren, welch schöne Wunder unsere grausamen Feinde ihrem angeblichen Gott zuschreiben. Handelte es sich hier um Wunder, würden wir euch zuerst eine Schlange [43] zeigen, die mit unserer guten gemeinsamen Mutter spricht; eine Eselin, die sich mit einem götzendienerischen Propheten [44] unterhält, und diesen Propheten selbst, der gekommen ist, um uns zu verfluchen, und uns wider Willen segnete. Ich würde Euch einen Moses zeigen, der alle Zauberer des ägyptischen Königs an Wundern übertrifft, ein ganzes Land mit Fröschen und Läusen überzieht und nach dem Vorbild des alten Bacchus, zwei oder drei Millionen Juden trockenen Fußes durch das Rote Meer führt [45]. Ich würde Euch einen Josua zeigen, der um elf Uhr morgens einen Steinhagel auf die Bewohner eines feindlichen Dorfes niedergehen lässt und die Sonne und den Mond um zwölf Uhr mittags anhält, um Zeit zu haben, seine Feinde, die bereits tot waren, besser zu töten. Ihr werdet zugeben, Heilige Majestät, dass die zweitausend Schweine, in welche Jesus den Teufel schickt, eine Kleinigkeit sind im Vergleich zu Josuas Sonne und Mond und Moses‘ Rotem Meer; aber ich will nicht auf unseren alten Wundern herumreiten, sondern die Weisheit unseres Geschichtsschreibers Josephus Flavius aufgreifen, der, indem er diese Wunder so wiedergibt, wie sie von unseren Priestern aufgeschrieben wurden, dem Leser die Freiheit gibt, sich darüber lustig zu machen.

Ich komme zu dem Unterschied, der zwischen uns und den christlichen Sektierern besteht. Eure Heilige Majestät wird wissen, dass es zu allen Zeiten in Ägypten und Syrien Enthusiasten gab, die, ohne rechtlich dazu befugt zu sein, sich anmaßten, im Namen der Gottheit zu sprechen; wir haben viele von ihnen unter uns gehabt, besonders in unseren Unglückszeiten; aber gewiss hat keiner von ihnen einen Mann wie Jesus vorhergesagt und konnte es auch nicht. Hätten sie unmöglicherweise wirklich von diesem Mann prophezeit, so hätten sie zumindest seinen Namen bekannt gegeben, der aber in keiner ihrer Schriften zu finden ist; sie hätten gesagt, Jesus werde von einer Frau namens Mirja geboren, die von den Christen lächerlicherweise Maria genannt wird; ferner: Die Römer würden ihn auf Drängen des Hohen Rates aufhängen lassen. Die Christen antworten auf diesen starken Einwand, dass die Propheten dann zu deutlich gewesen wären und dass es notwendig gewesen wäre, Gott zu verbergen. Was für eine Antwort von Scharlatanen und Fanatikern! Wie, wenn Gott durch den Mund eines von ihm selbst inspirierten Propheten spricht,  soll er nicht deutlich sprechen? Wie, der Gott der Wahrheit soll sich nur durch Zweideutigkeiten erklären, die zur Lüge gehören? Dieser schwachsinnige Fanatiker, der vor mir sprach, zeigte die ganze Schändlichkeit seines Systems, indem er die angeblichen Prophezeiungen wiedergab, die die christliche Sekte durch absurde Interpretationen zu Gunsten von Jesus zu verfälschen versucht.

Die Christen suchen überall nach Prophezeiungen; sie treiben den Wahnsinn so weit, dass sie Jesus in einer Ekloge [46] von Vergil finden; sie wollten ihn in den Versen der Sibyllen finden; und als sie damit nicht fertig wurden, hatten sie die absurde Kühnheit, eine Prophezeiung in griechischen Akrostichen zu fälschen, die sogar gegen die Gesetze der Quantität sündigen: Ich führe sie Eurer Heiligen Majestät einmal vor Augen.

Der Jude griff daraufhin in seine schmutzige und fettige Tasche und holte die Vorhersage hervor, die der heilige Justinus und andere den Sibyllen zugeschrieben hatten: 

Mit fünf Broten und zwei Fischelein
Macht er in der Wüste fünftausend Menschen satt,
Die übrig gebliebenen Brocken sammelt er ein.
Und damit noch zwölf Körbe gefüllet hat. [47]

XVII. Der Jude kritisiert das Christentum

Mark Aurel zuckte mitleidig die Schultern, und der Jude fuhr fort: „Ich will nicht verhehlen, dass wir in unserer Notzeit auf einen Befreier gewartet haben. Damit trösten sich alle unglücklichen Nationen, besonders in Sklaverei geratene. Jeden, der uns Gutes erwies, nannten wir immer einen Messias, so wie die Bettler jeden, der ihnen ein Almosen gibt, domine, gnädiger Herr nennen; denn wir dürfen hier nicht die Stolzen spielen wollen: Non tanta superbia victis [48]. Wir können uns durchaus mit Bettlern vergleichen, ohne deshalb rot zu werden.

„Messias bedeutet gesalbt. Die jüdischen Könige waren gesalbt; Jesus war nie gesalbt, und wir sehen nicht, warum seine Jünger ihn als gesalbt, als Messias bezeichnen. Nur einer ihrer Geschichtsschreiber gibt ihm den Titel „Messias“, „Gesalbter“, nämlich Johannes oder derjenige, der eines der fünfzig Evangelien unter dem Namen Johannes geschrieben hat [49].

„Jesus war ein Mann aus dem gemeinen Volk, der den Propheten geben wollte wie viele andere, aber er hat nie behauptet, ein neues Gesetz aufstellen zu wollen. Diejenigen, die seine Lebensgeschichte unter den Namen Matthäus, Markus, Lukas und Johannes aufschrieben, sagen an hundert Stellen, er habe das Gesetz des Mose befolgt. Nach diesem Gesetz wurde er beschnitten, nach diesem Gesetz ging er in den Tempel. Er sagte: „Ich bin gekommen, das Gesetz zu erfüllen, das durch Mose gegeben ist; ihr habt das Gesetz und die Propheten. Das Gesetz des Mose darf nicht zerstört werden [50]“.

„Jesus war also wirklich nur einer unserer Juden, der das jüdische Gesetz predigte. In diesem jüdischen Gesetz steht, es solle ewig sein. „Fügt nicht ein einziges Wort hinzu und entfernt auch nicht ein einziges Wort [51].“

Und mehr noch: Wir finden in diesem Gesetz die folgenden Worte: „Wenn unter euch ein Prophet aufsteht oder einer, der sagt, er habe im Traum eine Vision gehabt, und er sagt Zeichen und Wunder voraus, und wenn diese Zeichen und Wunder geschehen und er zu euch sagt: Lasst uns neuen Göttern folgen, dann soll dieser Prophet mit dem Tod bestraft werden, weil er euch von dem Weg abbringen will, den Gott, der Herr, euch geboten hat. Wenn dein Bruder oder der Sohn deiner Mutter oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau oder dein Freund, den du wie deine Seele liebst, zu euch sagt: Lasst uns gehen und anderen Göttern dienen usw., dann tötet ihn sofort, und das ganze Volk soll ihn nach euch erschlagen [52]“.

„All diesen Geboten zufolge, von denen ich nicht behaupten will, dass sie gar zu mild sind, hätte Jesus hingerichtet werden müssen, wenn er wirklich am mosaischen Gesetz etwas hätte ändern wollen. Aber wenn wir dem eigenen Zeugnis derer glauben, die zu seinen Gunsten geschrieben haben, werden wir sehen, dass er nur deshalb vor den Römern angeklagt wurde, weil er stets die Obrigkeit beleidigt und die öffentliche Ordnung gestört hatte. Sie sagen [53], dass er die Obrigkeit ständig als „Ich frage aber, welchen Römer man nicht bestrafen würde, wenn er jeden Tag zum Fuß des Kapitols ginge und die Senatoren als Scheintote, als Schlangenbrut bezeichnete. Man beschuldigte ihn Gott gelästert [54], Händlern im Vorhof des Tempels geschlagen zu haben dass er behauptete, den Tempel zu zerstören und ihn in drei Tagen wieder aufzubauen; alles Unsinn, der nur die Peitsche verdiente.

„ Es wird gesagt, dass er auch deshalb beschuldigt wurde, weil er sich selbst als Sohn Gottes bezeichnet habe; aber die unwissenden Christen, die seine Geschichte geschrieben haben, wissen nicht, dass bei uns ‚Sohn Gottes‘ ‚Guter Mensch‘ bedeutet, so wie ‚Sohn Belials‘ einen bösen Menschen bezeichnet. Eine Äquivokation hat dies alles bewirkt, und es ist eine reine Wortklauberei, der Jesus seine Göttlichkeit verdankt. So kommt es, dass unter den Christen derjenige, der sich den Titel eines Bischofs von Rom anmaßt, behauptet, er stehe über den anderen Bischöfen, weil Jesus eines Tages zu ihm gesagt haben soll: „Du bist Petrus [55], und auf diesen Stein werde ich meine Gemeinde bauen.“

„ Gewiss dachte Jesus trotz der Doppeldeutigkeit jenes Ausdrucks niemals daran, sich im buchstäblichen Sinn für einen Sohn Gottes auszugeben, wie es Alexander, Bacchus, Perseus und Romulus getan hatten. Das Johannes zugeschriebene Evangelium sagt selbst ausdrücklich, dass ihn Philippus und Nathanael als den Sohn Josephs, des Zimmermanns aus dem Dorf Nazareth, ansahen [56]

Andere Christen haben unter den Namen Matthäus und Lukas lächerliche und widersprüchliche Genealogien von ihm zusammengestellt: Sie sagen, Mirja oder Maria sei von einem Geist schwanger geworden, und gleichzeitig bringen sie die Genealogie von Joseph, seinem mutmaßlichen Vater. Diese beiden Genealogien weichen jedoch sowohl in den Namen als auch in der Anzahl seiner angeblichen Vorfahren völlig voneinander ab: Es steht fest, Heilige Majestät, dass ein so gewaltiger und lächerlicher Schwindel für immer in dem Schlamm begraben worden wäre, in dem das Christentum geboren wurde, wenn die Christen in Alexandria nicht auf Platoniker gestoßen wären, denen sie einige Ideen entnommen haben, und wenn sie ihre Mysterien nicht durch diese vorherrschende Philosophie untermauert hätten. Das ist es, was sie bei denen erfolgreich gemacht hat, die sich mit großen Worten und philosophischen Hirngespinsten begnügen.

Mit irgendeiner Platonischen Dreieinigkeit, mit irgendwelchen emphatischen Mysterien wurde die unwissende, nach Neuem gierende Menge berührt und beeindruckt. Die Moral dieser Neulinge ist gewiss nicht besser als die Eure und unsere, ja sie ist sogar schädlich. Sie lassen diesen Jesus sagen [57]: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert [58]; Ihr sollt eure Freunde nicht zum Essen laden, wenn sie reich sind; wer nicht ein schönes Kleid zum Festmahl trägt, soll in den Kerker geworfen werden; ihr sollt die Vorübergehenden nötigen, zu eurem Festmahl hereinzukommen“, und hundert empörende Dummheiten der gleichen Art mehr.

„Da sich die christlichen Bücher auf jeder Seite widersprechen, lassen sie ihn auch sagen, man solle seinen Nächsten lieben, obwohl er an anderer Stelle sagt, man müsse Vater und Mutter hassen, um seiner würdig zu sein [59]; aber durch einen unfassbaren Irrtum finden wir in dem Johannes zugeschriebenen Evangelium seine eigenen Worte: „Ein neues Gebot gebe ich auf [60], nämlich dass ihr einander liebt.“ Wie kann er diesem Gebot das Epitheton „neu“ geben, da dieses Gebot zu allen Religionen gehört und in der unsrigen ausdrücklich mit unendlich stärkeren Worten ausgesprochen wird: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“? [61]

„‚Ihr seht also, großer Kaiser, wie die Christen in die vernünftigsten Dinge Betrug und Unvernunft einbauen. Sie verhüllen alle ihre Neuerungen mit den Schleiern des Geheimnisses und dem Anschein von Heiligkeit. Man sieht sie von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf laufen, Frauen und Mädchen aufhetzen und ihnen das Ende der Welt predigen. Sie sagen, dass die Welt untergehen wird. Ihr Jesus hat prophezeite, dass in seiner Generation [62], die Erde zerstört werden würde und dass er in einer Wolke mit großer Macht und Herrlichkeit kommen würde. Der Apostel Saulus prophezeite es ebenso; er schrieb den Fanatikern in Thessaloniki [63], dass sie mit ihm in der Luft Jesus entgegengehen würden.

“ Aber die Welt gibt es noch trotzdem erwarten die Christen noch immer ihr baldiges Ende; sie sehen schon einen neuen Himmel und eine neue Erde entstehen; zwei Narren, Justin und Tertullian genannt, haben schon vierzig Nächte lang [64] mit ihren eigenen Augen das neue Jerusalem gesehen, dessen Mauern, wie sie sagen, einen Umfang von fünfhundert Meilen haben, und in dem die Christen tausend Jahre lang wohnen und den köstlichen Wein eines Weinstocks trinken sollen, von dem jede Rebe zehntausend Rispen und jede Rispe zehntausend Trauben tragen wird.

“ Eure Majestät wundere sich nicht, wenn sie Rom und euer Reich hassen, da sie nur auf ihr neues Jerusalem setzen. Sie machen es sich zur Pflicht, niemals öffentlich über eure Siege zu jubeln; sie krönen ihre Säulenhallen nicht mit Blumen, sie sagen, das sei Götzendienst. Wir hingegen lassen es nie daran fehlen. Ihr habt sogar geruht, Geschenke von uns anzunehmen; wir sind treue Besiegte, sie aber sind aufrührerische Untertanen. Richtet nun selbst zwischen uns und ihnen.

Der Kaiser wandte sich an den Senator und sagte: „Ich halte sie für gleichermaßen nättisch; aber das Reich hat von den Juden nichts zu befürchten, wohl aber alles von den Christen.“ Mit dieser Vermutung irrte sich Mark Aurel keineswegs.

XVIII. Konstantin und das Konzil von Nicäa

Es ist hinlänglich bekannt, dass die Christen, nachdem sie fast dreihundert Jahre lang durch Handel enorm reich geworden waren, Constantius Chlorus und Constantius, dem Sohn dieses Constantius und seiner Konkubine Helena, Geld liehen. Frömmigkeit war sicherlich nicht der Grund, warum ein Monster wie Konstantin, der mit dem Blut seines Schwiegervaters, seines Schwagers, seines Neffen, seines Sohnes und seiner Frau befleckt war, das Christentum annahm. Das Reich steuerte von da an sichtbar auf seinen Untergang zu.

Konstantin begann zunächst damit, allen Religionen Freiheit zu gewähren, und sofort wurde diese Freiheit von den Christen auf bemerkenswerte Weise missbraucht. Jeder, der ein wenig gelesen hat, weiß, dass sie den jungen Candidius, den Sohn des Kaisers Galerius, und die Hoffnung der Römer ermordeten; dass sie den Sohn des Kaisers Maximin, fast noch in der Wiege, und seine siebenjährige Tochter abschlachteten; dass sie ihre Mutter im Orontes ertränkten; dass sie die Kaiserin Valeria, die Witwe des Galerius, von Antiochia bis Thessaloniki verfolgten; dass sie ihren Leib in Stücke hackten und ihre blutigen Glieder ins Meer warfen.

So bereiteten sich diese sanftmütigen Christen auf das große Konzil von Nizäa vor; durch diese heiligen Taten brachten sie den Heiligen Geist dazu, inmitten ihrer Streitigkeiten zu entscheiden, dass Jesus vom Wesen her Gott war aber nicht wesensgleich, was für das römische Reich sehr wichtig war. Im letzten Teil der Akten dieses Konzils der Zwietracht lesen wir von dem Wunder, das der Heilige Geist bewirkte, indem er die kanonischen Schriften von den Büchern, die Apokryphen genannt werden, unterschied. Man legte sie alle auf einen Tisch, und die apokryphischen fielen samt und sonders auf den Boden.

Ich wünschte, Gott hätte nur die Bücher auf dem Tisch gelassen, die Frieden, allgemeine Nächstenliebe, Toleranz und Abneigung gegen all die absurden und grausamen Streitigkeiten empfehlen, die den Osten und den Westen verwüstet haben. Aber solche Bücher gab es nicht.

XIX. Die Kirche: blutig und verheerend

Der Geist der Zwietracht, der Unentschlossenheit, der Spaltung und des Streits hatte an der Wiege der Kirche Pate gestanden. Paulus, jener Verfolger der ersten Christen, den sein Zorn über seinen Lehrer Gamaliel selbst zum Christen gemacht hatte, dieser ungestüme Paulus, Stephans Mörder, ließ seinen rücksichtslosen Charakter auch gegen Simon Barjonas ausbrechen. Unmittelbar nach diesem Streit spalteten sich die Jünger Jesu, die sich noch nicht Christen nannten, in zwei Parteien, von denen die eine die Armen und die andere die Nazarener genannt wurde. Die Armen, d. h. die Ebioniten, waren Halbjuden wie ihre Gegner und wollten das mosaische Gesetz beibehalten; die man Nazarener, nach Nazareth, Jesus Herkunftsort, nannte, wollten nichts vom Alten Testament wissen und betrachteten es nur als Vorläufer des Neuen, als eine fortlaufende Prophezeiung im Hinblick auf Jesus, als ein Mysterium, das ein neues Mysterium ankündigte; diese Lehre war viel wunderbarer als die andere und gewann am Ende die Oberhand; und die Ebioniten verschmolzen mit den Nazarenern.

Unter diesen Christen entstand in jeder syrischen, ägyptischen, griechischen und römischen Stadt eine eigene Sekte, die sich von den anderen unterschied. Diese Spaltung hielt bis Konstantin an, und zur Zeit des großen Konzils von Nizäa wurden alle diese kleinen Parteien von den beiden großen Sekten der Omoiousianer und Omousianer unterdrückt, wobei die ersten für Arius und Eusebius, die zweiten für Alexander und Athanasius standen; es wie im Prozess um des Esels Schattens [65]: Niemand verstand etwas davon. Selbst Konstantin hatte die Lächerlichkeit des Streits gespürt und beiden Parteien geschrieben, „dass es eine Schande sei, sich wegen eines so unbedeutenden Themas zu streiten.“ Je absurder der Streit, desto blutiger wurde er; ein Diphthong mehr oder weniger verwüstete das Römische Reich dreihundert Jahre lang.

XX. Das tyrannische Christentum

Seit dem 4. Jahrhundert begann sich die Kirche des Ostens von der Kirche des Westens zu trennen. 342 versammelten sich die Bischöfe des Ostens in Philippopoli und exkommunizierten den Bischof von Rom, Julius. Und der Hass, der seither unversöhnlich zwischen den christlichen Priestern, die Griechisch sprechen, und den christlichen Priestern, die Latein sprechen, war, brach aus. Überall stellt man Konzil gegen Konzil, und der Heilige Geist, der sie inspirierte, vermochte nicht zu verhindern, dass sich die Väter manchmal mit Stöcken bekämpften. Das Blut floss unter den Kindern Konstantins, die wie ihr Vater Ungeheuer der Grausamkeit waren, auf allen Seiten. Kaiser Julian, der Philosoph, konnte der Wut der Christen keinen Einhalt gebieten. Man sollte sich immer den 52. Brief dieses großen Kaisers vor Augen halten.

„Unter meinem Vorgänger wurden viele Christen vertrieben, eingekerkert und verfolgt; eine große Menge der sogenannten Häretiker wurde in Samosata, Paphlagonien, Bithynien, Galatien und vielen anderen Provinzen ermordet; Städte wurden geplündert und verwüstet. Unter meiner Herrschaft wurden die Verbannten zurückgerufen und die beschlagnahmten Güter zurückgegeben. Dennoch ist ihre Wut so ausgeartet, dass sie sich darüber beschweren, weil es ihnen nicht mehr erlaubt ist, grausam zu sein und sich gegenseitig zu tyrannisieren.“

XXI. Das grausame Christentum und Theodosius

Man weiß zur Genüge, dass der unbarmherzige Theodosius, ein Emporkömmling, der es vom spanischen Soldat zum Kaiser gebracht hatte, grausam wie Sylla und verschlagen wie Tiberius, dem Volk von Thessaloniki, der Stadt, in der er die Taufe empfangen hatte, zunächst vorspielte, ihm zu vergeben, dass es im Jahr 390 bei den Zirkusspielen einen Aufruhr veranstaltet hatte. Doch sechs Monate nachdem er versprochen hatte, alles zu vergessen, lud er das Volk zu neuen Spielen ein, und sobald der Zirkus voll war, ließ er ihn von Soldaten umstellen und befahl, alle Zuschauer abzuschlachten, ohne einem einzigen zu vergeben. Es ist kaum zu glauben, dass es jemals auf der Erde eine so abscheuliche Tat gegeben hat. Dieser kaltblütige Horror, der nur allzu wahr ist, scheint nicht in der menschlichen Natur zu liegen, aber was noch mehr gegen die Natur verstößt, ist, dass die Soldaten gehorchten und dass diese Ungeheuer für einen geringen Sold fünfzehntausend wehrlosen Menschen, Greisen, Frauen und Kindern, ermordeten.

Um Theodosius zu entschuldigen, sagen einige Autoren, es seien nur siebentausend Menschen niedergemetzelt worden; aber es ist ebenso statthaft, zwanzigtausend aufzuzählen, wie die Zahl auf sieben zu reduzieren. Es wäre besser gewesen, wenn diese Soldaten Kaiser Theodosius getötet hätten, wie sie so viele andere getötet haben, als fünfzehntausend ihrer eigenen Landsleute zu ermorden. Das römische Volk hatte den Spanier nicht gewählt, damit er es nach seinem Belieben abschlachtete. Das ganze Reich war empört über ihn und seinen Minister Rufinus, der das Hauptwerkzeug dieses Gemetzels war. Er befürchtete, dass ein neuer Konkurrent diese Gelegenheit nutzen würde, um ihm die Krone zu entreißen; so reiste er rasch nach Italien, wo das Entsetzen über sein Verbrechen alle gegen ihn aufbrachte; und er verzichtete, um das Volk zu besänftigen, eine Weile darauf, in die Kirche in Mailand zu gehen. Was für eine allerliebste Wiedergutmachung! Sühnt man das Blut seiner Untertanen, indem man nicht zur Messe geht? Alle Kirchengeschichten, alle von der Kirche autorisierten Erklärungen feiern die Buße des Theodosius, und alle Lehrer katholischer Prinzen stellen ihren Schülern noch heute die Kaiser Theodosius und Konstantin als Vorbilder vor. Zwei der bluttrünstigsten Tyrannen, die den Thron der Titus, Trajan, Mark Aurel, Alexander Severus und des Philosophen Julian besudelt haben, der stets kämpfte und vergeben konnte.

XXII. Ketzerverfolgung

Unter der Herrschaft dieses Theodosius bewilligte im Jahr 383 ein anderer Tyrann namens Maximus den spanischen Bischöfen, um sie auf seine Seite zu ziehen, das Blut des Priscillianus und seiner Anhänger, die von diesen als Ketzer verfolgt wurden. Was die Ketzerei dieser armen Leute war, wissen wir nur aus den Anschuldigungen, die ihre Feinde gegen sie erhoben. Sie waren nicht der Meinung der anderen Bischöfe, und allein deswegen gingen zwei von den anderen delegierte Prälaten nach Trier, wo Kaiser Maximus weilte, und ließen Priscillian und sieben Priester in ihrer Gegenwart foltern und durch die Hand der Henker hinrichten.

Seit dieser Zeit war es in der christlichen Kirche ein Grundgesetz, dass das schreckliche Verbrechen, nicht die Meinung der mächtigsten Bischöfe zu teilen, mit dem Tod bestraft werden müsse; und da die Ketzerei als das größte aller Verbrechen angesehen wurde, übergab die Kirche, die Blut verabscheut, bald alle Schuldigen den Flammen. Der Grund dafür ist offensichtlich: Es ist gewiss, dass ein Mensch, der nicht mit dem Bischof von Rom übereinstimmt, in der anderen Welt auf ewig verbrannt wird; Gott ist gerecht, die Kirche Gottes muss gerecht sein wie er; sie muss also in dieser Welt die Körper verbrennen, die Gott dann in der anderen Welt verbrennt.

XXIII. Die Ermordung der Philosophin Hypatia

Noch unter der Herrschaft von Theodosius, im Jahre 415, wurden fünfhundert von göttlichem Eifer erfüllte Mönche vom heiligen Cyrillus dazu aufgefordert, in Alexandria jeden zu ermorden, der nicht an unseren Herrn Jesus glaubte. Sie wiegelten das Volk auf und verletzten den Statthalter mit Steinen, weil er so unverschämt war, ihren heiligen Zorn dämpfen zu wollen. Zu jener Zeit lebte in Alexandria ein Mädchen namens Hypatia, das als Wunder der Natur angesehen wurde. Ihr Vater, der Philosoph Theon, hatte sie in den Wissenschaften unterrichtet. Sie war achtundzwanzig Jahre alt als sie diese lehrte. Die Historiker, selbst die christlichen, berichten, dass ihre seltenen Talente durch ihre außergewöhnliche Schönheit, verbunden mit der größten Bescheidenheit, noch verstärkt wurden. Aber sie gehörte der alten ägyptischen Religion an und Orestes, der Gouverneur von Alexandria, beschützte sie; das war schon genug. Der Heilige Cyrillus schickte einen seiner Subdiakone namens Petrus an der Spitze der Mönche und anderer Aufrührer zu Hypatias Haus; sie brachen die Türen auf, suchten sie in jedem Winkel, in dem sie sich verstecken konnte, und als sie sie nicht fanden, steckten sie das Haus in Brand: Sie entkommt, wird ergriffen, in eine Kirche namens Caesarea geschleppt und nackt ausgezogen. Die Reize ihres Körpers rühren einige dieser Tiger; doch die anderen sehen, dass sie nicht an Jesus Christus glaubt, steinigen sie zu Tode, reißen sie in Stücke und schleifen ihren Leichnam in der Stadt umher.

Welch ein Kontrast bietet sich dem aufmerksamen Leser hier! Diese Hypatia hatte einen reichen Mann namens Synesius  in Geometrie und platonischer Philosophie unterrichtet, der noch nicht getauft war. Die ägyptischen Bischöfe wollten Synesius, den Reichen, unbedingt als Kollegen haben und ließen ihm das Bistum Ptolemaida verleihen.

Er erklärte ihnen, dass er sich, wenn er Bischof wäre, nie von seiner Frau trennen würde, obwohl den Prälaten die Trennung seit einiger Zeit befohlen worden war; dass er nicht auf das Vergnügen der Jagd verzichten wolle, das man ebenfalls verboten hatte; dass er nie Mysterien lehren würde, die den gesunden Menschenverstand beleidigen würden; er könne nicht glauben, dass die Seele erst nach dem Körper geschaffen worden sei; die Auferstehung und viele andere Lehren der Christen seien für ihn Hirngespinste; er werde sich nicht öffentlich dagegen aussprechen, aber er werde sie niemals lehren; wenn man ihn um diesen Preis zum Bischof machen wolle, sei er sich noch nicht einmal sicher, ob er einwilligen würde.

Die Bischöfe blieben hartnäckig: Er wurde getauft, zum Diakon, Priester und Bischof gemacht; er brachte seine Tugend mit seinem Amt in Einklang; dies ist eine der am besten belegten Tatsachen der Kirchengeschichte.

So wurde also ein Platoniker, ein Deist, ein Feind der christlichen Dogmen mit der Zustimmung aller seiner Kollegen Bischof, und er war der beste aller Bischöfe, während Hypatia auf Befehl oder zumindest mit dem Einverständnis eines Bischofs von Alexandria, der als Heiliger geehrt wurde, in der Kirche frommerweise ermordet wurde. Leser, denke nach und urteile; und ihr, Bischöfe, versucht, Synesius nachzuahmen.

XXIV. Der blutige Streit um Bilder

Wenn man nur ein wenig in der Geschichte liest, wird man feststellen, dass es keinen einzigen Tag gibt, an dem die christlichen Dogmen nicht zu Blutvergießen geführt haben, sei es in Afrika, Kleinasien, Syrien, Griechenland oder in den anderen Provinzen des Kaiserreichs. Und die Christen hörten in Afrika und Asien erst dann auf, sich gegenseitig umzubringen, als die Muslime, ihre Sieger, sie entwaffneten und ihrer Raserei Einhalt geboten.

Doch in Konstantinopel und in den übrigen christlichen Staaten gewann die alte Wüterei neue Kraft. Jederman weiß, was der Streit um die Bilderverehrung das Römische Reich gekostet hat. Wer ist nicht entrüstet, wessen Herz empört sich nicht, wenn man zwei Jahrhunderte lang unzählige Mordtaten geschehen sieht, bloß um einen Kult für die Bilder der heiligen Potamiana und der heiligen Ursula zu etablieren? Wer weiß nicht, dass die Christen in den ersten drei Jahrhunderten es sich zur Pflicht machten, gar keine Bilder zu besitzen? Hätte es damals ein Christ gewagt, ein Bild oder eine Statue in einer Kirche aufzustellen, wäre er wie ein Götzendiener aus der Gemeinde vertrieben worden. Diejenigen, die an diese frühen Zeiten erinnern wollten, wurden lange Zeit als schändliche Ketzer angesehen: Sie wurden Ikonoklasten genannt, und über diese blutigen Streitereien haben die Kaiser von Konstantinopel den Occident verloren.

XXV. Die Kirche: Eine Verbrecherorganisation

Wir wollen hier nicht wiederholen, auf welchen Stufen voll Blut die Bischöfe von Rom aufgestiegen sind, wie sie es geschafft haben, Könige dazu zu bringen, sich ihnen vor die Füße zu werfen, bis hin zu der lächerlichen Vorstellung, unfehlbar zu sein. Wir wollen nicht wiederholen, wie sie alle Throne des Abendlandes verschenkten und allen Völkern das Geld aus der Tasche zogen; auch nicht, wie in siebenundzwanzig blutigen Schismen Päpste und Gegenpäpste sich um uns als ihre Beute stritten. Diese Zeiten des Schreckens und der Schmach sind nur allzu bekannt. Es wurde schon oft genug gesagt, dass die Geschichte der Kirche die Geschichte der Torheiten und Verbrechen ist.

XXVI. Dass man die Greueltaten nicht vergessen soll

„Omnia,jam vulgata“.

              Virgil, Georg, III, v. 4.

Alles sank schon verbraucht, Vergil, Vom Landbau

Jeder sollte am Kopfende seines Bettes eine Tafel haben, auf der in großen Buchstaben steht: „Blutige Kreuzzüge gegen die Einwohner Preußens und des Languedoc; Massaker in Merindol; Blutbäder in Deutschland und Frankreich wegen der Reformation; Bartholomäus-Blutbad; Blutbäder in Irland; Massaker in den Tälern Savoyens; Justiz-Blutbäder; Inquisitions-Blutbäder; unzählige Einkerkerungen und Verbannungen wegen Streitigkeiten über des Esels Schatten“.

Man würde jeden Morgen mit Abscheu auf dieses Verzeichnis religiöser Verbrechen blicken und beten: „Mein Gott, befreie uns vom Fanatismus.“

XXVII. Vom Unheil der Dogmen

Um die Gnade göttlicher Barmherzigkeit zu erlangen, ist es nötig, unter allen Menschen, die Redlichkeit und einige Aufklärung besitzen, die absurden und verhängnisvollen Dogmen zu zerstören, die so viele Grausamkeiten hervorgebracht haben. Ja, unter diesen Dogmen gibt es womöglich solche, die Gott ebenso beleidigen wie sie die Menschheit verderben.

Um vernünftig darüber zu urteilen, versetze sich jeder, der dem gesunden Menschenverstand nicht abgeschworen hat, nur in die Lage der Theologen, die diese Dogmen bestritten, noch bevor sie angenommen waren; denn es gibt nicht eine einzige theologische Meinung, die nicht lange Zeit ihre Gegner hatte und noch ha. Wägen wir die Gründe dieser Gegner ab und sehen wir, wie das, was man früher für eine Gotteslästerung hielt, zu einem Glaubensartikel geworden ist. Wie, der Heilige Geist waltete gestern nicht, und heute tut er es? Wie? Vorgestern hatte Jesus nur eine Natur und einen Willen, und heute hat er zwei. Wie? Das Abendmahl war eine Gedenkfeier, und heute….? Fahren wir nicht fort, damit wir nicht mehrere Provinzen Europas mit unseren Worten erschrecken. Ach, meine Freunde, was macht es schon, ob all diese Mysterien wahr oder falsch sind? Was haben sie mit dem Menschengeschlecht, mit der Tugend zu tun? Ist man in Rom ein ehrlicherer Mensch als in Kopenhagen? Erweist man den Menschen mehr Gutes, wenn man glaubt, man esse Gott leibhaftig, als wenn man denkt, ihn kraft seines Glaubens zu essen?

XXVIII. Dogma und Tugend: Ein Gegensatz

Wir bitten Dich, aufmerksamer Leser, weiser und guter Mensch, den unendlichen Unterschied zwischen Dogmen und Tugend zu bedenken. Es ist erwiesen, dass, wenn ein Dogma nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit notwendigerweise gilt, es weder zu irgendeiner Zeit noch an irgendeinem Ort notwendig ist. Nun wurden die Dogmen, die lehren, dass der Geist vom Vater und Sohn ausgeht, von der lateinischen Kirche erst im achten Jahrhundert und niemals von der griechischen angenommen. Jesus wurde erst im Jahr 325 für konsubstantiell mit Gott erklärt; die Höllenfahrt Jesu stammt erst aus dem fünften Jahrhundert; erst im sechsten Jahrhundert hat man entschieden, dass Jesus zwei Naturen, einen zweifachen Willen und eine Person gehabt habe; die Transsubstantiation nahm man sogar erst im zwölften Jahrhundert an.

Jede Kirche hat auch heute noch unterschiedliche Meinungen zu all diesen grundlegenden metaphysischen Dogmen: Sie sind also nicht absolut notwendig für den Menschen. Wo ist das Ungeheuer, das es wagt, kaltblütig zu sagen, dass man auf ewig verbrannt wird, wenn man in Moskau auf eine Weise denkt, die der in Rom entgegengesetzt ist? Welcher Narr würde es wagen zu behaupten, dass diejenigen, die unsere Dogmen vor 1600 Jahren nicht kannten, auf ewig bestraft werden, weil sie früher geboren wurden als wir?

Mit der Anbetung eines Gottes und der Erfüllung unserer Pflichten verhält es sich ganz anders. Diese Dinge sind überall und zu jeder Zeit notwendig. Zwischen dem Dogma und der Tugend liegt also ein unendlicher Unterschied.

Einen Gott, mit Herz und Mund anbeten und alle seine Pflichten erfüllen, das macht das Universum zu einem Tempel und aus allen Menschen Brüder. Dogmen machen die Welt zu einer Höhle der Zankerei und zu einem Schauplatz von Bluttaten. Dogmen wurden nur von Fanatikern und Betrügern erfunden: Die Moral kommt von Gott.

XXIX. Kirchengold und Wohltätigkeit

Die unermesslichen Güter, die die Kirche der menschlichen Gesellschaft geraubt hat, sind die Ernte des Dogmenstreits; jeder Glaubensartikel hat Schätze eingebracht, und um sie zu bewahren, wurde Blut vergossen. Das Fegefeuer allein hat hunderttausend Tote gefordert; man zeige mir in der ganzen Geschichte der Welt einen einzigen Streit über dieses Glaubensbekenntnis: „Ich bete Gott an, und ich muss wohltätig sein.

XXX. Zurück zur Urreligion

Jedermann spürt die Kraft dieser Wahrheiten. Man muss sie also laut verkünden; und die Menschen, so weit wie möglich zur Urreligion zurückführen, zu der Religion, von der die Christen selbst behaupten, dass sie die Religion der Menschheit zur Zeit ihres Chaldäers oder Inders Abraham war; zur Zeit ihres angeblichen Noahs, von dem außer den Juden keine Nation je etwas gehört hat; zur Zeit ihres noch unbekannteren angeblichen Henochs. Wenn die Religion in diesen Zeiten die wahre war, dann ist sie es auch heute. Gott kann sich nicht ändern; das Gegenteil ist Blasphemie.

XXXI. Die christliche Religion ist ein Betrug

Es ist offensichtlich, dass die christliche Religion ein Netz ist, mit dem Betrüger über siebzehn Jahrhunderte lang die Dummen eingefangen, und ein Dolch, mit dem Fanatiker über vierzehn Jahrhunderte lang ihren Brüdern die Kehle durchgeschnitten haben.

XXXII. Den Fanatismus zerschlagen – heißt Frieden herstellen

Der einzige Weg, den Menschen Frieden wiederzugeben, besteht also darin, alle Dogmen, die sie trennen, zu zerstören und die Wahrheit, die sie vereint, wiederherzustellen; das ist also in der Tat der ewige Frieden. Dieser Friede ist kein Hirngespinst; er wird von allen ehrlichen Menschen von China bis Quebec gehalten; zwanzig Fürsten Europas bekennen sich öffentlich zu ihm.

Nur Dummköpfe bilden sich ein, an Dogmen zu glauben; diese Dummköpfe sind zwar in großer Zahl vorhanden, aber die wenigen, die denken, werden mit der Zeit die vielen anführen. Der Götze fällt, und die allgemeine Toleranz erhebt sich täglich mehr auf seinen Trümmern; die Verfolger sind dem Menschengeschlecht ein Gräuel.

Jeder rechtschaffene Mensch sollte daher, jeder nach seinen Kräften, daran arbeiten, den Fanatismus zu zerschlagen und den Frieden wiederherzustellen, den dieses Ungeheuer aus den Königreichen, den Familien und den Herzen der unglücklichen Sterblichen verbannt hatte. Jeder Familienvater ermahne seine Kinder, nur den Gesetzen zu gehorchen und nur Gott zu verehren.


Anmerkungen

[1] Bibliographischer Hinweis: Das Werk De la Paix perpétuelle, par le docteur Goodheart erschien zuerst 1769 in Genf, 1769, mit den Instruktionen des Oberhaupts der Kapuziner von Ragusa an Bruder Pediculoso, der ins Heilige Land aufbricht (pp 56-74).

Eine weitere Ausgabe erschien 1770 (L’Evangile du Jour), sie enthält außer der Instruction auch noch Tout en Dieu (Alles über Gott), und Dieu et les Hommes (Gott und die Menschen). 

Auf Deutsch übersetzte den Text erstmals W.Ch.S.Mylius 1788 und fügte ihn in Band 13 (S. 445-514) seiner 29 bändigen Werkausgabe (Voltaire’s sämmtliche Schriften, Berlin:Wever,1786-1794) ein. Seither wurde der Text nicht mehr auf Deutsch publiziert.

De la Paix perpétuelle kam durch Dekret des römischen Gerichtshofs vom 3. Dezember 1770 auf den Index der verbotenen Bücher (Index librorum prohibitorum, Modaetiae, 1850, S. 135).

[2] Der französische Theologe und Diplomat Charles-Irénée Castel, Abbé de Saint-Pierre (1658–1743), fordert (Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1712 und 1717)) als Basis für eine europäische Friedensordnung die Gründung eines internationalen Zusammenschlusses der Staaten Europas, um Konflikte zu verhindern und diplomatische Lösungen für Streitigkeiten zu erarbeiten. J.J. Rousseau bezog sich positiv auf ihn, veröffentlichte einen Auszug aus dem Werk und verfasste eine eigene Stellungnahme, die die Gedanken des Abbé erweiterten. Siehe dazu unsere Studie Die andauernde Debatte um den ewigen Frieden

[3] Marco Antonio Bragadino (1523-1571), ein venezianischer Offizier verteidigte die letzte zypriotische Festung Famagusta gegen  gegen die osmanischen Truppen unter Mustafa Pasha. Nach fast einjährigem Widerstand ließ Mustapha Pascha Bragadin foltern. Er wurde er bei lebendigem Leib gehäutet. -> Artikel in Wikipedia

Essay sur les moeurs Kap. 159 und 160 [dt. in:  Geschichte der Völker, übers. v. K.A.F.Schnitzer 1827 Bd. 12, S.110 ff

[4] Philipp II. (1165-1223), König von Frankreich, siegte in der Schlacht von Bouvines (1214). Ferrand von Portugal, Graf von Flandern und eigentlich ein Vasall Philipps, hatte die Seiten gewechselt und sich mit England und dem Deutschen Reich verbündet, wurde gefangen genommen, im Festungsturm des Louvre inhaftiert und erst 1227 wieder freigelassen

[5] Leopold V. von Österreich (1157-1194) und Richard Löwenherz (1157-1199), König von England, waren Teilnehmer des Dritten Kreuzzugs (1189–1192), bei dem sie Jerusalem von den Muslimen zurückerobern wollten. In dessen Verlaufkam es zum Streit um die Oberherrschaft im „Heiligen Land“ Auf dem Rückweg ließ Leopold Richard am 21. Dezember 1192 im Wien gefangennehmen. Erst nach Zahlung eines Lösegeldes von 150.000 Silbermark, was etwa dem jährlichen Einkommen der englischen Krone entsprach, wurde Richard 1194 freigelassen.
Essay sur les moeurs Kap. 49, [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 39 ]

[6] Konradin von Hohenstaufen (1252–1268), erhob Anspruch auf das Königreich Sizilien, zu dem auch Neapel gehörte, das trug ihm die Gegnerschaft des Papstes Clemens IV. ein. 1268, in der Schlacht bei Tagliacozzo wurde Konradin von Karl von Anjou (1226–1285), Verbündeter des Papstes, gefangen genommen, zum Tode verurteilt und am 29. Oktober 1268 auf dem Marktplatz in Neapel öffentlich enthauptet.

Essay sur les moeurs Kap. 61 [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 49]

[7] Louis XI. (1423-1483), König von Frankreich, baute regelrechte Folterverliese, oft mit Metallkäfigen versehen, in die er seine Gegner einsperren ließ. Im Pariser Stadtzentrum ließ er einen monumentalen Stierkopf aufstellen, mit dem er in Anlehnung an die römischen Stieropfer (als „Taurobolus“ bezeichnet), seine Macht demonstrierte. Der mächtign Adlige Jean V. d‘ Armagnac (1420-1473) war ein Gegner der Krone, den er beseitigen wollte. Jean V. verschanzte sich 1473 mit seinen Truppen in der Stadt Lectoure. Ludwig XI. entsandte Kardinal Jean Jouffroy zur Belagerung der Stadt. Jean V. kapitulierte, ließ die Stadttore öffnen, es kam zu einem Massaker, dem auch Jean V. zum Opfer fiel.

[8] Die Schrecken der roten und der weißen Rose beziehen sich auf die brutalen Kämpfe und das Leid während der Rosenkriege (engl. Wars of the Roses), die von 1455 bis 1487 in England stattfanden. Dieser dynastische Konflikt wurde zwischen den Adelshäusern Lancaster und York ausgetragen, die jeweils durch die Symbole einer roten Rose (Lancaster) und einer weißen Rose (York) repräsentiert wurden. Zahlreiche Gräueltaten, Schlachten und Verwüstungen weiter Landstriche Englands prägten diese Zeit

Essay sur les moeurs Kap. 115 [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 94]

[9] In den Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in Italien wurde in der Schlacht bei Padua 1525 der französische König Francois I. von  Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches geschlagen und festgenommen. Francois I. entsandte César Frégose und Antoine de Rincon als Botschafter, um über seine Freilassung zu verhandeln. Karl V. ließ die beiden Gesandten hinrichten.

Annales de l’Empire vol. 13 p. 481

[10] Cesare Borgia (1475-1507), unehelicher Sohn des späteren Papstes Alexander VI., Herzog von Valentinois, Kardinal und Erzbischof von Valencia, gilt als besonders gewissenlos, weil er, um seine politischen Gegner zu beseitigen, auf Gift, Stilett und die Hand des Henkers zurückgriff.

Essay sur les moeurs Kap. 111 [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 89]

[11] Pierre-Ange Goudar (1720-1791) schlug in seinem Werk „La Paix en Europe“  (1757) vor, in Europa einen zwanzigjährigen Frieden einzuhalten, damit sich die Nationen erholen und entwickeln könnten.

[12] Im Jahr 1685 hob Louis XIV das Edikt von Nantes auf, das den Protestanten Frankreichs (den Hugenotten) gewisse Rechte einräumte. Die Auflösung löste eine starke Emigrationswelle aus. Die verbliebenen Protestanten überzog man mit Repressalien.

[13] Die Religion der Manichäer (nach Mani, ihrem Stifter benannt), verstand das Weltgeschehen als Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Licht und Dunkel. Von der byzantinischen Kirche wurde er als Konkurrenzreligion mit Hilfe des Staates bekämpft. Kaiser Justinian, dessen Ehefrau Theodora war, erließ 567 ein Gesetz, das den Manichäismus als staatsfeindlich und schädlich für die öffentliche Ordnung verdammte.

[14] In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572, der Nacht zum Heiligen Bartholomäus,  ließ Katharina von Medici tausende führende Hugenotten in Paris abschlachten.

[15] Im heiligen Krieg in Irland erhoben sich 1641 die katholischen Iren gegen die protestantischen englischen Besatzer. England schlug den Aufstand militärisch nieder. 1649 ließ Oliver Cromwell, der englische General, die Stadt Drogheda belagern und nach ihrer Einnahme tausende der katholischen Einwohner niedermetzeln.

[16] Simon de Montfort führte die papsttreue Armee an, um den Widerstand der protestantíschen Katharer in Südfrankreich zu brechen. Als die Stadt Bezier 1209 eingenommen wurde, fragte er den Abt von Cîteaux, wie er Katharer von Katholiken unterscheiden könne, der ihm antwortete: „Tötet sie alle, Gott wird die Seinen erkennen.“ 20.000 Einwohner wurden abgeschlachtet

[17] Siehe dazu den Artikel Apis im Philosophisches Taschenwörterbuch

[18] Der Berg Moriah  wird im Alten Testament als der Ort erwähnt, an dem Abraham seinen Sohn Isaak opferte (Genesis 22,2) und später auch als der Ort, an dem der Tempel von Jerusalem gebaut wurde (2. Chronik 3,1)

[19] Der Berg Garizim war der heiligste Ort für die Samariter, er leigt bei Nablus (früher Sichem), siehe dazu Johannesevangelium 4,20

[20] François-Michel Le Tellier de Louvois (1639–1691), Kriegsminister unter Louis XIV, wurde eine Liebesbeziehung zu der einflußreichen Kunstmäzenin Marie-Françoise du Fresnoy (1641-1729) nachgesagt.

[21] Die Tyrer waren ein Volk in Phönizien, das zwischen 1500 und 300 v.u.Z. an der Küste des heutigen Libanon lebte und nach ihrem Zentrum, der Stadt Tyros benannt wurden. Sie bauten eine mächtige Handelsflotte auf.  s. Wikipedia zu Tyros.

[22] Das Konzil von Dordrecht (1618 . 1619) war eine Veranstaltung der Calvinisten. Vordergründig ging es um die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, oder ob sein Schicksal göttlicherseits vorherbestimmt ist. Über diesen Streit ließ der Statthalter Wilhelm von Oranien  seinen Widersacher Johan van Oldenbarnevelt verhaften und am 12. Mai 1619 hinrichten (Wikipedia zu Oldenbarnevelt). Mit ihm wurde auch der berühmte Rechtsgelehrte Hugo Grotius (De Jure Belli et Pacis) festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt (Wikipedia zu Grotius).

[23] Ab 1614 wurde das Christentum in Japan verboten. Um ihre Handelsvorteile nicht zu verlieren, hielten die holländischen Kaufleute keinen Gottesdienst ab und enthielten sich missionarischer Aktivitäten.

[24] Voltaire könnte sich auf Diogenes Laertios(3. Jdt.) und sein Werk Über Leben und Lehren berühmter Philosophen bezogen haben, S.82.

[25] Sequaner, Septimaner, Kantabrer und Allobroger: Gallische Stämme, die sich im 1. Jhdt. v.u.Z. gegen die ihnen militärisch und kulturell überlegenen römischen Eroberer hartnäckig zur Wehr setzten.

[26] Im antiken Rom gab es mehrere jüdische Gemeinden von denen jede ihre Synagoge hatte, so etwa in Trastevere, wo auch heute eine bedeutende Synagoge steht (um 1900 erbaut). Folgt man Cicero (in seiner Verteidigungsrede Für Flaccus ), arbeiteten Juden in den verschiedensten Berufen, denn es gab seitens der römischen Gesetzgebung keinerlei Einschränkungen.

[27] Contra Celsum –  Gegen Celsus (Kap. III, 9, s.158 – eine Word Datei der dt. Übersetzung v. P. Koetschau), S.158,  ist eine christliche Kampfschrift gegen den „Antichristen“ Celsus.

[28]Tertulian, Apologeticus IX, [dt.1797, übers. v. J.F.Kleuker: Des Quintus Septimius Florens Tertullianus Vertheidigung der christlichen Sache gegen die Heiden]. Tertullian ist von dem Thema der Fellatio so entrüstet, dass er sich damit an verschiedenen Stellen befasst. ]der Herder-Verlag apostrophiert das Pamphlet als „als Meisterwerk der christlichen Apologetik“.

[29]Telesphorus (lebte um 100 u.Z.) in vielen Heiligenbüchern als Märtyrer aufgenommen, ohne Belege für seinen unnatürlichen Tod anzugeben. Diese wurden dann im Nachhinein erfunden.

[30] Tertullian (150-220), Jurist, wandelte sich nach seiner Konversion zum Christentum zu einem religiösen Fanatiker. Alles körperlich-Sinnliche hält er für verderblich, das Schminken der Frauen, das Theater… Siehe zu Tertullian die Dissertation von Paul Wolf (1897)
 
[31] Voltaire bezieht sich auf J. A. Fabricius (16668-1738), dt. Philologe und Theologe, , Codex apocryphus Novi Testamenti 3 Bd.

[32] Voltaire bezieht sich bei diesen Märtyrergeschichten auf Claude Fleurys  mehrbändige Histoire ecclésiastique (dt. Allgemeine Kirchengeschichte).

[33](Anmerkung Voltaire) Hist. Romaine, d.i. Tacitus, Historiae Buch V.9

[34]In seinem Artikel Christianisme – Christentum, Historische Untersuchungen über das Christentum im Philosophischen Taschenwörterbuch beschäftigt sich Voltaire ausführlich mit dieem Thema des aufgehenden Sternes, der zur Geburt Jesus alles erleuchtet haben soll.

[35]Matthäus, i, 3-6;https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us1, was die Bibel über den Lebenswandel dieser 4 Frauen erzählt, qualifiziert Tamar (Genesis 38 https://www.bibleserver.com/EU/1.Mose38) und Bathseba  (2. Samuel 11–12 https://www.bibleserver.com/EU/2.Samuel11), anders als Rahab (Josua 2 https://www.bibleserver.com/search/EU/josua%202), nicht unbedingt als Prostituierte. Ruth (Buch Ruthhttps://www.bibleserver.com/EU/Rut1 ) keinesfalls. 

[36] (Anmerkung von Voltaire) Die Chronologien der Bibel unterscheiden sich derartig. 

[37] Jesaia, xvii,12 – 14

[38] Genesis, xlix 9, 10 in der Vulgata heisst die Stelle: „non auferetur sceptrum de Iuda et dux de femoribus eius donec veniat qui mittendus est et ipse erit expectatio gentium”, vgl. die verschiedenen Übersetzungsvarianten hier

[39] Petrus, ii 

[40] Matthäus, iv, 8;

[41] Johannes, ii, 9.

[42] Matthäus, viii, 32

[43] Genesis, iii, 1.

[44] Numeri, xxii, 28 ; und xxiii, 11

[45] Exodus, xiv, 15 https://www.die-bibel.de/bibel/EUE/EXO.14; zur Bacchus/Mose Parallele siehe die gute Synopse bei Hmolpedia. Voltaire bezog sich auf Pierre Daniel Huet, Demonstratio evangelica (1680).

[46] Es ist die vierte Ekloge Vergils in der er die Geburt eines göttlichen Knaben besingt.

[47] Voltaire könnte diese Verse bei Conveyors Middleton gefunden haben, in: A free inquiry into the miracoulous powers (1749), S.36

[48] Virgil, Aeneis, i, 533.

[49] S. dazu den Artikel Messias im Philosophischen Taschenwörterbuch.

[50] Johannes, Kap. xxiii. (Anmerkung Voltaire)  Es sind die Kapitel vii, 19, oder Matthäus v,17

[51] Deuteronium, iv, 2.

[52] Deuteronomium, Kap. xiii.

[53] Matthäus, xxiii.

[54] Johannes, ii, 15, 20.

[55] Matthäus, xvi, 18.

[56] Johannes, Kap. i, Vers 45.

[57] Matthäus, Kapitel x, V. 34.

[58] Lukas, Kap. xiv, V. 12.

[59] Lukas, Kap. xiv, V. 26.

[60] Johannes, Kap. xiii, Vers 34.

[61] Lévit., chap. xix.

[62] Lukas, Kap. xxi, Vers 27.

[63] Thessal., iv, 17.

[64] Siehe Irenäus.

[65] Der griechische Redner Demosthenes beschämte seine Zuhörer, in dem er Ihnen zeigte, dass sie eher an dem Fortgang eines Prozesses um des Esels Schatten interessiert waren, als an seiner Rede. 

Philosophisches Taschenwörterbuch: Égalité – Gleichheit (Kommentare)

Dieser Kommentar gibt Hintergrundinformationen zu dem Artikel Égalité aus dem Philosophischen Wörterbuch (1764) von Voltaire, das wir 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und im reclam Verlag herausgegeben haben. Zu jedem der 73 Artikel wird es eine Kommentarseite geben, die die Vorteile des Internets mit der soliden Basis eines gedruckten Buches verbindet (ungefähr die Hälfte der Artikel haben wir bisher kommentiert, siehe dazu unsere Übersichtsseite) , außerdem eine kurze Inhaltsgabe und zu jedem Artikel den französischen Originaltext. Das Buch gibt es gebunden und seit 2023 auch als Taschenbuch. Die exklusive Vorzugsausgabe in 300 Exemplaren ist ausverkauft.

A. Gleichheit als Naturrecht – Ungleichheit als Schicksal?

Um die Gleichheit in einer Gesellschaft zu messen, verfügen wir heute über verschiedene statistische Verfahren. Sie zeigen, dass in vielen Staaten die Vermögen mehr noch als die Einkommen sehr ungleich verteilt sind, dass die Chance, in der sozialen Stufenleiter aufzusteigen, meist nicht all zu hoch ist und dass die höheren Bildungseinrichtungen dem ärmeren Teil der Bevölkerung nahezu verschlossen bleiben . Wenn also die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass die Kinder der ärmeren Bevölkerung ebenso arm bleiben wie ihre Eltern, sie ihrer Lage nur äußerst selten entkommen können, fragt es sich, ob es etwa an ihren defizitären Erbanlagen liegt, oder aber an der Art und Weise wie die Gesellschaft organisiert ist, in der sie leben. Die Antwort ist einfach. Wenn die DDR auch der Vergangenheit angehört, so hat sie doch lange genug existiert, um  eines zu beweisen: Dass Kinder aus den sogenannten unteren Gesellschaftsschichten ebenso „bildsam“ sind wie die der oberen.

Seit der Aufklärung hängen wir ohnehin der Vorstellung an, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind und zumindest bei der Geburt die gleichen Erbanlagen und theoretischen Fähigkeiten besitzen (das versteht man unter naturrechtliche Gleichheit), und wir wissen, dass die spätere Ungleichheit, also ob man Erntehelfer oder Professor, selbständiger Unternehmer wird, stark von der Art und Weise abhängt, wie eine Gesellschaft organisiert ist: ob ihre Verfassung verhindert, dass enorme Vermögen auf Kosten der Mehrheit entstehen, ob Bildungseinrichtungen so organisiert sind, dass sie es jedem ermöglichen, seine Fähigkeiten – unabhängig vom Einkommen der Eltern – zu entfalten u.v.a. mehr.

Die Beziehungen, die zwischen den beiden Polen Gleichheit von Natur aus und materieller, sozialer Gleichheit bestehen, versuchte Christoph Menke, ein Professor für Philosophie, in Spiegelungen der Gleichheit (2014) herauszudestillieren. Das Werk ist leider äußerst spitzfindig, doch sein Kapitel über Babeuf „Die Verschwörung für die Gleichheit“ ist wirklich lesenswert und auch für Nichtphilosophen verständlich. Um was es dabei geht, kann man an einem einfachen Beispiel aufzeigen: Wenn in einer Gesellschaft allen Bürgern Diebstahl per Gesetz verboten ist (Gleichheit vor dem Gesetz) so macht es doch einen Unterschied, ob sich ein Besitzloser an fremdem Eigentum vergreift, oder aber ein wohlsituierter Bürger, der – zumindest, was einfache Diebstähle angeht – es nie nötig hätte, solche zu begehen. Ein Urteil über den Dieb kann somit niemals gerecht sein, wenn es die materielle Situation des Diebes unberücksichtigt lässt. Wenn er aus extremer Armut stiehlt, hat sich eine Gesellschaft, die ihm keine bessere Perspektive bot, mitschuldig gemacht.

B. Hintergrund: Die Diskussion um die Frage nach der sozialen Gleichheit im 18. Jahrhundert

Hobbes, Locke, Bayle, Montesquieu, Hume, Condillac, Rousseau und schließlich auch Voltaire: Sie alle stimmen darin überein, dass die Menschen von Natur aus gleich sind. Was die materielle Ungleichheit betrifft, lehnen sie zumindest die kirchliche Lehre ab, dass die Stellung, die jeder Einzelne in der Gesellschaft einnimmt, eine göttliche Fügung sei. Eine Lehre, nach der jeder, der für sich mehr einfordert, als ihm nach seiner Klassenzugehörigkeit – ein ebenso wie „Gleichheit“ unbeliebter Begriff – gesetzlich zusteht, oder sich gar gegen die herrschenden Zustände (damals gegen die Adelsherrschaft) wehrt, ein blasphemischer Aufrührer ist, weil er sich in seinem Verlangen nach Glück nicht mit dem Jenseitsversprechen der Religion begnügte.

In Voltaires 1738 erschienenem Gedicht De l’égalité des conditions heißt es:

Les mortels sont égaux ; leur masque est différent.
Nos cinq sens imparfaits, donnés par la nature,
De nos biens, de nos maux sont la seule mesure.
Les rois en ont-ils six ? Et leur âme et leur corps
Sont-ils d’une autre espèce, ont-ils d’autres ressorts ?
C’est du même limon que tous ont pris naissance ;
Dans la même faiblesse ils traînent leur enfance ;
Et le riche et le pauvre, et le faible et le fort,
Vont tous également des douleurs à la mort.
[Die Sterblichen sind gleich; ihre Masken sind verschieden./Unsere fünf unvollkommenen Sinne, von der Natur gegeben,/sind das einzige Maß für das, was gut ist und was von Übel./Haben Könige sechs davon? Und ihre Seele und ihr Körper/Sind sie von anderer Art, haben sie andere Quellen?/Aus demselben Lehm sind sie alle geboren;/In derselben Schwäche verbringen sie ihre Kindheit;/Der Reiche und der Arme, der Schwache und der Starke,/Gleichermaßen durchleben sie Schmerzen bis zum Tod.]

Wenn aber alle Menschen von Natur aus gleich und frei sind, warum „leben sie dann überall in Sklaverei“ (Rousseau, 1762 in seinem Contrat social)?

Rousseaus Antwort in seiner bereits 1755 erschienen Preisschrift Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, die Voltaire als „Schrift gegen die Menschheit“ titulierte, ist, dass in dem Augenblick, wo jemand eines anderen Hilfe bedarf, die Ungleichheit entsteht, denn er wird nun von dessen Hilfe abhängig. „l’égalité disparut, la propriété s’introduisit, le travail devint nécessaire et les vastes forêts se changèrent en des campagnes riantes qu’il fallut arroser de la sueur des hommes, et dans lesquelles on vit bientôt l’esclavage et la misère germer et croître avec les moissons“ (p. 118)
[„Die Gleichheit verschwand, das Eigentum stellte sich ein, die Arbeit wurde etwas notwendiges, die dichten Waldungen verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiße der Menschen getränkt werden mussten und bald sah man Sklaverei und Elend zugleich mit den Ernten hervorkeimen und groß werden“. (S. 66)]
Je weiter sich die Menschen von der Natur entfernen, desto größer wird ihre Ungleichheit.

Voltaire antwortete auf diese kulturskeptische Position Rousseaus in seinem Brief vom 30.8.1755 und meinte:
„Man hat noch nie so viel Geist aufgewendet, um uns zurück zu den Tieren zu schicken, man bekommt Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk liest“ (Zur Rolle von Rousseau siehe Rousseau und Voltaire – Ein Verräter im inneren Kreis der Aufklärer).

In seinem Gedicht Le Mondain (1736) hob Voltaire ganz im Gegenteil die Fortschritte der Zivilisation hervor: Zur Zeit von Adam und Eva lebte man noch im Dreck, während in späteren Zeiten das Leben deutlich angenehmer wurde. Wenn dieses Angenehme auch nicht allen zugute kommt, trägt es doch, zum Beispiel, was den Luxus betrifft, zur Höherentwicklung der ganzen Gesellschaft bei (Siehe dazu Was die Kirchen ärgert – Die Verteidigung des Luxus bei Voltaire) .

Zuviel Gleichheit schien den meisten Aufklärern des 18. Jhdts. wohl eher gefährlich und verderblich. Zum Beispiel meinte Montesquieu in seinem Geist der Gesetze (Ésprit des Lois, Kap. 8):
„Le principe de la démocratie se corrompt, non seulement lorsqu’on perd l’esprit d’égalité, mais encore quand on prend l’esprit d’égalité extrême, et que chacun veut être égal à ceux qu’il choisit pour lui commander ».
[Das Prinzip der Demokratie kann nicht nur zugrunde gehen, wenn der Geist zur Gleichheit schwindet, sondern auch, wenn man ihn aufs Äußerste treibt, und jeder gleich sein will mit denen, die er ausgewählt hat, um über sich zu regieren.“]

Zu der ausgebildeten Adelsgesellschaft seiner Zeit meinte 1755 Louis de Jaucourt, von dem viele der Artikel in der berühmten Enzyklopädie (ab 1768 war er als Diderots Nachfolger deren Herausgeber) stammen: „Ich möchte nur noch bemerken, dass gerade die Verletzung dieses Prinzips [der natürlichen Gleichheit] zur politischen & bürgerlichen Sklaverei geführt hat. Daher kommt es, dass in den der Willkürherrschaft unterworfenen Ländern, die Fürsten, die Höflinge, die ersten Minister & die, welche die Finanzen verwalten, alle Reichtümer der Nation besitzen, während die übrigen Bürger nur das Notwendige haben & der größte Teil des Volkes in der Armut verkümmert“ (Artikel „Ègalité naturelle“). Im Anschluss beeilte er sich aber zu verkünden, dass dies nicht als Aufruf zum Umsturz zu verstehen sei.

Was sagten aber Mesliers, Diderot, d’Holbach und Hélvétius, de La Mettrie, also die Atheisten unter den französischen Aufklärern, zu der Forderung nach sozialer Gleichheit?
Deutlich erhob sie der Abbé Mesliers, der die Armut seiner Gemeindemitglieder hautnah erlebte, in seinem sogenannten Testament, das ab 1729 nur als Manuskript zirkulieren durfte (Die Ausgabe von Voltaire war eine deistisch entschärfte Kurzfassung). Diderot stellte für seine Gönnerin Katherina II. ein Programm für die allgemeine Schulbildung zusammen, ein Konzept, dem Hélvétius folgte. d’Holbach ging die Ungleichheit in seinem Buch Système social (1773) an, in dem er versuchte, gesellschaftliche Pflichten und Eigeninteresse ins Gleichgewicht zu bringen.

De La Mettrie (Philosophie und Politik) nimmt eine Sonderstellung unter den Atheisten ein, er scheint die Gesellschaft als das Reich der Interessen anzusehen, das sie zweifellos auch ist und die Hoffnung, dass sie durch vernünftige Regelungen für mehr Gleichheit oder Gerechtigkeit besser würde, hält er für eine Illusion. Die Mächtigen haben die Gesellschaft für ihre Interessen aufgebaut und die Religion benutzt, um ihrem System eine höhere Weihe zu verleihen, sie werden es nicht freiwillig aufgeben. La Mettrie setzt auf die Zerstörung der Religion, damit sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es kein prinzipielles gut und böse, keine absolute Moral gibt, sondern nur die eingefärbte ihrer jeweiligen Profiteure. Setzte sich diese Erkenntnis nämlich durch, würde sich die Herrschaft der Wenigen über die Vielen nicht mehr mit lügenhaften Jenseitsgespinsten rechtfertigen lassen, sie müsste ihren Nutzen für die Allgemeinheit darlegen, um weiterhin anerkannt zu werden. Es ist erstaunlich, wie nahe Voltaire dieser Position ist.

Von einiger Bedeutung für die revolutionäre Entwicklung in Frankreich war die 1755 erschienene, heute nur wenigen bekannte Schrift, der Code de la Nature von Étienne-Gabriel Morelly (1717-1778), die man lange Diderot zuschrieb und die für das Denken von Gracchus Babeuf außerordentlich wichtig war. In diesem Grundgesetz der Natur, so heißt der Titel in der deutschen Übersetzung von Ernst Moritz Arndt (1846), leitet Morelly aus der naturrechtlichen Gleichheit aller Menschen das Gemeineigentum als Voraussetzung für die materielle, soziale Gleichheit in der Gesellschaft ab.

Schließlich sollte man die Maxime von Jeremy Bentham „the greatest happiness for the greatest number“ [Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl] erwähnen, sein Werk kann als aufrichtiger Versuch angesehen werden, die ungerechte Eigentumsverteilung einer rationalen Lösung zuzuführen.
Und selbstverständlich traten die französischen Revolutionäre in ihren Schriften für die soziale, materielle Gleichheit ein, herausragend sicherlich Marat, Hébert und mit Einschränkung auch Robespierre.

Die Gleichheit litt nach 1789 in Europa unter einem sehr schlechten Ruf. Unzählige Schriften und Bücher versuchten zu beweisen, dass die Forderung nach Gleichheit, würde sie umgesetzt, in ihr Gegenteil umschlagen und geradewegs in der schlimmsten Tyrannei enden müsse. Eine Auffassung, die im Übrigen auch schon Pierre Bayle in seinem Artikel Perikles vertrat und Voltaire in seinem Artikel Démocratie seiner Questions sur l’Encyclopédie diskutierte und bestritt.

Mit seinem Todesurteil gegen Gracchus Babeuf und Augustin Alexandre Darthé reagierte 1797 das Direktorium auf das letzte Aufflackern der revolutionären Forderung nach sozialer Gleichheit, die Babeuf mit seinen Verschwörern für die Gleichheit vehement vertrat, um sie ein für allemal niederzuschlagen. Babeufs Verteidigungsrede vor Gericht ist gleichermaßen ein bestürzendes Dokument und ein beeindruckendes Denkmal der Menschheitsgeschichte.

C. Quellen
– Buonarotti, Phillipp, Histoire de la Conspiration pour l’Égalité dite de Babeuf (1828), dt.: Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, übers. v. Anna u. Wilhelm Blos, Stuttgart: Dietz Nachf. 1909
– Bentham, Jeremy , Fragment on Government (1776) [pdf digitalisat]
– Jaucourt, Louis de, Égalité Naturelle, Encyclopédie, 1755 , dt : Natürliche Gleichheit, in Die Welt der Enzyklopädie, Frankfurt: Eichborn, 2001, S.273-274
– Mesliers, Jean, Testament, (1864), dt.: Das Testament des Abbé Meslier, übers. v. Angelika Oppenheimer, Frankfurt: Suhrkamp, 1976
– Montesquieu, l’Ésprit des Lois, 1758, dt. : Vom Geist der Gesetze, 1760
– Rousseau, Jean Jacques, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1755, dt.: Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, übers. v. H. G. Heusinger 1829
– Rousseau, Jean Jacques, Du Contrat social ou Principes du Droit politique,  Amsterdam: Rey, 1762. , dt.: Über den Gesellschaftsvertrag, Leipzig: Wigand, übers. v. A. Marx, 1843
– Voltaire, De l’égalité des conditions, erschien erstmals 1738 in den Epîtres sur le bonheur [Rede über das Glück]
– Voltaire, Le Mondain, 1736 (dt.: Die Verteidigung des Luxus)
– Voltaire, Brief an Rousseau vom 30.8.1755 (D6451), dt.: An Jean Jacques Rousseau in: Voltaire in seinen schönsten Briefen, übers., hrsg. v. H. Missenharter, Stuttgart: Port, 1958, 400 S.

D. Literaturhinweise
– Babeuf, Die Verschwörung für die Gleichheit, Rede über die Legitimät des Widerstands, mit Essays von H. Marcuse und A. Soboul, Hamburg: Junius, 1988, 168 S.
– Menant, Sylvain, Voltaire-Rousseau : deux conceptions modernes de l’égalité, Vortrag aus d. Jahr 2010
– Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Beck, 2014. Menke versucht das Spannungsverhältnis zwischen natürlicher und materieller Gleichheit auszuloten. Am Beispiel Babeufs Verteidigungsrede vor Gericht zeigt er, dass es dabei um eine der wesentlichen Fragen der Menschheitsgeschichte geht.
– Gregor Ritschel, Bentham und Marx, Bielefeld: transcript, 2018 [pdf-digitalisat]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.194, 1. Absatz): In seinen Questions sur l’Encyclopédie (1770-1772), eine Art Kompendium interessanter Artikel zu den verschiedensten Themen, nahm Voltaire auch den Artikel Égalité auf, veränderte aber den ersten Absatz, wohl wegen der Ähnlichkeit mit Rousseaus Contrat Social, folgendermaßen:
«Il est clair que les hommes jouissant des facultés attachées à leur nature, sont égaux; ils le sont quand ils s’acquittent des fonctions animales, et quand ils exercent leur entendement. Le roi de la Chine, le Grand Mogol, le padicha de Turquie, ne peut dire au dernier des hommes, Je te défends de digérer, d’aller à la garde-robe et de penser. Tous les animaux de chaque espèce sont égaux entre eux».
[dt.: Es ist offensichtlich, dass die Menschen, wenn sie die ihrer naturbedingten Fähigkeiten ausüben, gleich sind; sie sind es, wenn sie ihre animalischen Fähigkeiten ausüben und wenn sie von ihrer Vernunft Gebrauch machen.
Kein König von China, kein Großmogul, kein Padischah kann dem Geringsten seiner Untertanen verbieten, zu verdauen, auf die Toilette zu gehen und zu denken. Alle Tiere, ganz gleich welcher Art, sind untereinander gleich].

Anmerkung 2 (S. 195, 2. Absatz: „Nicht die Ungleichheit ist das wirkliche Übel, sondern die Abhängigkeit… Es ist hart, dem einem oder anderen dienen zu müssen.“):
In den Questions sur l’Encyclopédie führt Voltaire diesen Punkt weiter aus und erklärt, dass die Ungleichheit eine Folge der sozialen Veranlagung des Menschen und der daraus entstehenden Bedürfnisse sei. Ganz anders hier, wo er an dem Beispiel der türkischen Herrscher zeigt, dass sie dem Machthunger des Menschen entspringt.

Anmerkung 3 (S.195, 3. Absatz: „Aus der Familie…gehen die Knechte hervor“): Das ist ein weiterer Hinweis auf die Gewalt als Quelle der Ungleichheit, so wie auch im darauf folgenden Absatz.

Anmerkung 4 (S.195, unten: „Nicht alle Armen sind ganz und gar unglücklich“): Zu diesem Satz gibt es bei verschiedenen Übersetzern interessante Alternativen. Siehe dazu unsere Themenseite
Égalité – Gleichheit Übersetzungsvarianten im Diskussionsform „Traumdenken“.

Anmerkung 5 (S.196: Wenn die Armen ihre Lage erkennen, „kommt es zu Kriegen“):
– so wie in Rom dem der Volkspartei gegen die Senatspartei:
Am Ende des 2. Jahrhunderts v.u.Z. wollten die Gracchen eine Bodenreform einführen, um den Graben, der sich zwischen den „Optimaten“, den Adligen und den „Popularen“, dem Volk aufgetan hatte, zu verringern. Es kam zu Aufständen, in denen Tiberius Gracchus 133 v.u.Z. von Handlangern des Senats ermordet wurde. Er wollte, dass ein Gesetz erlassen wird, das den Adligen die Aneignung des sogenannten Publicus, also der von Allen gemeinsam benutzen Anbauflächen untersagt. Zehn Jahre später wurde auch sein Bruder Gaius umgebracht.  Erst Marius ab 107 v.u.Z gelang es, indem er die Proletarier in das Heer integrierte, dem Ziel näherzukommen.
– oder die Bauernkriege in Deutschland, England und Frankreich:
In seinem Essai sur les moeurs erwähnt Voltaire (chap. 76) die  sogenannten Jacqueries unter Jean le Bon um 1360, die Bauernaufstände in England unter Richard II um 1381 (chap 78) und die Bauernkriege um 1525 in Deutschland (chap 131). Diese seien durch die Anabaptisten, die Wiedertäufer, zum Aufstand gebracht worden, indem sie ihnen die gefährliche Wahrheit in die Herzen eingepflanzt hätten, dass „zwar alle Menschen von Geburt an gleich sind, aber wenn der Papst die Adligen wie Untertanen behandelt, so behandeln diese die Bauern wie Tiere“ [„Ils développèrent cette vérité dangereuse qui est dans tous les cœurs, c’est que les hommes sont nés égaux, et que si les papes avaient traité les princes en sujets, les seigneurs traitaient les paysans en bêtes“]…

Anmerkung 6 (S. 196, 3.Absatz: „Die Gleichheit ist also zugleich die natürlichste Sache von der Welt und zugleich die illusorischste):
Auch hier: Die Ungleichheit ist nicht gottgegegeben, sie ist Ergebnis ungleicher Macht- und Eigentumsverteilung, die menschlich, aber nicht unabänderlich ist. Rousseau sah die Gleichheit als ein machbares Ziel einer durch die Vernunft regierten Gesellschaft. Voltaires glaubte daran ganz offensichtlich nicht. 

Anmerkung 7 (S.196 unten: ..dass es einem Bürger nicht erlaubt sei, das Land zu verlassen):
In seinem Essai sur les moeurs (chap. 196) erwähnt Voltaire, dass es in Japan unter dem Herrscher Jemitz einen Erlass, gab,  nachdem „kein Japaner bei Todesstrafe das Land verlassen durfte“.
Aber auch jeder Normalbürger in den Fürstentümern des 18. Jahrhunderts benötigte eine Erlaubnis des Herrschers, wenn er das Land verlassen wollte.

Anmerkung 8 (S.197, 2. Absatz: „Wenn sich die Türken Roms bemächtigten…“): Obwohl also der Koch und der Kardinal in ganz verschieden Klassen leben, sind sie doch als Menschen gleich, so gleich, dass sie, änderten sich die Gesellschaftsverhältnisse, jederzeit herrschen, Gehorsam fordern und ihren Nächsten unterjochen würden.  

Anmerkung 9 (S.197 unten: Ein Privatmann,..der sich darüber ärgert, „dass er überall mit gönnerhafter oder verächtlicher Miene empfangen wird“,…)
Voltaire spricht hier ganz aus seiner eigen Erfahrung am Hofe von Versailles, aber auch bei Friedrich II in Berlin. Und er fasste selbst genau den Entschluss und hat getan, was er hier empfiehlt: nämlich wegzugehen.

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Philosophisches Taschenwörterbuch: Corps – Körper (Kommentare)

Die Frage, ob es außerhalb unserer Wahrnehmung eine unabhängig von uns existierende Materie gibt, um die es in Voltaires Artikel geht, beschäftigte die Menschheit mindestens seit der Antike. Auch heute ist diese Debatte noch in Gang, Filme wie „Inception“ oder „Matrix“ besitzen Kultstatus und erfassen weite Kreise, oft Jugendliche, die aus den geschickt gemachten Streifen großes Misstrauen der objektiven Wirklichkeit gegenüber ableiten und gleichzeitig eine Haltung rechtfertigen, die sich vor allem mit den eigenen subjektiven Phantasien und Innenwelten beschäftigt. Würden sie ihn kennen, wäre Bischof Berkeley ihr geistiger Urvater und Voltaire, was in dem Artikel klar zum Ausdruck kommt, ihr intellektueller Gegner.

A. Hintergrund:
George Berkeleys (1685-1753) Lehre ist seine christliche Antwort auf die Philosophie der Aufklärung, er verneint die Existenz einer objektiven Realität und behauptet, alle Dinge würden nur in Beziehung zu unserer Wahrnehmung existieren. Diese Position wurde verschiedentlich als sensualistischer Idealismus bezeichnet und ist noch extremer als die von Immanuel Kant, der wenigstens mit seinem „Ding an sich“ Dogma (dass man das eigentliche Wesen eines Objekts nicht erkennen kann, da wir es ja nur durch die Brille unserer Sinnesorgane wahrnehmen) die prinzipielle Existenz der Objekte nicht in Frage stellt.
Sicher erscheint es jedem Nichttheologen grotesk, dass der Schreiner die Existenz seines von ihm selbst hergestellten Stuhls auf dem er sitzt, nur als ‚Könnte sein‘-Objekt annehmen dürfen soll, dessen eigentliches „Ding an sich“ Wesen er nach Kant nicht zu erkennen vermag. Berkeley ging aber noch einen Schritt weiter: die gesamte außer uns existierende Welt ist nach ihm nur deshalb existent, weil wir sie wahrnehmen.
John Locke, dem Voltaire folgt, geht dagegen davon aus, dass nichts in unserem Kopf ist, was nicht zuvor durch unsere Sinne empfangen wurde und unterscheidet primäre Qualitäten wie Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, Undurchdringlichkeit und Zahl, die der Materie ursprünglich eigen sind, von sekundären Qualitäten wie Gerüche, Farben, Töne, Geschmacksempfindungen usw., die wir von den Körpern zwar sinnlich empfangen, aber subjektiv in uns ausgestalten und benennen.
Demgegenüber huldigt Berkeley einem radikalen Immaterialismus: „Sein ist Wahrgenommenwerden oder Wahrnehmen“. Das Wahrgenommene besitzt keine eigene selbständige Existenz. Worin liegt nun der christliche Clou in Berkeleys Argumentation? Wenn es Objekte gibt, die eine eigene Existenz haben, so wären sie auch von Gott unabhängig und widersprächen der universalen Abhängigkeit der Schöpfung vom Schöpfer! Darauf muss man erst einmal kommen. Der hochgläubige Mann schrieb gegen die Freigeisterei eines Mandeville und Shaftesbury , er betätigte sich als christlicher Missionar in Übersee und war überzeugt, mit seiner Lehre das Christentum gegen die Aufklärung retten zu müssen.


B. Die Diskussion um die Frage nach der äußeren Realität im 18. Jahrhundert
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts stand das akademische Personal ganz im Banne Descartes und seines Körper-Geist/Seele Dualismus. Das ist eine Haltung, die den Geist (die Seele) als eine eigenständige Seinsform oder Substanz ansieht und diese von der Materie, der körperlichen Welt, trennt. Die materielle Substanz sei „ausgedehnt“ und teilbar, die geistige dagegen unteilbar und unendlich. Der Geist (die Seele) sei dem Menschen eigen, Tiere hätten ihn nicht und seien Maschinen ähnlich, erklärte Descartes und bestritt Voltaire (s. Artikel im Philosophischen Taschenwörterbuch Âme-Seele).
Aus diesem Körper/Geist Dualismus erst ergab sich das erkenntnistheoretische „Problem“, wie dieser Geist in seinem Gehäuse die Außenwelt wohl erkennen könnte. Berkeley löste das Problem, wie bereits gesagt, indem er der objektiven Außenwelt eine Existenz überhaupt absprach. Bis heute beschäftigt sich die Philosophie und auch die Naturwissenschaft mit diesem Thema. Eine Rezension des Buches zweier Hirnforscher, Haynes/Eckholdt „Fenster ins Gehirn“ aus dem Jahr 2021, zeigt das sehr gut, / und sie zeigt insbesondere, wie eng die Annahme des Dualismus an die Religion gekoppelt ist. Über zweihundert Kommentare geben einen guten Einblick in die Verwirrung, die dieser Dualismus bis heute anstiftet.
Es ist offensichtlich, dass es vor allem die nicht überwundene Religion war, die die Intellektuellen im 18. Jahrhundert daran hinderte, zu erkennen, dass der Geist und das Denken durchaus körperlich sind und dass der behauptete Dualismus überhaupt nicht existiert.
Man bezeichnet diese Gegenposition zum Dualismus heute als Monismus (bekannter Vertreter: Ernst Häckel) oder einfach als Materialismus, da sie die Vorstellung, es gäbe zwei Grundprinzipien, zwei Substanzen in der Welt ablehnt, und die Auffassung vertritt, dass alles Materie ist, auch der Geist.
Im 18. Jahrhundert war es vor allem der verfemte La Mettrie, Demokrit wieder aufnehmend, der diese Position vertrat und es gebührt ihm die Ehre, mit seinem Werk „Der Mensch als Maschine“, diesen Weg als erster im 18. Jahrhundert wieder beschritten zu haben, einen Weg, den nach ihm unter anderem Diderot, Helvetius und d’Holbach beschreiten sollten.

Leibniz‘ Monadologie, Voltaire erwähnt sie in seinem Artikel, stellt einen weiteren, allerdings mystisch-religiös eingefärbten Versuch dar, den Leib-Seele, Körper-Geist Dualismus mit Hilfe der Mathematik aufzulösen und ein einheitliches Prinzip, eben die Monade, Geist und Materie in einem, einzuführen. Zu diesem Thema existiert ein Wikipedia-Artikel, der Leibiz Monadenlehre hinreichend und verständlich erklärt.

In seiner vor über 100 Jahre erschienenen, aber noch immer lesenswerten Geschichte der Philosophie gibt Windelband (im Kapitel V, Die Philosophie der Aufklärung, S.358 ff ) einen guten Überblick über die Winkelzüge, die das Körper-Geist Dualismus Problem im 18. Jahrhundert hervorrief und welche Lösungsansätze dafür angeboten wurde. Berkley steht auf der einen Seite des Extrems (Verneinen der materiellen Welt zugunsten der geistigen), La Mettrie auf der anderen.

Und Voltaire? Er hielt es mit John Locke und hielt sich selbst vornehm – oder vorsichtig – zurück, gab aber immer wieder zu erkennen, dass er den Dualismus ablehnte und er verbannte die göttlich-geistige Sphäre in die Ecke des Ungewissen.

C. Quellen
– Breidert, Wolfgang, George Berkeley: Wahrnehmung und Wirklichkeit, in: Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen: Vandenhoek, 1979, S.211 – 240
Berkeley, Georges, Three dialogues between Hylas and Philonous, Amsterdam,1750, [dt.: Berkeley, Drei Dialoge…übers. und eingeleitet v. Dr. Raoul Richter Leipzig: Dürr, 1901]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.100 unten: „Es gibt nur Körper, sagen Demokrit und Epikur):  Leukipp und Demokrit (ca. 460-370 v. Chr.) entwickelten materialistisch- mechanistische und atomistische Theorien, die man bei Epikur wiederfindet, während Zenon von Elea die Unmöglichkeit von Materie und Bewegung zu beweisen versuchte.

Anmerkung 2 (S.101, 2. Absatz: „Er glaubt zu beweisen, dass es keinerlei Ausdehnung gibt“):  In Berkeleys Three Dialogues 170-172 dt. Drei Dialoge S.39,

Anmerkung 3 (S. 102: 2. Absatz: „Ich habe mich vor langer Zeit mehrfach mit ihm unterhalten…“): Das Treffen mit Berkeley muss zwischen 1726 und 1728  während Voltaires Exil in London stattgefunden haben.

Anmerkung 4 (S.176: „wenn er Hylas fragt…“):
Voltaire vertauscht hier die Namen der beiden Gesprächspartner.

Anmerkung 5 (S.176: „… dass die Körper aus unendlich vielen kleinen Wesen bestehen, die keine Körper sind“): Voltaire setzte sich mit  Leibniz‘ Monadologie in seinen Élements de la philosophie de Newton auseinander: Kapitel 8 (frz).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Convulsions – Zuckungen (Kommentare)

Zu dem Thema der Zuckenden/Convulsionisten gibt es auf Französisch einen ausführlichen Wikipedia-Artikel, der diese Bewegung religiösen Wahns und ihre Protagonisten lang und breit vorstellt; jedoch, wie leider oft bei solchen Artikeln zu religiösen Themen, ohne wirklich Licht ins Dunkel zu bringen.

In Voltaires Artikel geht es nur vordergründig um die Zuckenden, die Convulsionistes, eine jansenistische Wunderheiler-Bewegung ähnlich der Wallfahrtsbewegung nach Lourdes, oder der Wundersage vom Heiligen Rock von Trier, die sich bis zum heutigen Tage immer wieder erneuern. Im Wesentlichen geht es bei Voltaire aber um den Konflikt zwischen den beiden innerkatholischen Fraktionen der Jansenisten und der Jesuiten, beide Gegner der Aufklärer. Es würde hier zu weit führen, diesen Konflikt auszuleuchten, der es wohl wert wäre, einmal wissenschaftlich aufgearbeitet zu werden. Es wird im Folgenden nur möglich sein, einige kurze Hinweise zu den wichtigsten Konfliktlinien zu geben.
Voltaire schildert den scheinbaren Glaubensstreit belustigt, ist sich aber sehr bewusst, dass sich die Fraktionen im Kampf gegen die Aufklärung jederzeit verbünden können.

Hintergrund:
A
. Zum Jansenismus-Jesuitenstreit um 1700
Voltaire hatte in seiner Familie mit dem Jansenismus direkt zu tun: Sein Vater und mehr noch sein Bruder Armand waren dessen überzeugte Anhänger und Armand diente sogar als Zeuge für das Wunder bei Marie Sonnet, die sich dem Feuer aussetzte, ohne Verbrennungen zu erleiden. Voltaire setzte sich auch mit Blaise Pascal, dem bedeutenden Philosophen des Jansenismus, der die Prädestination, die Gnadenlehre und die menschliche Verworfenheit lehrte, philosophisch auseinander. Der Jansenismus (einen kurzen Abriss zu seiner Geschichte gibt Ulrich Rudnick), da kirchenkritisch und subjektbezogen und um die gleiche Anhängerschaft werbend, war eine gefährliche Konkurrenz zur Aufklärung, die, wäre sie erfolgreich gewesen, mit dem ihr eigenen Fanatismus das Licht der Aufklärung ausgeschaltet hätte.

In dieser Bewegung steckte auch das Potential, so etwas wie das französische Pendant der anglikanischen Kirche zu werden, daher erreichten sie ihr Ziel, innerhalb der katholischen Kirche anerkannt zu werden, zu keiner Zeit. So verlegten sich die Jansenisten mehr und mehr auf die Beeinflussung des Volkes. Und weil das Volk für Wundergeschichten empfänglich war, bekam es Wunder: die Convulsionisten-Heilungen auf dem Pariser Friedhof von St. Médard, eine Bewegung, die seit ihren Anfängen im Jahr 1727 trotz einem königlichen Verbot 1733 immerhin 30 Jahre andauerte.

Die Agitation im Volk erwies sich allerdings als zwiespältig – war der Jansenismus zunächst die Ideologie der Nobles de Robe, also des absolutistischen Amtsadels und seiner großbürgerlichen Anhänger, verlor er mit der Vernichtung der Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts seine wichtigste politische Funktion (nämlich das Bürgertum der katholischen Kirche und der absolutistischen Zentrale zu verpflichten) und war für die absolutistische Macht nicht mehr notwendig. Sie bekämpfte und unterdrückte den Jansenismus zunächst mit Hilfe der Jesuiten, um anschließend diese selbst verbieten zu lassen. Die nach dem Tode Ludwig XIV (1715) wieder bedrohte Zentralmacht spielte ihre Widersacher geschickt gegeneinander aus, bis sie schließlich alle in die Schranken verwiesen hatte.


B. Quellen
– Barbier, Edmond-Jean-Francois, Chronique de la régence et du règne de Louis XV (1718-1783), Paris, 1857-1885 Barbier in seinem Journal der Jahre 1732 ff berichtet als Zeitgenosse von den Convulsionisten, die nach dem Verbot trotzdem in Privatwohnungen weiter zuckten.
– Garinet, Jules, Histoire des convulsionnaires du dix-huitième siècle, et des miracles du diacre Pâris, Paris 1821 in: Dictionnaire Critique Des Reliques Et Des Images Miraculeuses de M. Collin de Plancy, S. 373-389. Der Autor kann sich nicht entscheiden: Wunder sind es zwar nicht, aber erstaunliche Vorkommnisse, die er nicht erklären kann, schon...
-Borel, Adrien, Les convulsionnaires du cimetière de la Saint-Médard et le diacre Pâris. 1935 (online Resource). Borel ist Psychiater und erzählt/interpretiert die Geschichte der Convulsionisten aus dieser Sicht als neurotische/hypnotische Zustände.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 S.174:  Da Pâris erst 1727 starb, dürften die Zuckenden/Convulsionisten erst in diesem Jahr in Erscheinung getreten sein.

Anmerkung 2 (S.175, Mitte: „seitdem ihr Xavier…neun Tote auf einmal auferweckte“):  Francois de Xavier (1506-1552), jesuitischer Missionar. Seine Wundertaten malte Rubens um 1620 für die Jesuitenkirche in Antwerpen.

Anmerkung 3 (S. 176: Soeur Rose, soeur Illuminé): Über ein Wunderheilungs-Séance in der Nachfolge der Convulsionisten aus dem Jahr 1759 berichtet als Augenzeuge ausführlich Charles Marie de La Condamine, in: Correspondance de Grimm, etc., Édition Maurice Tourneux; Paris, Garnier frères, 1878, tome iv, pages 379ff.

Anmerkung 4 (S.176: „Ein berühmter Theologe genoss den Vorzug gekreuzigt zu werden“):
Gemeint ist Abraham Chaumeix (1725-1773). Chaumeix denunzierte die Enzyklopädie gegenüber dem Pariser Gerichtshof in seiner Schrift Préjugés légitimes contre l’Encyclopédie 1758. Voltaire widmete ihm eines seiner gefürchteten Gedichte:  Le Pauvre Diable (1758).
In seiner Erwiderung gegen Chamonix zeigt ihn Diderot wie Jesus am Kreuz hängend (Mémoire pour Abraham Chaumeix contre les prétendus philosophes Diderot et d’Alembert. ; Amsterdam, 1759). Die Bemerkung ist also eine tagespolitische Spitze Voltaires und steht in keinem Zusammenhang mit den eigentlichen Convulsionisten.

Anmerkung 5 (S.176: Parlamentsrat Montgeron legte dem König einen Sammelband über alle Wunder von St. Médard vor): Louis-Basile de Mongeron (1686-1754)  war seit 1711 Parlamentsrat am höchsten Gerichtshof Frankreichs. Er hatte sein Buch ohne Erlaubnis der königlichen Zensur drucken lassen und wurde daher in die Bastille gesteckt, später in diversen Gefängnissen inhaftiert.

Anmerkung 6 (S.176 unten: gegen den Geist der Gesetze): Voltaire hatte Montesquieus Schrift verteidigt. Er äußert sich zu dem Konflikt in einem Abschnitt seiner Briefe über Rabelais an den Herzog von Braunschweig-Lüneburg.

Anmerkung 7 (S.177 oben: Die Samojeden): S. sind ein Volk in Sibirien. Vielleicht kannte Voltaire den Reisebericht von Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche, der 1761 – 1763 eine Forschungsreise nach Sibirien unternommen hatte und dieses Volk als zurückgeblieben darstellte.
.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Circoncision – Beschneidung (Kommentare)

Wenn auch im Judentum die Beschneidung als ureigenes jüdisches Zeichen der Verbindung Gottes mit Abraham und dessen Nachfahren gesehen wird und die Beschneidungszeremonie, die bereits am 8. Tage nach der Geburt vorgenommen wird, den Bund besiegelt, steht doch infrage, woher dieser Brauch ursprünglich stammt und wie man auf die seltsame Idee kommen konnte bzw. kann, in der Beseitigung der Vorhaut einen heiligen Akt zu erblicken. Allein diese Frage zu stellen, wird im Judentum als Sakrileg und im Islam als Grund angesehen, eine heilige Todesstrafe, die Fatwa, auszusprechen. Wie schwer sich auch angeblich zivilisierte Gesellschaften mit der Beschneidung tun, zeigte sich 2012 in Deutschland bei der öffentlichen Debatte um ein Beschneidungsgesetz Sicher ist, dass die Beschneidung schon lange vor dem Judentum existierte. Psychologisch gesehen besiegelt die Beschneidung die Unterwerfung des Sohnes unter die väterliche Gewalt, der ihm auch das Leben nehmen könnte, sich großzügigerweise aber mit einem kleinen, wenn auch schmerzhaften Opfer begnügt. Näheres zur Geschichte, Praxis der Beschneidung und zum Streit um deren Vor- bzw. Nachteile bringt der Medizinhistoriker David Gollaher, Circumcision, New York: basic books, 2000 [dt: Das verletzte Geschlecht, Berlin: Aufbau 2002]

Hintergrund:
A
. Zur Beschneidung im 18. JhdT:
Eine eigentliche Debatte um die Beschneidung gab es im 18. Jahrhundert nicht. Voltaires Artikel führte allerdings zu einer scharfen Entgegnung des kath. Theologen Nonnotte (s.u.)

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Nonnnotte, Claude Adrien,  Dictionnaire philosophique de la réligion, 1772 (4 vols.). Der kath. Theologe Nonnotte läßt an dem Artikel kein gutes Haar. Nicht zu Unrecht sieht er in Voltaires Zweifeln an der  Ursprünglichkeit des Beschneidungsrituals im Judentum die Erzählung der Bibel vom exklusiven Bund infrage gestellt.
– Calmet, Augustin, Art. Circoncision, in: Dictionnaire Historique, Critique, Chronologique, Geographique Et Litteral De La Bible, Genf 1730 vol. 2
Der Benediktiner-Abt Calmet aus Senones in den Vogesen, einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit, sieht, unter Verweis auf Celcius, Herodot,  dass die B. bereits in Ägypten gebräuchlich war, meint aber, sie sei eher symbolisch vorgenommen und nicht, wie bei den Juden, als verpflichtende Maßnahme für alle, die dem gemeinsamen Glauben folgen, vorgeschrieben worden.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: (S.97,oben, Die Juden sagen, sie seien in Ägypten aus Barmherzigkeit aufgenommen worden): s. Genesis, 47, zu Josephs Hilfeleistung für seine Familie, die unter einer Hungersnot litt.

Anmerkung 2: (S.97, oben, „wem kann man nun den Ursprung dieses Brauchs zuschreiben…?): Ein Basrelief aus Sakkara zeigt, dass die Beschneidung in Ägypten schon 2400 v.u.Z praktiziert wurde, s. Gollahar S. 13 ff., und den Wikipedia Artikel Beschneidung im Alten Ägypten.

Anmerkung 3: (S.97, man musste beschnitten sein, um der Priesterschaft Ägyptens anzugehören): Es liegt nahe, dass die Juden einen Brauch, der unter Ägyptern für die Priesterkaste vorgeschrieben war, für sich als eine Art nachträgliche Genugtuung übernahmen. Vor allem, wenn man der Annahme folgt, dass sie ursprünglich Anhänger von Echnaton und seiner in Ägypten verfolgten monotheistischen Lehre waren (Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion und auch div. Studien v. Jan Assmann).

Anmerkung 4: (S.98, „All das belegt, dass das kleine jüdische Volk trotz seiner Abneigung gegen die große ägyptische Nation…“): Diese Abneigung erinnert an den bekannten Spruch: Die größten Feinde der Elche – waren früher selber welche, einen Gedanken, dem Voltaire allerdings nicht folgt. Die historische Herleitung der jüdischen Bräuche deutet dies zwar an, im 18. Jahrhundert gab es jedoch niemanden, der das Judentum religionsgeschichtlich an die Lehre Echnatons anschloss, wie auch: Da man das Ägyptische vor Champollions Entdeckung des Steins von Rosetta 1822 noch nicht lesen konnte und die Archäologie noch in den Kinderschuhen steckte, waren die Kenntnisse über die ägyptische Geschichte auf die Berichte Herodots (5. Jhdt. v.u.Z.) und anderer Reisender angewiesen. Amarna, die Hauptstadt Echnatons wurde erst im Jahr 1820 entdeckt.

Anmerkung 5: (S.98, 2. Absatz, Die Genesis sagt, dass Abraham schon vorher beschnitten worden war…): So sagt die Genesis es nicht, wohl aber, dass Abraham Ägypten bereiste, bevor er die göttliche Anweisung zur Entfernung der Vorhaut erhielt. Siehe dazu Genesis 17 .

Anmerkung 6: (S. 98 2.Absatz, nicht beschnitten bis zur Zeit Josuas): Josua, Nachfolger Moses und legendärer Heerführer Israels, führte sein Volk ins gelobte Land. Dass die Beschneidung bereits zu Moses Zeiten praktiziert wurde, zeigt Exodus 14.

Anmerkung 7: (S. 100, der Phalluskult bei den Ägyptern): Darüber berichtet Herodot, Historien, II, 44
.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Le Ciel des anciens – Der Himmel in der Antike (Kommentare)

Man vergleiche den Artikel von Voltaire, 260 Jahre alt, mit einem neueren zum gleichen Thema, etwa mit dem der Sternwarte der Universität Innsbruck. Er ist ebenso kurz, umfasst eine ähnliche Zeitspanne; sogar die gleichen Personen kommen in dem Artikel vor – aber wie tief ist unsere Zeit gesunken, dass man den Studenten/Schülern mit solchem Gedankenschleim das Gehirn füllt: Zur Geschichte der Astronomie. Wenn es darin um die Frage geht, warum sich die Menschen für die „Sterne“ interessierten, fühlt man sich an Pangloss (Candide) erinnert: „Merken Sie wohl! Alle Nasen wurden gemacht, Brillen zu tragen, darum haben wir Brillen.“ Dass die besten Wissenschaftler existentiell bedroht waren, wenn sie die Sonne ins Zentrum stellten, oder eine Drehbewegung der Erde für wahrscheinlich ansahen, erfährt man nicht, nicht einmal bei Galilei , auch nicht bei Kepler, dessen Mutter einem ekelerregenden Hexenprozess ausgesetzt war.

Dies ist eine nur erste Bemerkung zum Thema, ausgelöst durch das Erschrecken bei der Lektüre des genannten Innsbrucker Sternwartenartikels.

So kurz Voltaires Artikel ist, hat er es doch in sich: er streift die Entwicklung der menschlichen Beobachtungsgabe hin zur Wissenschaft, enthält die Verfolgung ihrer Protagonisten durch die Kirche und führt hin zu den für die Astronomie im 18. Jahrhundert grundlegenden Erkenntnissen Newtons.

Hintergrund:
A
. Die Astronomie im 18. Jahrhundert:
In seiner allgemeinverständlichen Geschichte der Astronomie (Die Himmelskunde, Düsseldorf: Econ, 1965) bezeichnet der Autor Willy Ley das 18. Jahrhundert als das „Himmlische Jahrhundert“, weil jetzt die Erkenntnisse Newtons zu einem Aufblühen der Astronomie als Wissenschaft führte. In Frankreich waren die wichtigsten Protagnisten Charles Messier, Joseph Nicolas Delisle, Alexandre-Gui Pingré und der einflussreiche Bovier de Fontenelle.
Von den 9 Planeten unserer Hemsiphäre kannte man fünf: Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn.

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Voltaire, Questions sur L’Encyclopédie, Le ciel matériel (1770). In dieser Schrift fasst Voltaire die astronomischen Kenntnisse seiner Zeit zusammen.
– De Fontenelle, Bernard le Bovier,  Entretiens sur la pluralité des mondes, Paris: Blageart, 1686, 359 p. [dt.: Dialogen über die Mehrheit der Welten, übersetzt von J. Chr. Gottsched, Berlin: Himburg, 1780, 355 S.). F. stellt die astronomischen Lehren von Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes vor, die allesamt der christlichen Annahme von der Erde als Mittelpunkt der Welt widersprechen. Es kam sofort auf die Liste der verbotenen Bücher
– Newton, Isaac, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, 1687 [frz.:]
– ders. De motu corporum in gyrum, 1684
– Pluche, Noël-Antoine, [dt.: Schau-Platz der Natur. Oder: Unterredungen von der Beschaffenheit und den Absichten der Natürlichen Dinge, 8 Bde. Monath, Wien und Nürnberg 1750–1754]
– ders., Histoire du ciel, 2 Bde. Paris: Veuve Estienne, 1739–1741. [dt.: Historie des Himmels darinnen vom Ursprunge der Abgötterey und von den philosophischen Irrthümern über die Entstehung des Weltgebäudes und der ganzen Natur gehandelt wird. 3 Bde. Hekel, Dresden und Leipzig 1740–1742.]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: (S.90, „wie Fontenelle sehr gut…bemerkt hat“): De Fontenelle, Bernard le Bovier (1657-1757), in seinen Entretiens bringt er die Seidenraupen-Analogie im ersten Gespräch (Dass die Erde ein Planet ist, der sich sowohl um sich selbst, als auch um die Sonne drehet, Dialogen, S.45,46).

Anmerkung 2: (S.92, 1. Absatz, ..dass die Erde und die Planeten um die Sonne kreisen. „Das jedenfalls lehrt uns Aristarchos von Samos“): Plutarch, der in seiner Schrift De facie in orbe lunaeÜber das Gesicht im Monde (Moralia, XII, engl – p 52 ) Aristarchs Lehre vorstellt, lässt einen seiner Streitenden folgende Worte aussprechen: „Nur gehe nicht hin, mein guter Freund, und strenge einen Prozeß gegen mich an wegen Gottlosigkeit…“ (Ley, Die Himmelskunde, S.47).

Anmerkung 3: (S.93, unten, „Ein Schriftsteller, den man, glaube ich, Pluche nennt“): Noël-Antoine Pluche war im 18. Jhdt ein außerordentlich erfolgreiche Schriftsteller. Sein Spectacle de la nature (8 vols) und seine Histoire du ciel (3 vols) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Voltaire besaß sie alle beide und hatte sie vielfach angemerkt. Pluche popularisierte die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und versuchte sie mit der christliche Religion zu „harmonisieren“.

Anmerkung 4: (S.94, zweiter Absatz, „Calmet…spricht vom System der Hebräer“): In der Tat waren die astronomischen Kenntnisse Israels im Vergleich zu Babylon, Assyrien und Ägypten sehr bescheiden. In einigen Bibelstellen wird die Himmelskunde als fremden, feindlichen Völkern zugehörig dargestellt und in die Nähe einer Gotteslästerung gerückt (etwa Zephania 1,5, Jesaja 47,13-14). In Sonnen oder Mondfinsternissen sah man Zeichen einer drohenden Bestrafung.

Anmerkung 5: (S.94, letzter Absatz, „Ausgenommen die Chaldäer“): Im Alten Testament werden die Babylonier „Chaldäer“ genannt, evtl. weil Nebukadnezar, ab 625 v u. Z. König v. Babylon war, aus dem chaldäischen Volk stammte, das im übrigen mit den Assyrern eng verwandt war. Im engeren Sinne versteht man unter Chaldäer die Priesterastronomen Babylons. Sie waren in der Lage, bestimmte Planetenkonstellationen ziemlich genau vorherzusagen.

Anmerkung 6: (S.95. erster Absatz, „es ist leicht einzusehen, dass nach dieser Auffassung Antipoden unmöglich waren“): Bis in das frühe Mittelalter glaubte man, dass der untere Teil der Erde nicht bewohnt sei. Die Menschen würden dort ja schließlich hinunterfallen. Erst mit Newtons Entdeckung der Gravitationsgesetze konnte man diesem Irrglauben wissenschaftlich begegnen, wenn auch schon durch die frühen Seefahrer mehr und mehr klar wurde, dass diese Behauptung falsch ist.

Voltaire-Übersetzer: Johann Albrecht Philippi (1721 – 1791), Polizeipräsident und Bürgermeister Berlins

Johann Albrecht Philippi, (* 16.4.1721 – † 9.11.1791 in Berlin). Philippi machte sich unsterblich durch eine Petitesse: Er übersetzte als erster Voltaires Candide ins Deutsche. Er war Jurist und unter Friedrich II. mit mehreren hohen Staatsämtern betraut, u.a Polizeidirektor (1767), Geheimer Kriegsrat und von 1771 bis zu seinem Tode 1791 Stadtpräsident (Bürgermeister) von Berlin. Philippi baute nach einem Aufenthalt in Paris, dem dortigen Vorbild entsprechend, die Polizei in Preußen auf. Er versuchte, die Machtbefugnisse des Adels einzuschränken und war bei diesen nicht sonderlich beliebt. Von ihm existiert ein Kupferstich-Portrait aus der Feder Chodowieckis:

aus Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, Bd3 1774



sowie eine kleine Notiz in der Bayreuther Zeitung vom 18.11.1791, die aus der Berliner Zeitung (10.11.1771) vom Ableben Philippis berichtet und der wir einige Angaben zu seinem Leben verdanken (s.u., Lebenslauf).

Johann A. Philippi als Übersetzer Candides

Die erste Übersetzung von Voltaires Candide (mehr Informationen zu Candide) lieferte Johann Albrecht Philippi bereits im Jahre 1761, zwei Jahre nach der Veröffentlichung des französischen Originals mit dem Titel:

Die beste Welt. Eine Theologische, Philosophische, Praktische Abhandlung.
aus dem Spanischen Grund-Text des Don Ranudo Maria Elisabeth Francisco Carlos Immanuel de Collibradoz, Beysitzer der heiligen Inquisition, übersetzet; und mit einer Vorrede, auch Zuschrift und Register begleitet von Johann Albrecht Ralph, der beyden Rechte Doctor und öffentlichen Lehrer zu W .., 176
1

Dass diese Übersetzung von Philippi ist, war Eingeweihten sicher bekannt und ist in der großen Bibliographie Deutscher Übersetzungen aus dem Französischen (1952) von Fromm auch richtig vermerkt (Fromm 26940), jedoch mit einem falschen Titel („Candide, oder die beste Welt“) und dem Erscheinungsjahr 1751, als Candide noch gar nicht erschienen war.
Helmut Knufmann in einem erhellenden und sehr lesenswerten Artikel Das deutsche Übersetzungswesen des 18. Jahhrhunderts (1967) fand heraus:

  • Der Übersetzer ist wirklich Philippi, nur erschien das Werk 1761 in Leipzig bei Hartknoch.
  • Der angebliche Verfasser Ranudo ist ein Anagramm und bedeutet von hinten gelesen „O Du Narr“
  • Weil Voltaire im Originaltitel behauptet, Candide sei der ins Französische übersetzte Roman eines deutschen MR. le Docteur RALPH, nutzt Philippi den Namen des angeblichen deutschen Verfassers, um sich selbst als Übersetzer dahinter zu verstecken und verleiht ihm seine eigenen Vornamen: Johann Albrecht Ralph.

Wir ergänzen (was herauszufinden nur mit Hilfe des Internets möglich war):

  • Der akademischen Titel: „der beyden Rechte Doctor“, entsprachen sehr wahrscheinlich ebenfalls denen Philippis, denn er war Jurist.
  • Zur Zeit der Übersetzung befand sich Philippi in österr. Kriegsgefangenschaft zu Wien. Sein „und öffentlichen Lehrer zu W ..“ wird somit den Tatsachen entsprechen.
  • Es stimmt, „Ranudo“ steht für „O Du Narr“, aber der Name verweist auf ein damals ziemlich bekanntes Lustspiel Ludwig v. Holbergs aus dem Jahre 1755, mit dem Titel Don Ranudo de Colibrados oder Armut und Hoffart, von dem ihn Philippi entlieh.
  • Seine Widmungsschrift „Liebwerthester Bruder“ darf durchaus ernst genommen werden und passt zur Situation des in Kriegsgefangenschaft festsitzenden Philippi.
  • Das angebliche Register, das er im Titel erwähnt, stellt sich als Aphorismensammlung heraus, in der Philippi Sinnsprüche u. a. von Gellert, Horaz und seine eigenen mitteilt, die zeigen, wie stark er der Aufklärung verbunden war.
  • Der in einer weiteren Ausgabe von 1762 angebundene zweite Teil ist Philippis Zutat. Er enthält so etwas wie sein Credo, sein Blick auf die Welt nach einem verheerenden siebenjährigen Krieg, an dem er beteiligt war.
  • Eine weitere Ausgabe von 1773, also zur Zeit, wo Philippi bereits Bürgermeister von Berlin war – er stand also zu seiner Candide Publikation! – entspricht, soweit wir es überprüfen konnten, der von 1762 (mit dem angebundenen zweiten Teil).

Nun zur Übsetzung selbst, es war gewiss nicht die schlechteste der fast unendlichen Reihe weiterer Übertragungungen ins Deutsche. Wir verwenden auch hier unsere beiden Referenzstellen aus Candide, um Philippis Übersetzungsstil kurz vorzustellen:

1. Voltaire: Remarquez bien que les nez ont été fait pour porter des lunettesaussi avons-nous des lunettes.
Philippi: „Merken Sie wohl! Alle Nasen wurden gemacht, Brillen zu tragen, darum haben wir Brillen.“

Der lockere Schwatzton ist sehr gut getroffen, knapp, ohne irgendeine umständliche Zutat, genau im Begriff (z.B. „haben wir Brillen“ und nicht, wie heute meist übsersetzt wird. „tragen wir Brillen“.

2. Den dritten Satz des Candide: Il avait le jugement assez droit, avec l’esprit le plus simple; c’est, je crois, pour cette raison qu’on le nommait Candide, übersetzt Philippi wiederum, ganz anders als später Mylius, sehr eng am Original, nur mit einer kleinen Ergänzung zur Wortbedeutung von Candide für seine deutschen Leser:
„Er hatte eine ziemliche Urteilungs Kraft, sein Herz war ohne Falsch und ich glaube, dass ihm disfalls [deshalb] der Nahme Candide, welcher soviel als redlich heißt, beygelegt worden“

Lebenslauf

  • 16.4.1721 wird Johann Albrecht Philippi geboren
  • 26.5.1742 Auditeur im Kleistschen Infanterieregiment, d.h. er fungierte als Ankläger in Kriegsgerichtssachen, eine Funktion, die Juristen vorbehalten war.
  • 1753 Philippi veröffentlicht: Die wahren Mittel zur Vergrößerung eines Staates, Berlin: Haude & Spener, 1753, 185 S., das er 1759 in erweiterter Form erneut herausgibt. Eine launige Besprechung dieses Werkes findet man in: Göttingische Anzeiger von gelehrten Sachen (1760, Nr.80)
  • 1759 -1763 Im Siebenjährigen Krieg geriet er in der Schlacht von Maxen in Österreichische Gefangenschaft. In dieser Zeit muss er auch den Candide übersetzt und 1761 bis zur Veröffentlichung gebracht haben.
  • 1765 Philippi veröffentlicht Der vertheidigte Korn-Jude, Berlin 1765
  • 1766 erscheint Philippis Übersetzung von Ange Goudar (eines französischen Abenteurers und Freundes von Casanova) Les Intérêts de la France mal entendus, dans les branches de l’agriculture, de la population, des finances, du commerce, de la marine et de l’industrie, 1759, in der Goudar gegen die Verschwendungssucht des Adels zur Sparsamkeit aufruft [dt.: Staatsfehler der mehresten Höfe (Übersetzung von Philippi), 1766], eine Rezension findet man in der Allgemeinen Bibliothek von 1768
  • 1766 reist Philippi im Auftrag des Königs nach Paris, um das dortige Polizeiwesen zu studieren und nach diesem Vorbild die Polizei in Preußen aufzubauen.
  • 1767 Rückkehr nach Berlin, Ernennung „zum Polizeidirector hiesiger Residenzien,.. zum Geheimen Kriegsrath und Stadpräsidenten Berlins“.
  • 1769 wohnt Philippi in der Heiliggeiststrasse, einer der vornehmsten Straßen Berlins in unmittelbarer Nähe des Schlosses (Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, Nicolai 1769).
  • 1771 erscheint Der vergrößerte Staat, Berlin 1771, in dem er, ganz Physiokrat, Bevölkerungsreichtum, Ausbau der Landwirtschaft, aber keine arbeitseinsparende Maschinen empfiehlt. Siehe dazu: Ergang, Carl F. H.: Untersuchungen zum Maschinenproblem in der Volkswirtschaftslehre, 1911
  • Johann Albrecht Philippi stirbt in Berlin am 9.11.1791.

Quellen

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Christianisme – Christentum (Kommentare)

Die Geschichte des Christentums zeugt von der beispiellosen, weltweiten Ausbreitung einer Glaubenslehre und ihrer Organisation. Keine andere Religion war jemals, weder vorher noch nachher, in ähnlichem Maße erfolgreich. Wie konnte ihr das gelingen?
In Voltaires Wörterbuchartikel ist nicht davon die Rede, dass das Christentum den anderen Religionen intellektuell überlegen gewesen wäre, noch, dass es ein höheres Bildungsniveau repräsentierte, oder dass es gar eine humanere Lebensart predigte; es geht in dieser Geschichte, wie sie Voltaire erzählt, auch nicht um Liebe, um Menschlichkeit, und schon gar nicht um Freiheit.
Voltaire führt die Erfolgsgeschichte des Christentums stattdessen auf eine Mischung aus Täuschung, Betrug, falschen Versprechungen zurück, auf die teilweise Aneignung von Glaubensinhalten anderer Religionen, insbesondere der jüdischen, auf die Anwendung von Zauberlehren und mystischen Angstritualen. Vor allem aber, zumindest ab dem 2. Jahrhundert, kennzeichnet das Christentum ein unaufhaltsamer Wille zur Macht, als dessen Ausgeburt die weltweit zur Herrschaft drängende katholische Kirche anzusehen ist.

Der heutige Forschungsstand ist davon nicht allzu verschieden. Über David Friedrich Strauss Leben Jesu (1835) bis hin zu Deschners voluminöser Kriminalgeschichte des Christentums (1986 ff) haben sich die Belege zur unaufhaltsamen Machentfaltung des Christentums vermehrt und immer weiter verdichtet.

Hintergrund:
1. Frankreich im 18. Jahrhundert
Durch den Machtverlust der katholischen Kirche konnte in Frankreich die Philosophie der Aufklärung entstehen, die zwar dem Absolutismus positiv, der Kirche und auch dem Calvinismus aber negativ gegenüberstand. Pierre Bayle, der Verfasser eines berühmten kirchenkritischen Wörterbuchs und viele der ersten Aufklärer waren im 17. Jahrhundert noch gezwungen, ins protestantische Ausland zu fliehen (siehe dazu ausführlicher unsere beiden Kommentare: Das Christentum und die Macht , sowie Die Religion im 18. Jahrhundert). Auch Voltaire musste sich noch vor Verfolgung schützen und siedelte sich deshalb nahe der schweizerischen Grenze in Ferney an, von wo aus er ab 1760 einen erbitterten Kampf gegen Kirche und Christentum führte. Seine Strategie, die man mit: „Kämpft gegen die Kirche, aber nicht gegen den Glauben selbst!“  beschreiben könnte, kam Mitte des 18. Jahrhunderts durch eine ganze Reihe atheistischer Schriften unter Druck.
Insbesondere d’Holbach mit seinem Le Christianisme dévoilée (1756) [dt.: Das entschleierte Christentum] und Hélvetius mit seinem Hauptwerk De l`Ésprit (1759)  [dt.: Vom Geist] veröffentlichten aufsehenerregende Schriften, die Voltaire bei seinen Anhängern defensiv aussehen ließen, aber auch gefährdeten, denn seine Gegner brachten ihn mit diesen Werken in Verbindung und die Glut der Scheiterhaufen war schließlich noch nicht ausgetreten. Das Philosophische Taschenwörterbuch war in dieser Hinsicht auch einen Antwort auf die atheistische, sehr viel radikalere Kritik am Christentum, war ein Aufruf zur Vorsicht und zur Mäßigung.

2. Veröffentlichungen gegen das Christentum im Europa des 18. Jahrhunderts
Voltaire gibt selbst eine Übersicht zu den antichristlichen, meist deistisch (d.i.: Es gibt einen Schöpfer, der aber nicht in das weitere Weltgeschehen eingreift) , manchmal auch atheistisch orientierten Autoren in: Lettres à S. A. MGR LE PRINCE de ***** sur RABELAIS et sur d’autres auteurs accusés d’avoir mal parlé de la réligion chrétienne (1767) [dt.: Briefe …. über Rabelais und andere Autoren, die man beschuldigt, schlecht über die christliche Religion zu sprechen].
Wir haben die entscheidenden Kapitel ins Deutsche übersetzt (Deutsche Erstübersetzung von Rainer Neuhaus, 2024) und ausführlich kommentiert, denn der Text wäre für heutige Leser teilweise unverständlich – auch das ist ein Ergebnis der fehlenden Überlieferung: Man schweigt über die Kritiker, damit sie vergessen werden.

3. Quellen, die Voltaire für seinen Artikel verwendete
Die Quellen, die Voltaire anführt, waren ihm oft durch die Veröffentlichungen der englischen Deisten, insbesondere Warburton und dessen Divine legation of Moses, bekannt geworden, aber auch durch Firmin Abauxit oder Coyers Middleton. Wir nennen sie hier, damit wir in den Anmerkungen darauf nicht en detail einzugehen brauchen – die Voltaire Foundation in ihrer Ausgabe hat sich dieser Mühe unterzogen, darüber jedoch das Wesentliche, die Argumentation, aus den Augen verloren):
3.1. Middleton, Conyers (183-1750), Miscellaneous works
Reflections on the variation…found among the four evangelists (1752)
A Free Enquiry into the Miraculous Powers, which are Supposed to Have Subsisted in the Christian
Church from the earliest ages (1749), in Miscellaneous works
Some cursery reflections on the dispute which happened…between Peter and Paul, in Miscellaneous works (1747)
Letter from Rome, showing an Exact Conformity between Popery and Paganism (1729).
3.2. Abauzit, Firmin ( (1679 – 1767): Oeuvres diverses, es. Moultou 1770
Sur la connaissance du Christ, in Oeuvres

► Voltaires Artikel Christentum war Gegenstand einer ausführlichen Kritik im Journal hélvetique von 1766, wo in 5 Ausgaben die „Fehler“ Voltaires erörtert wurden, mit dem Ziel, das Christentum und die Bibel zu verteidigen. Voltaire reagierte darauf mit Ergänzungen in der Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1769.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020).
Mit Karlheinz Deschners Abermals krähte der Hahn, Eine kritische Kirchengeschichte (1962) liegt eine fast ideale Ergänzung zu Voltaires Artikel vor. Das Buch ist ein Glücksfall, fast selbst wie ein 722 s. umfassender Kommentar zu Voltaires Text anzusehen, angereichert mit allen neueren Forschungsergebnissen, akribisch sondiert und belegt. Deshalb beziehen wir uns in den Anmerkungen fast ausschließlich auf dieses Werk.

1. Kritische Sichtung der Belege, die Existenz und Person Jesu betreffend.

Anmerkung 1 (S. 149, erster Absatz: „…dass die kleine Passage. … später eingefügt wurde.”): Warburton, auf dessen Divine legation (1755, ii, S.57) sich Voltaire mehrfach bezieht, schreibt:“We conclude, therefore, that the passage of Josephus.. which acknowledges Jesus to be the Christ, is a rank forgery, and a very stupid one too“ (Siehe zu Warburton dessen Vorstellung in Voltaires Lettres sur Rabelais (1767)). Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.15: „Die Stelle ist fast allgemein als Fälschung anerkannt“; dazu auch seine Zusammenfassung der neueren Studien und Position zur Frage der Geschichtlichkeit Jesu im 1. Kapitel.

Anmerkung 2 (S. 150, zweiter Absatz: bei Jesus Tod um die Mittagsstunde soll sich weltweit eine große Dunkelheit verbreitet haben): Davon erfährt man bei Tertullian: „Er hauchte nämlich, der Dienstleistung des Scharfrichters zuvorkommend, freiwillig den Geist mit einem Ausrufe aus. In demselben Augenblick verschwand das Tageslicht, obwohl die Sonne Mittags-höhe zeigte. Das hielten die, welche nicht wußten, daß auch dies in betreff Christi vorhergesagt war, natürlich für eine bloße Sonnenfinsternis. Und doch findet sich auch dieser Zwischenfall im Weltall in euren geheimen Archiven berichtet.“ Tertullian, Apologetikum oder Verteidigung der christl. Religion und ihrer Anhänger, 198, übers. von Dr. K. A. Heinrich Kellner, BKV 24, Bd. II, Bibl. der Kirchenvä-ter. Neu bei Herder, Übers. Tobias Georges, 2011.

Anmerkung 3 (S.151 2. Absatz: Unterschied der Genealogien Jesus): Viel Tinte ist über die Frage, warum sich Matthäus und Lukas bzgl. der familiären Herkunft Jesu unterscheiden, vergossen worden. Eine Erklärung für die unterschiedlichen Angaben war, dass der eine die rechtliche Ahnenreihe, der andere die natürliche wiedergibt. In einem verwickelten Artikel versucht bei Wikipedia eine ganze Autorenschar, die diversen Erklärungen zu verstehen: https://de.wikipedia.org/wiki/Vorfahren_Jesu 5

Anmerkung 4 (S.151 3. Absatz: Das Aus-Wasser-wird-Wein-Wunder): Das Wunder wird in Johannes 2, 1-10 erzählt und von Woolston in seinem A Discourse On the Miracles of Our Saviour (1729) rational erklärt. Voltaire stellt Woolston und seine Erklärung in seinen Lettres sur Rabelais vor.

2. Das Christentum als jüdische Sekte, Jesus kein Gott (152)

Anmerkung 5 (S. 152, 2. Absatz: „Josephus spricht … von einer rigoristischen Sekte der Juden“): Wie man sich die Abspaltung der „christlichen“ Urgemeinde vom Judentum vorzustellen hat, erzählt Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.151ff

Anmerkung 6 (S. 153, unten: … die Essener, Judaiten, Therapeuten,…): In den Kapiteln 13 und 14 des 1. Kapitels behandelt Deschner die vielen Vorchristlichen Sekten (Christentum vor Christus).

Anmerkung 7 (S. 155 unten: Dieser Apostel spricht…..keineswegs von der Wesensgleichheit Jesus mit Gott…): Er vertritt also nicht die Lehre des Konzils von Nicäa (325 v.u.Z.), s. Anmerkung…. Dazu auch Deschner, Abermals krähte der Hahn: „Bis weit ins 3. Jahrhundert wurde Jesus meist nicht mit Gott identifiziert“ (Abermals krähte der Hahn, S.382).

4. Die entstehende Kirche (156)

Anmerkung 8 (S. 157 oben: „Der Streit erreichte Antiochia.”): s. zu dieser Auseinandersetzung Deschner, Abermals krähte der Hahn, Die Anfänge des Heidenchristentums S. 161 ff, der die Geschichte als Machtkampf der Paulianer gegen die Judenchristen darstellt, den Paulus gewann, wobei es auch an den Überlieferungen zur Person Paulus viele Zweifel gibt.

Anmerkung 9 (S.156 2. Absatz: „in einem Brief, der im Jahr 117 geschrieben wurde“ ): Der Kommentar der Voltaire Foundation weist darauf hin, dass es „im Jahr 177“ heißen müsste. Voltaire gibt in dieser Passage einen Text (Sur la connaissance du Christ) von Firmin Abauzit (1679 – 1767) wieder, in dem es um die Zweifel an der Person Jesu geht.

5. Die ersten Kirchengemeinden (158)

Anmerkung 10 (S.159, 3. Absatz: „Man hat dem heiligen Justinus..vorgeworfen..“): Diese Passage ist interessant, weil sie einen Fehler (Der Ausspruch des Justinius erscheint in seinen Dialogen, nicht in dem Kommentar zu Jesaja) enthält, der aber Voltaires – nicht genannte – Quelle aufdeckt, nämlich A Free Enquiry into the Miraculous Powers, which are Supposed to Have Subsisted in the Christian Church von Conyers Middleton (1683-1750). Das belegt Norman L. Torrey in seiner umfangreichen Studie: Voltaire and the English Deists (Oxford 1963).

Anmerkung 11 (S. 161, 3. Absatz: „…was die Christen am meisten auszeichnete, ist…dass sie die Macht besaßen, die Teufel mit dem Kreuzeszeichen auszutreiben”): vgl. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 485, Der Geisterglaube der Kirche.

6. Verfolgung, die Märtyrer (163)

Anmerkung 12 (S. 163, 3. Absatz: „…da sich die Christen aber zu Feinden aller dieser Kulte machten….”): Im Kapitel 43, Der Blutstrom der Kirche, zeigt Deschner, (Abermals krähte der Hahn, S. 343ff), wie die Christen ihre Verfolgung mächtig aufbauschten, z.B. wurde bis 250 kein einziger römischer Bischof getötet (S.344).

Anmerkung 13 (S. 163, 3. Absatz: Ignatius als Märtyrer”): zu Ignatius Bedeutung vgl. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 230, Ignatius von Antiochien.

Anmerkung 14 (S. 166, 4. Absatz: „…es gab zu verschiedenen Zeiten eine so große Anzahl von Märtyrern): vgl. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 346, Kapitel Die Märtyrer. Er berichtet, dass man eine Zahl von 1500 Märtyren nennt, jedoch nur einige Dutzend namentlich belegt werden können.

7. Konstantin, die Kirche an der Macht (168)

Anmerkung 15 (S. 169, 2. Absatz: „Damit nahm die Kirche eine herrschaftliche Form an“): Zu den Lebensumständen unter Konstantin und dem Christentum sagt Deschner, sie hätten sich für das normale Volk verschlechtert. „Dafür hatte man jetzt einen neuen Herrenstand, den Klerus, dessen große Mehrheit dem Volk Bedürfnislosigkeit, Dämpfung des politischen Aufbegehrens und pünkliches Steuerzahlen an den Kaiser predigte und um so eher zum Entgegenkommen bereit war, als es den Geistlichen, besonders den Bischöfen, auch persönlich immer besser ging“ (Abermals krähte der Hahn, S.380).

8. Das Konzil von Nicäa, gegen Arius (170)

Anmerkung 16 (S. 170, 1. Absatz: „..Jesus als reinste Emanation des höchsten Wesens, ..aber nicht Gott gleichgestellt”): Das Konzil von Nicäa (325) beschloss die sog. nicäaische Formel, nach der zwischen Gott und seinem Sohn eine sog. Homousie herrsche, eine Wesensgleichheit. Eine Lehre, die bis dahin völlig unbekannt war; niemand wusste, was das bedeuten sollte. Aber Kontantin entschied: „Was 300 Bischöfe bschlossen haben, ist nichts anderes als ein Urteil Gottes“. (n. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.394)

Anmerkung 17 (S. 171, 1. Absatz: „…die Auffassung von Arius…”): Bischof Arius und seine Anhänger waren strike Gegner der nicäischen Wesensgleichheitsbehauptung, die für sie den Monotheismus aushebelte.

9. Konzil von Ephesus, Maria als Mutter Jesu/Gottes (172)

Anmerkung 18 (S.172, 2. Absatz: „Das dritte allgemeine Konzil…entschied, dass Maria wirklich die Mutter Gottes war): Deschner, S.362: „Bis zum 3. Jahrhundert wußte die Christentum nichts von einer immerwährenden Jungfrauschaft Mariens“ und zum Konzil von Ephesus (S.366) weist er auf den auffälligen Übergang des Isis-Kultes auf den Mariakult hin. Über den Marienkult und die Trinitätslehre wurde heftig gestritten: „Es kam vor, wie auf der Synode von Ephesus, dass die Bischöfe mit Stöchken aufeinander einschlugen, bis endlich, nachdem die eine Fraktion das Feld geräumt hatte, der Heilige Geist sprach und das gottgewollte Resultat zustandekam“.(Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.381).

10. Die weitere Entwicklung, Ost- und Westkirche, Reformation, Ausbreitung und Vertreibung in Asien (172/3)

Anmerkung 19 (S. 172 unten): „Die römisch-katholische Kirche verlor …die Hälfte..“ siehe zu den Ereignissen im Vorfeld des 30 jährigen Krieges: Deschner: Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 9, Kap. 9: Die Schlammschlacht vor dem großen Krieg. Vom publizistischen Schlachtfeld zum militärischen, S.287 ff

Anmerkung 20 (S. 173, 2. Absatz: „Francisco de Xavier, der das Evangelium nach Ostindien und nach Japan brachte, als die Portugiesen auf der Suche nach Handelsware dorthin gingen“): James Clavell übernahm für seinen Roman Shogun (1975) einige der Aufzeichnungen Xaviers über die Jesuitenmission in Japan. Der Roman wurde vielfach (zuletzt 2024) verfilmt.

Anmerkung 21 (S.173, 3. Absatz – über die Jesuitenmission in China): siehe dazu unsere Kommentarseite zum Artikel China des Philosophischen Taschenwörterbuchs.

Anmerkung 22 (S.174, 2. Absatz, Die weiteren Ausdehnung des Christentums in Afrika, Amerika, bis zu einem Anteil von 32% der Weltbevölkerung): Heute besitzt das Christentum einen Anteil von 32,2%, wie die Internetseite www.katholisch.de berichtet. Zur Expanisonsgeschichte siehe Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 9 (MITTE DES 1 6 . BIS ANFANG DES 18. JAHRHUNDERTS), Vom Völkermord in der Neuen Welt bis zum Beginn der Aufklärung (2008).

Die Gegner des Christentums, vorgestellt von Voltaire, in: „Lettres sur Rabelais“ (1767), Abschnitte III-X. Erstmals übersetzt und kommentiert von Rainer Neuhaus (2024).

Lettres à S. A. MGR Le Prince de ***** sur Rabelais et sur d’autres Auteurs accusés d’avoir mal parlé de la Religion chrétienne

Die Lettres sur Rabelais erschienen 1767. Der Prinz, an den sie gerichtet sind, war Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg (1735-1806).
Unsere Übersetzung ist eine vorläufige Arbeitsdatei, zunächst ohne die Briefe I., II., VIII., IX., X., für die bereits eine Übersetzung (Voltaire, Kritische und Satirische Schriften, München: Winkler 1970) vorliegt.
(Stand 23.3.2024)

III. Brief: Über Vanini

Mein Herr,
um Ihre Bitte zu erfüllen, Ihnen etwas über Vanini zu berichten, kann ich nichts Besseres tun, als Sie auf den dritten Abschnitt des Artikels Atheismus im Philosophischen Wörterbuch zu verweisen; ich will zu den angemessenen Gedanken, die Sie dort finden werden, hinzufügen, dass eine Biographie Vaninis im Jahre 1717 in London gedruckt wurde. Sie ist Milord North und Crey gewidmet1. Ein französischer Flüchtling, sein Kaplan, hat sie geschrieben2. Um den Charakter dieser Person zu verstehen, genügt es zu wissen, dass er sich in seiner Geschichte auf das Zeugnis des Jesuiten Garasse3 stützt, des absurdesten und unverschämtesten Verleumders und zugleich des lächerlichsten Schriftstellers, den es je unter den Jesuiten gegeben hat. Hier sind die Worte Garasses, wie sie der Kaplan zitiert hat und wie sie wirklich in der merkwürdigen Doctrine4 dieses Jesuiten (S. 144), zu finden sind:

„Was Lucile Vanini betrifft, so war er ein Neapolitaner, ein Mann aus dem Nichts, der ganz Italien und als Pedell auch einen guten Teil Frankreichs auf der Suche nach freigiebigen Ernährern durchstreift hatte. Dieser böse Schuft, der im Jahre 1617 in die Gascogne gekommen war, begann sein Unkraut dort auszusäen. In der Annahme, Köpfe gefunden zu haben, die für seine Vorschläge empfänglich waren, beabsichtigte er, eine reiche Ernte der Gottlosigkeit einzufahren. Er schlich sich unverschämt in die Adelshäuser ein, um es sich dort so bequem zu machen, als wäre er ein Hausangestellter und als wäre er seit langem mit den Eigenheiten des  Landes bekannt; aber er traf auf Gemüter, die stärker und entschlossener in der Verteidigung der Wahrheit waren, als er es sich vorgestellt hatte“.

Was kann man von einer Biographie halten, mein Herr, die auf solchen Erzählungen aufgebaut ist? Was Sie noch mehr überraschen wird, ist, dass man bei der Verurteilung dieses unglücklichen Vanini keines seiner Bücher vorlegte, in denen der angebliche Atheismus, aufgrund dessen er verurteilt wurde, enthalten gewesen wäre. Alle Bücher dieses armen Neapolitaners waren Bücher über Theologie und Philosophie, mit behördlicher Erlaubnis gedruckt und von Doktoren der Pariser Fakultät abgesegnet. Selbst seine Dialoge, die man ihm heute zum Vorwurf macht, denen man im Übrigen bloß vorhalten kann, langweilig zu sein, wurden in französischer, lateinischer und selbst griechischer Übersetzung mit dem höchsten Lob geehrt. Unter diesen Lobreden finden wir vor allem diese Verse eines berühmten Pariser Arztes:

Vaninus, vir mente potens, sophiaeque magister, Maximus, Italiae decuss, et nova gloria gentis.
(Vaninus, ein Mann mit starkem Geist und Meister der Philosophie, der Schmuck Italiens und der neue Ruhm der Nation)

Diese beiden Verse wurden auch auf Französisch wiedergegeben:
Ehre Italiens, Nachahmer Griechenlands, Vanini macht Weisheit bekannt und geschätzt.

Aber all dieses Lob ist vergessen, und man erinnert sich nur daran, dass er bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Man muss zugeben, dass man die Menschen manchmal ein wenig zu leicht verbrennt, wie Jean Hus, Hieronymus von Prag, die Ratsherrin Anne Dubourg, Servetus, Antoine, Urbain Grandier, der Maréchale d’Ancre, Morin und Jean Calas; Zeugen jener zahllosen Schar von Unglücklichen, die fast alle christlichen Sekten reihenweise in den Flammen umkommen ließen: ein Schrecken, den die Perser, die Türken, die Tataren, die Inder, die Chinesen, die römische Republik und alle Völker des Altertums nicht kannten; ein Schrecken, der unter uns noch kaum beseitigt ist und unsere Kinder erröten lassen wird, weil sie von solch abscheulichen Vorfahren abstammen.

IV. Brief: Über englische Autoren

Mein Herr,
Eure Hoheit fragt, wer diejenigen sind, die die Kühnheit besaßen, sich nicht nur gegen die römische Kirche, sondern auch gegen die christliche Kirchen überhaupt auszusprechen; die Zahl ist erstaunlich, besonders in England. Einer der ersten ist Lord Herbert von Cherbury, der 1648 starb und durch seine Abhandlungen über die Religion des Laizismus und die der Heiden bekannt wurde5.

Hobbes erkannte keine andere Religion an als diejenige, der die Regierung ihre Zustimmung gab. Er wollte keine zwei Herren: Der wahre Papst sind die Gerichtshöfe. Diese Lehre erregte den ganzen Klerus. Man verschrie sie als Skandal, nach etwas Nie-Dagewesenem. Für den Skandal, das heißt, für das, was zu Fall bringt, gab es Anhaltspunkte; aber nicht für etwas Nie-Dagewesenes, denn in England war der König lange Zeit das Haupt der Kirche gewesen. Die Kaiserin von Russland war ihr Oberhaupt in einem Land, das größer war als das Römische Reich. In der römischen Republik war der Senat das Oberhaupt der Religion, und jeder römische Kaiser ein souveräner Papst.

Lord Shaftesbury6 übertraf Herbert und Hobbes an Kühnheit und Stil bei weitem. Seine Verachtung für die christliche Religion sticht allzu offensichtlich hervor.

Wollastons Natural Religion ist mit größerer Sorgfalt geschrieben; da er aber nicht die Stellung eines Lord Shaftesbury hatte, so ist dieses Buch kaum gelesen worden, außer von Philosophen7.

Von Toland

Toland8 teilte heftigere Schläge aus. Er war eine stolze, unabhängige Seele; in Armut geboren, wäre er vielleicht zu Reichtum aufgestiegen, wenn er gemäßigter gewesen wäre. Die Verfolgung irritierte ihn; er schrieb gegen die christliche Religion aus Hass und Rache.

Sein erstes Buch das den Titel Christentum ohne Geheimnis trägt, hatte er selbst etwas geheimnisvoll geschrieben, seine Kühnheit war unter einem Schleier verborgen. Er wurde verurteilt; er wurde bis nach Irland verfolgt, und alsbald war der Schleier zerrissen. Seine Werke Origines Judaicae9, Nazarenus10, sein Pantheisticon11 waren Ausdruck der Kämpfe, die er offen gegen das Christentum führte. Das Merkwürdige ist, dass, nachdem er in Irland wegen des vorsichtigsten seiner Werke unterdrückt worden war, er in England nie, auch nicht wegen der kühnsten seiner Bücher belästigt wurde.

Man warf ihm vor, sein Pantheisticon mit einem gotteslästerlichen Gebet beendet zu haben, das in der Tat in einigen Ausgaben zu finden ist: „Omnipotens et sempiterne Bacche, qui hominum corda donis tuis recreas, concede propitius ut qui hesternis poculis aegroti facti sunt, hodiernis curentur, per pocula poculorum. Amen!“12

Da es sich bei dieser Profanation aber um eine Parodie auf ein Gebet der katholischen Kirche handelte, waren die Engländer davon nicht schockiert. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass dieses profane Gebet gar nicht von Toland stammt; es wurde zweihundert Jahre zuvor in Frankreich von einer Gesellschaft von Trinkern erstellt und findet sich in der 1563 gedruckten Carême allégorisé. Dieser Narr von einem Jesuiten Garasse spricht davon in seiner Doctrine curieuse, Buch II, Seite 201.

Toland starb 1721 mit großem Mut. Seine letzten Worte waren: „Ich gehe schlafen.“ Es gibt noch ein paar Verse zu Ehren seines Andenkens; sie wurden nicht von Priestern der anglikanischen Kirche verfassst.

Von Locke

Der große Philosoph Locke ist zu Unrecht zu den Feinden der christlichen Religion gezählt worden. Es ist wahr, dass sein Buch Die Vernünftigkeit des Christentums13 ziemlich weit vom gewöhnlichen Glauben abweicht; aber die Religion der Primitiven, die man Zitterer nennt, die in Pennsylvanien eine so große Figur macht, ist dem gewöhnlichen Christentum noch weiter entfernt; und doch stehen sie im Ruf, Christen zu sein.

Man hat ihn beschuldigt, nicht an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, weil er überzeugt war, dass Gott, der absolute Herr aller Dinge, der Materie Gefühle und Gedanken geben konnte (wenn gewollt hätte). Herr von Voltaire hat ihn gegen diesen Vorwurf verteidigt. Er (Locke) bewies, dass Gott das Atom, die Monade, die er mit der Gabe des Denkens zu begünstigen geruhte, ewig bewahren kann14. Das war die Auffassung des berühmten und heiligen Priesters Gassendi15 frommer Verteidiger des Guten, das in der Lehre des Epikur stecken mag. Lesen Sie seinen berühmten Brief an Descartes16:

„Von woher kommt dieser Begriff zu Ihnen? Kommt er vom Körper her, können sie selbst nicht ohne Ausdehnung sein. Lehren Sie uns, wie es möglich ist, dass das Wesen oder die Idee eines Körpers, der ausgedehnt ist, von Ihnen aufgenommen werden kann, d.h. von einer Substanz, die nicht ausgedehnt ist.  Es ist wahr, Sie sind sich dessen bewusst, dass Sie denken, aber Sie wissen nicht, was für eine Art Substanz Sie als denkendes Wesen sind, obwohl Ihnen die Funktionsweise des Denkens bekannt ist. Der Hauptteil Ihres Wesens ist vor Ihnen verborgen, und Sie wissen nicht, was die Natur dieser Substanz ist, zu deren Operationen das Denken gehört, usw..“

Locke starb in Frieden und sagte zu Mrs. Masham17 und ihren Freunden um ihn herum: „Das Leben ist reine Eitelkeit.“

Von Bischof Taylor und von Tindal

Taylor, Bischof von Connor, ist vielleicht wegen seines Buches The Guide of the Doubters zu Unrecht zu den Ungläubigen gezählt worden.18

Aber für Dr. Tindal, den Verfasser von Das Christentum, so alt wie die Welt19, war er immer der unerschrockenste Anhänger der Naturreligion sowie des Königshauses von Hannover. Er war einer der gelehrtesten Männer in der Geschichte Englands. Er wurde für den Rest seines Lebens mit einer Pension von zweihundert Pfund Sterling geehrt. Da er die Bücher von Pope nicht schätzte, die er absolut ohne Genie und Phantasie fand und er ihm nur das Talent zugestand, Verse zu schmieden und  Gedanken anderer ins Werk zu setzen, war Pope sein unerbittlicher Feind. Tindal war überdies ein glühender Whig und Pope ein Jakobit20. Es ist kein Wunder, dass ihn Pope in seiner Dunciade21 zerriss, einem Werk, das Dryden nachahmt und voller Niedertracht und ekelhafter Bilder ist.

Von Collins

Einer der furchtbarsten Feinde der christlichen Religion war Anthony Collins22, Großschatzmeister der Grafschaft Essex, ein guter Metaphysiker und von großer Gelehrsamkeit. Es ist traurig, dass er seine tiefgründige Dialektik nur gegen das Christentum einsetzte. Dr. Clarke, ein berühmter Socinianer, Autor eines sehr guten Buches23, in dem er die Existenz Gottes beweist, gelang es nie, auf Collins‘ Bücher zufriedenstellend zu antworten und verfing sich stattdessen in Beleidigungen.

Seine philosophischen Forschungen über die Freiheit des Menschen, über die Grundlagen der christlichen Religion, über die Prophezeiungen der Bibel, über die Freiheit des Denkens sind bedauerlicherweise siegreiche Werke geblieben.

Von Woolston

Der allzu berühmte Thomas Woolston24, Magister Artium in Cambridge, zeichnete sich um das Jahr 1726 durch seine Reden gegen die Wunder Jesu Christi25 aus und erhob sein Banner so hoch, dass er seine Werke in London in seinem eigenen Hause verkaufen ließ. Drei Auflagen wurden in rascher Folge von je zehntausend Exemplaren hergestellt.

Niemand hatte sich bisher in Sachen Kühnheit und Skandal so weit vorgewagt. Er behandelt die Wunder und die Auferstehung unseres Erlösers als kindische und extravagante Geschichten. Er sagt, dass Jesus Christus, als er für seine Jünger Wasser in Wein verwandelte, dies anscheinend geschah, um ihn; da sie bereits betrunken waren, zu Punsch zu verdünnen. Die Geschichte von Gott, den der Teufel auf die Zinne des Tempels und auf einen Berg entführt hatte von dem aus alle Reiche der Erde zu sehen waren, erschien ihm als eine ungeheuerliche Gotteslästerung. Der Teufel, der in eine Herde von zweitausend Schweinen geschickt wurde, vom Feigenbaum, der vertrocknete, weil er keine Feigen getragen hatte, obwohl es nicht Feigenzeit war, die Transfiguration Jesu, und seine Kleider, die ganz weiß wurden, sein Gespräch mit Moses und Elias, kurz, seine ganze heilige Geschichte wird in einen lächerlichen Roman verwandelt. Woolston sparte nicht mit beleidigendsten und verächtlichsten Ausdrücken. Unseren Herrn Jesus Christus nennt er oft:  ein Bursche, dieser Kerl; ein Wanderer, ein Vagabund, ein Bettelmönch, ein Quacksalber.

Er rettet sich jedoch mit dem Hinweis auf den mythischen Sinn, indem er sagt, dass diese Wunder fromme Allegorien sind. Alle guten Christen haben jedoch einen Schrecken vor seinem Buch gehabt.

Eines Tages ereignete es sich, dass ihn eine Betschwester, als sie ihn auf der Straße vorbeigehen sah, ins Gesicht spuckte. Er wischte sich in aller Ruhe ab und sprach zu ihr: „Genau so haben die Juden deinen Gott behandelt“. Er starb in Frieden und sprach: „This is a pass every man must come to“ [dt.: dies ist ein Endpunkt, der jeden Mensch erwartet].
Sie werden im Dictionaire portatif des Abbé Ladvocat26und in einem Nouveau Dictionnaire portatif, in dem man denselben Fehler kopiert hat, finden, dass Woolston im Jahre 1733 im Gefängnis gestorben sei. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein; mehrere meiner Freunde haben ihn in seinem Haus angetroffen: er starb in Freiheit und bei sich zuhause.

Von Warburton

Warburton, den Bischof von Glocester27, hat man als einen der kühnsten Ungläubigen, die je geschrieben haben angesehen, weil er Legation of Moses behauptete, nachdem er Shakespeare kommentiert hatte, dessen Komödien und manchmal sogar Tragödien von zügellosem Spott wimmeln, Gott habe sein geliebtes Volk nicht die Unsterblichkeit der Seele gelehrt. Es mag sein, dass dieser Bischof zu hart beurteilt wurde, und dass der Stolz und der satirische Geist, den man ihm vorwarf, die ganze Nation gegen ihn aufbrachte. Es ist viel gegen ihn geschrieben worden. Die ersten beiden Bände seines Werkes erscheinen nur als ein eitles Wirrwarr von falscher Gelehrsamkeit, in denen er sein Thema nicht einmal behandelt, und die überdies seinem Gegenstande widersprechen, da sie nur darauf abzielen, zu beweisen, dass alle Gesetzgeber die Unsterblichkeit der Seele zu einem Grundsatz ihrer Religionen gemacht haben, worin selbst Warburton irrt.  Denn weder Sanchoniathon der Phönizier, noch das chinesische Buch der Fünf Könige, noch Konfuzius nehmen diesen Grundsatz an.

Aber an keiner Stelle seiner vielen Ausflüchte antwortet Warburton auf die bedeutenden Beweisführungen, mit denen man ihn konfrontiert hatte. Er behauptete, alle Weisen hätten die Unsterblichkeit der Seele, die Strafen und Belohnungen nach dem Tode als Grundlage der Religion festgelegt; doch Moses spricht weder in seinem Dekalog noch in irgendeinem seiner Gesetze davon; daher war Moses nach ihrer Ansicht kein weiser Mann. Entweder wurde ihm dieses große Dogma erläutert, oder er kannte es nicht: wenn er darin unterwiesen wurde, so ist er schuldig, es nicht gelehrt zu haben; Wenn er es nicht kannte, war er unwürdig, Gesetzgeber zu sein.

Entweder Mose war von Gott inspiriert, oder er war nur ein Scharlatan: wenn Gott Mose inspirierte, konnte er ihm die Unsterblichkeit der Seele nicht verheimlichen, und wenn er ihn nicht lehrte, was alle Ägypter wussten, so hat Gott ihn und sein ganzes Volk getäuscht; wenn Sie, Herr Warburton, annehmen, dass Moses nur ein Scharlatan war, zerstören Sie das ganze mosaische Gesetz und untergraben damit die christliche Religion, die auf der mosaischen aufgebaut ist, von Grund auf. Und schließlich, wenn Sie annehmen, Gott habe Mose getäuscht, machen Sie das unendlich vollkommene Wesen zu einem Betrüger und Schurken. Wohin Sie sich auch drehen und wenden, Sie lästern.

Wenn Sie glauben, Sie könnten sich aus der Affäre ziehen, indem Sie sagen, Gott habe sein Volk direkt entgolten, indem er es sogleich für seine Abweichungen bestrafte und mit irdischen Gütern belohnte, wenn es treu war. Diese Ausflucht ist erbärmlich, denn wie viele Übertreter haben ihre Tage so  wie Salomon in Wonne verbracht! Muss man nicht den gesunden Menschenverstand oder die Scham verloren haben, um zu sagen, dass bei den Juden kein Schurke der irdischen Strafe entging? Ist nicht in der Heiligen Schrift hundertmal von der Glückseligkeit der Gottlosen die Rede?

Wir wussten schon vor Ihnen, Herr Warburton, dass weder der Dekalog noch der Levitikus die Unsterblichkeit der Seele oder ihre Spiritualität erwähnen; noch Strafen und Belohnungen in einem anderen Leben; aber von Ihnen hörte man das nicht. Was für einen Laien verzeihlich ist, ist für einen Priester nicht verzeihlich; und vor allem hätten Sie es nicht in vier langweiligen Bänden sagen sollen.

Das ist, was gegen Warburton vorgebracht wurde. Er antwortete mit abscheulichen Beleidigungen und endlich glaubte er, Recht zu haben, weil ihm sein Bistum zweitausendfünfhundert Guineen Rente einbrachte. Ganz England erklärte sich trotz seiner Guineen gegen ihn. Er hat sich durch die Bösartigkeit seines unverschämten Charakters viel mehr verhasst gemacht als durch die Absurdität seines Systems.

Von Bolingbroke

Mylord Bolingbroke28 war kühner als Warburton und von besserem Glauben. In seinen Philosophischen Werken sagt er stets, dass Atheisten viel weniger gefährlich sind als Theologen. Er argumentierte als Staatsminister, der wusste, wie viel Blut theologische Auseinandersetzungen England gekostet hatten; aber er sollte sich darauf beschränken, die Theologie zu verbieten, und nicht die christliche Religion, aus der jeder Staatsmann sehr große Vorteile für das Menschengeschlecht ziehen kann, indem er sie in ihren Schranken weist, wenn sie diese überschritten hat. Nach dem Tode des Lord Bolingbroke wurden einige seiner Werke veröffentlicht, die noch heftiger sind als seine Philosophische Sammlung; er entfaltet darin eine verhängnisvolle Beredsamkeit. Niemand hat je etwas Stärkeres geschrieben: wir sehen, dass er einen Abscheu vor der christlichen Religion hatte. Es ist traurig, dass ein so erhabenes Genie einen Baum an der Wurzel fällen wollte, den er durch Beschneiden der Zweige und Säubern seines Mooses sehr nützlich hätte machen können.

Man kann die Religion reinigen. Dieses große Werk wurde vor fast zweihundertfünfzig Jahren begonnen29; aber die Menschen werden nur nach und nach aufgeklärter. Wer hätte damals vorausgesehen, dass wir die Strahlen der Sonne analysieren, mit Donner elektrisieren und das Gesetz der universellen Gravitation entdecken würden, das dem Universum zugrunde liegt? Es ist an der Zeit, so Bolingbroke30, dass die Theologie verbannt wird, so wie die Astrologie bei Gericht, die Hexerei, die Besessenheit vom Teufel, die Wünschelrute, das universelle Allheilmittel und die Jesuiten verbannt werden. Die Theologie hat immer nur dazu gedient, Gesetze ins Gegenteil umzustoßen und die Herzen zu verderben: sie allein macht Atheisten, denn die große Zahl der Theologen, die Vernunft genug haben, um die Lächerlichkeit dieser Hirngespinste zu erkennen, wissen nicht genug, um sie durch eine gesunde Philosophie zu ersetzen. Die Theologie, sagen sie, ist nach der Bedeutung des Wortes die Wissenschaft von Gott. Nur haben die Schurken, die diese Wissenschaft entweiht haben, absurde Vorstellungen von Gott verbreitet, und daraus schließen sie, dass Gott selbt ein Hirngespinst ist, weil die Theologie eine Hirngespinst ist. Das ist genau das gleiche, wie wenn man sagt, dass man nicht Chinarinde gegen Fieber einnehmen sollte, bei Übergewicht keine Diät halten, noch bei Schlaganfall zu Ader lassen sollte, weil es schlechte Ärzte gegeben hat; es bedeutet, das man das Wissen über den Lauf der Sterne leugnen soll, weil es Astrologen gegeben hat; es sollen die offensichtlichen Wirkungen der Chemie geleugnet werden, weil Quacksalber vorgetäuscht haben, Gold herzustellen. Die Leute von Welt, die noch unwissender sind als diese kleinlichen Theologen, sagen: „Hier sind Bakkalaureaten und Lizentiaten, die nicht an Gott glauben; Warum sollten wir an ihn glauben? Das ist die verhängnisvolle Folge des theologischen Geistes. Falsche Wissenschaft macht Atheisten; wahre Wissenschaft wirft den Menschen vor Gott nieder und macht denjenigen gerecht und weise, der durch den Missbrauch der Theologie ungerecht und töricht geworden ist.

Von Thomas Chubb

Thomas Chubb31ist ein von der Natur geformter Philosoph. Die Feinheit seines Genies, die er missbrauchte, führte ihn dazu, nicht nur der Partei der Socinianer anzuhängen, die Jesus Christus nur als einen Menschen betrachten, sondern auch jener der starrsinnigen Deisten, die einen Gott anerkennen und kein Mysterium zulassen. Seine Fehler sind methodischer Natur: Er möchte alle Menschen in einer Religion vereinen, von der er glaubt, dass sie geläutert sei, weil sie einfach ist. Das Wort Christentum steht in seinen verschiedenen Werken auf jeder Seite, aber es selbst ist nicht darin enthalten. Er wagt zu glauben, dass Jesus Christus der Religion von Thomas Chubb angehöre, aber er selbst gehört nicht der Religion von Jesus Christus an. Ein fortwährender Missbrauch der Worte ist die Grundlage seiner Überzeugungskraft. Jesus Christus sagte: „Liebe Gott und deinen Nächsten“, das ist das ganze Gesetz, das ist der ganze Mensch. Chubb hält sich an diese Worte und lässt alles andere beiseite. Er hält unseren Erlöser für einen Philosophen wie Sokrates, der wie dieser getötet wurde, weil er den Aberglauben und die Priester seines Landes bekämpfte. Im Übrigen schrieb er zurückhaltend und verhüllte sich stets mit einem Schleier. Die Undeutlichkeiten, in die er sich hüllte, brachten ihm mehr Ansehen als Leser ein.

V. Brief: Über Swift

Es ist wahr, Monsieur, dass ich nicht von Swift gesprochen habe32; er verdient einen eigenen Artikel. Er ist der einzige englische Schriftsteller dieser Kategorie, der humorvoll war. Es ist eine sehr merkwürdige Sache, dass die beiden Männer, denen man am meisten vorwerfen kann, dass sie es gewagt haben, die christliche Religion lächerlich zu machen, zwei für die Seelen zuständige Priester gewesen sind. Rabelais war Pfarrer von Meudon, und Swift Dekan der Kathedrale von Dublin: beide schleuderten mehr Sarkasmen gegen das Christentum als Molière sie der Medizin verpasste, und beide lebten und starben friedlich, während andere Männer wegen einiger zweideutiger Worte verfolgt, vor Gericht gestellt und umgebracht wurden.

Manchmal zerbricht einer, wo der andere sich rettet,
Und woran der eine zugrunde geht, schützt den andren.

(Cinna, Akt II, Szene I.)33

Die Erzählung vom Fass des Dekan Swift34ist eine Imitation der Drei Ringe35 Die Fabel von diesen drei Ringen ist sehr alt: Sie stammt aus der Zeit der Kreuzzüge. Es war ein alter Mann, der, als er starb, jedem seiner drei Kinder einen Ring hinterließ; sie stritten sich, wer den Schönsten hätte; schließlich, nach langer Debatte, einigte man sich darauf, dass die drei Ringe genau gleich seien. Der gute alte Mann ist der Deismus, die drei Kinder sind die jüdische, die christliche und die muslimische Religion.

Der Autor vergaß die Religionen der Magier, der Brahmanen und viele andere; da er ein Araber war, kannte er nur diese drei Sekten. Diese Fabel führt zu jener Indifferenz, die man dem Kaiser Friedrich II. sehr vorwarf und auch seinem Kanzler de Vineis36, den man beschuldige, das Buch De Tribus Impostoribus verfasst zu haben, das, wie Sie wissen, nie existiert hat.37

Die Geschichte von den drei Ringen findet sich in einigen alten Sammlungen, der Doktor Swift hat sie durch drei Gewänder ersetzt. Die Einleitung zu diesem gottlosen Spott ist des ganzen Werkes würdig; sie zeigt einen Holzschnitt, der drei Varianten öffentlichen Sprechens darstellt: erstens das Theater von Harlekin und Gilles, dem Narren; zweitens einen Prediger, dem eine halbes Fass als Kanzel dient; drittens eine Leiter, von deren Ende aus ein Mann, der gehängt werden soll, zum Volk spricht. Ein Prediger zwischen Gilles, dem Narren, und einem Gehenkten macht keine gute Figur.

Der Hauptteil des Buches ist eine allegorische Geschichte der drei Hauptsekten, die Südeuropa trennen, die römische, die lutherische und die calvinistische; denn er spricht nicht von der griechischen Kirche, die sechsmal so viel Boden besitzt wie jede der drei anderen, und er übergeht den Mohammedanismus, der viel verbreiteter ist, als die griechische Kirche.

Die drei Brüder, denen der alte Vater drei gleichfarbige Gewänder vermachte, sind Peter, Martin und Johannes, das heißt der Papst, Luther und Calvin. Der Autor lässt seine drei Helden mehr extravagante Streiche vollbringen, als Cervantes seinen Don Quijote und Ariost seinen Roland; Dabei ist Peter der von den drei Brüdern am meisten misshandelte38. Das Buch ist sehr schlecht ins Französische übersetzt; es gelang nicht, seinen Witz, mit dem es gewürzt ist,  wiederzugeben. Dieser Witz bezieht sich oft auf Zwistigkeiten zwischen der anglikanischen Kirche und den Presbyterianern, auf Bräuche, auf Vorfälle, die in Frankreich unbekannt sind, und auf Wortspiele, die der englischen Sprache eigen sind. Zum Beispiel bedeutet das Wort, das auf Französisch eine päpstliche Bulle bedeutet, auf Englisch auch einen Bullen. Es ist eine Quelle der Zweideutigkeit und der Witze, die einem französischen Leser zwangsläufig entgehen.

Swift war weit weniger gelehrt als Rabelais; aber sein Geist ist feiner und geschmeidiger, er ist der Rabelais der guten Gesellschaft. Die Lords Oxford und Bolingbroke gaben demjenigen, der die christliche Religion verspottet hatte, die nach dem Erzbistum Dublin beste Pfründe von Irland, während Abbadie, der ein Buch zu Gunsten dieser Religion geschrieben hatte und sie mit Lob überhäufte, nur eine unglückliche kleine Dorfpfründe bekam; aber es ist zu beachten, dass beide geisteskrank gestorben sind39.

VI. Brief: Über die Deutschen

Mein Herr,
Auch in Ihrem Deutschland sind viele große Herren und Philosophen der Irreligiosität bezichtigt worden. Euer berühmter Cornelius Agrippa wurde im sechzehnten Jahrhundert nicht nur als Hexenmeister, sondern auch als Ungläubiger angesehen40. Das ist widersprüchlich: denn ein Hexenmeister glaubt an Gott, weil er es wagt, den Namen Gottes in alle seine Beschwörungen einzubauen; ein Hexenmeister glaubt an den Teufel, da er sich dem Teufel hingibt. Mit diesen beiden Verleumdungen belastet wie Apuleius41, hatte Agrippa das große Glück, nur ins Gefängnis zu kommen und an keinem anderen Ort als im Krankenhaus zu sterben. Er war es, der als erster sagte, dass die verbotene Frucht, von der Adam und Eva gegessen hatten, der Genuss der Liebe war, der sie sich, noch bevor sie den Hochzeitssegen von Gott empfangen hatten, hingegeben hatten42. Er war es auch, der, nachdem er die Wissenschaften gepflegt hatte, der erste war, der gegen sie schrieb. Er schimpfte über die Milch, die ihn ernährt hatte, weil er sie sehr schlecht verdaut hatte. Er starb 1535 im Krankenhaus von Grenoble.

Euren berühmten Doktor Faustus43kenne ich nur als Held in der Komödie, die man in allen Provinzen bei euch im Reich aufführt. Euer Dr. Faustus ist darin laufend in Kontakt mit dem Teufel. Er schreibt ihm Briefe, die er mittels eines Fadens durch die Luft versendet: er erhält von ihm Antworten. In jedem Akt sind Wunder zu sehen, und am Ende des Stücks wird Faustus vom Teufel geholt. Man sagt, er sei in Schwaben geboren und habe unter Maximilian I.44 gelebt. Ich glaube nicht, dass er mit Maximilian mehr Glück gehabt hat als mit seinem anderen Herrn, dem Teufel.

Auch der berühmte Erasmus wurde von den Katholiken und von den Protestanten der Irreligiosität verdächtigt, weil er sich angesichts der Übertreibungen, in die alle beide verfielen, über sie lustig machte. Wenn zwei Parteien unrecht haben, wird, wer neutral bleibt und daher Recht hat, von beiden beleidigt. Die Statue, die ihm auf dem Platz seiner Heimatstadt Rotterdam errichtet wurde, hat ihn an Luther und an der Inquisition gerächt.45

Melanchthon, Schwarze Erde46, war ungefähr wie Erasmus. Es heißt, er habe seine Ansichten über die Erbsünde und die Prädestination vierzehnmal geändert. Wie man sagt, wurde er der Proteus Deutschlands genannt. Er wäre gerne Neptun gewesen, der die verheerenden Stürme zurückhält47.

Jam coelum terramque meo sine numine, venti,
Miscere, et tantas audetis tollere moles!
(Virg., Aeneis., I, 137.48

Er war gemäßigt und tolerant. Er galt als gleichgültig. Obwohl er Protestant geworden war, riet er seiner Mutter, katholisch zu bleiben. Daher urteilte man, dass er weder das eine noch das andere gewesen sei.

Ich lasse, wenn Sie mir erlauben, die Menge der Sektierer aus, denen man vorwirft, sie schlössen sich Gruppierungen nicht deshalb an, weil sie Meinungen anhängen, sondern weil sie an Ehrgeiz oder Habgier statt an Luther und den Papst glauben. Ich will nicht von den Philosophen sprechen, denen man vorwirft, als einziges Evangelium die Natur gehabt zu haben49.

Ich komme zu Ihrem berühmten Leibniz. Fontenelle, der ihn in Paris vor der versammelten Akademie lobte50, äußert sich über seine Religion folgendermaßen: „Man wirft ihm vor, nur ein großer und starrer Anhänger des Naturrechts gewesen zu sein: seine Pastoren haben ihm dafür öffentliche und überflüssige Verweise erteilt.“

Sie werden bald sehen, Monsieur, dass Fontenelle, der so sprach, nicht minder schweren Anschuldigungen ausgesetzt war.51

Wolff, Schüler von Leibniz, war einer größeren Gefahr ausgesetzt52: Er lehrte Mathematik an der Universität Halle mit erstaunlichem Erfolg. Der Theologieprofessor Lange, der in der Einsamkeit seines Hörsaals vor  Kälte erstarrte, während Wolff fünfhundert Hörer hatte, rächte sich, indem er Wolff als Atheisten denunzierte. Der verstorbene König von Preußen, Friedrich Wilhelm, der seine Truppen besser verstand als die Streitigkeiten der Gelehrten, glaubte Lange zu leicht: er stellte Wolff vor die Wahl, entweder sein Herrschaftsgebiet in vierundzwanzig Stunden zu verlassen oder gehängt zu werden. Der Philosoph löste das Problem auf der Stelle, indem er sich nach Marburg zurückzog, wohin ihm seine Schüler folgten und wo sein Ruhm und sein Vermögen wuchsen. Die Stadt Halle verlor damals jährlich mehr als vierhunderttausend Goldtaler, die Wolff durch den Zustrom seiner Schüler eingebracht hatte. Die Einkünfte des Königs litten, und das Unrecht, das dem Philosophen angetan wurde, fiel so auf den Monarchen selbst zurück. Ihr wisst, Monsieur, mit welcher Billigkeit und Großmut der Nachfolger dieses Fürsten den Irrtum wieder gutmachte, in den man seinen Vater hineingezogen hatte53.

In dem Artikel Wolff heißt es in einem Wörterbuch, dass Karl Friedrich, der gekrönte Philosoph und Freund Wolffs, ihn zum Vizekanzler der Universität des Kurfürsten von Bayern und zum Reichsfreiherrn erhoben habe. Der König, von dem der Artikel spricht, ist in der Tat ein Philosoph, ein Gelehrter, ein sehr großes Genie und ein sehr großer Heerführer auf dem Thron; aber er heißt weder Karl, noch gibt es in seinem Herrschaftsgebiet eine Universität, die dem Kurfürsten von Bayern gehört und die Reichsfreiherrn ernennt nur der Kaiser allein. Diese kleinen Fehler, die in allen Wörterbüchern allzu häufig vorkommen, lassen sich leicht korrigieren54.

Seit dieser Zeit hat die Gedankenfreiheit in ganz Norddeutschland erstaunliche Fortschritte gemacht. Diese Freiheit ist so weit vorangetrieben worden, dass im Jahre 1766 ein Abriss der Kirchengeschichte von Fleury mit einem beredten Vorwort gedruckt werden konnte, das mit folgenden Worten beginnt:

„Die Errichtung der christlichen Religion hatte, wie alle Reiche, schwache Anfänge. Ein Jude aus der Hefe des Volkes von zweifelhafter Geburt, der die Absurditäten alter Prophezeiungen mit moralischen Anweisungen vermischt, dem Wunder zugeschrieben werden, ist der Held dieser Sekte. Zwölf Fanatiker verbreiten sie vom Osten bis nach Italien“ usw.55

Es ist betrüblich, dass der Verfasser dieses übrigens tiefgründigen und erhabenen Stückes sich von einer Kühnheit hat mitreißen lassen, die für unsere heilige Religion so verhängnisvoll ist. Nichts könnte verderblicher sein. Diese erstaunliche Druckerlaubnis hat jedoch kaum Lärm verursacht. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch keine große Verbreitung findet. Man hat davon, nehme ich an, nur eine kleine Anzahl von Exemplaren gedruckt.

Die Rede des Kaisers Julian gegen das Christentum, die der Marquis d’Argens, Kammerherr des Königs von Preußen, in Berlin übersetzt und dem Prinzen Ferdinand von Braunschweig gewidmet hat56, wäre ein nicht minder verhängnisvoller Schlag für unsere Religion gewesen, wenn der Verfasser sich nicht bemüht hätte, die aufgestörten Geister durch gelehrte Anmerkungen zu beschwichtigen. Dem Werke ist eine weise und lehrreiche Vorrede vorangestellt, in der er (das muss man zugestehen) den großen Eigenschaften und Tugenden Julians ebenso Gerechtigkeit widerfahren lässt, wie er die verhängnisvollen Irrtümer jenes Kaisers benennt. Ich glaube, Monsieur, dass Ihnen dieses Buch nicht unbekannt ist, und dass Ihr Christentum dadurch nicht erschüttert worden ist.

VII. Brief: Über die Franzosen

Sie haben, glaube ich, sehr wohl erraten, Mylord, dass es in Frankreich mehr Menschen gibt, die der Gottlosigkeit beschuldigt werden, als wahrhaft Gottlose; so wie es viel mehr Verdachtsfälle von Vergiftungen als Giftmischer gegeben hat. Die Unruhe, die Lebhaftigkeit, die Schwatzlust, das Ungestüm der Franzosen ließen sie immer mehr Verbrechen vermuten, als begangen wurden. Das ist der Grund, warum bei Mézerai selten ein Adliger stirbt, ohne vergiftet worden zu sein57.

Der Jesuit Garasse und der Jesuit Hardouin58 vermuten überall Atheisten. Viele Mönche oder Menschen, die schlimmer als Mönche sind, sind aus Furcht vor der  Schmälerung ihrer Glaubwürdigkeit Wächter gewesen, die immerzu riefen: „Wer da? Der Feind steht vor den Toren“. Dank sei Gott, dass wir viel weniger Menschen haben, die Gott leugnen, als gesagt wird.

Von Bonaventure Des-Periers

Eines der frühesten Beispiele für eine Verfolgung durch Verbreitung von Angst und Schrecken in Frankreich war der merkwürdige Aufruhr, der fortwährend um das Cymbalum mundi gemacht wurde, ein kleines Büchlein von höchstens fünfzig Seiten59. Der Verfasser, Bonaventure Des-Periers60, lebte zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Dieser Des-Periers war Diener von Marguerite de Valois, der Schwester von Franz I. Damals erlebte die Literatur eine Renaissance. Des-Periers wollte einige lateinische Dialoge im Stil Lukians schreiben: er verfasste vier sehr fade Dialoge61 über Prophezeiungen, über den Stein der Weisen, über ein sprechendes Pferd und über die Hunde des Aktäon. Gewiss kommt in diesem ganzen Durcheinander eines Schuljungen nicht ein einziges Wort vor, das zu den Dingen, die wir verehren sollten, auch nur die geringste oder entfernteste Beziehung hat.

Einige Ärzte ließen sich davon überzeugen, dass mit den Hunden und Pferden sie gemeint seien. Was die Pferde anbelangt, so waren sie an diese Ehre nicht gewöhnt. Die Ärzte bellten; das Werk wurde sofort nachgefragt, in die Vulgärsprache übersetzt und gedruckt; und jeder Müßiggänger fand Anspielungen darin; und die Ärzte schrien „Ketzer, Gottloser, Atheist“. Das Büchlein wurde dem Richter vorgelegt, der Buchhändler Morin ins Gefängnis geworfen, und den Verfasser versetzte man in große Angst.

Die ungerechtfertigte Verfolgung erschütterte Bonaventuras geistige Verfassung so stark, dass er sich in Margaretes Palast mit dem Schwert tötete. Alle Zungen der Prediger, alle Federn der Theologen haben sich an diesem verhängnisvollen Tod abgearbeitet. Er hat sich selbst umgebracht: darum war er schuldig; darum glaubte er nicht an Gott; folglich war sein kleines Buch, das zu lesen niemand die Geduld hatte, der Katechismus der Atheisten. Jedermann hat es gesagt, jeder hat es geglaubt: Credidi propter quod locutus sum, „Ich glaubte, weil ich sprach“62, ist das Motto der Menschen. Man wiederholt etwas Törichtes, und kraft der Wiederholung ist man davon überzeugt.

Das Buch wurde zu einer extremen Seltenheit: ein neuer Grund, es für infernalisch zu halten. Alle Verfasser literarischer Anekdoten und Wörterbücher haben es nicht versäumt, zu behaupten, dass das Cymbalum mundi ein Vorläufer Spinozas sei.

Wir haben auch ein Werk eines Ratsherrn von Bourges, namens Catherinot, das des Wappens von Bourges sehr würdig ist63. Dieser große Richter sagte: „Wir haben zwei gottlose Bücher, die ich noch nie gesehen habe: das eine, De tribus Impostoribus; das andere ist das Cymbalum mundi. Aha! Mein Freund, wenn du sie nicht gesehen hast, warum sprichst du dann über sie?

Der Minime Mersenne, jener Briefträger von Descartes, derselbe, der Vanini zwölf Apostel andichtet, sagt über Bonaventura Des-Periers: „Er ist ein Ungeheuer und ein Schuft von vollendeter Gottlosigkeit.64“ Sie werden feststellen, dass auch er das Buch nicht gelesen hat. Nur zwei Exemplare waren in Europa vorhanden, als Prosper Marchand es 1711 in Amsterdam nachdruckte. Da wurde der Schleier gelüftet: Man verschrie es nicht mehr der Gotteslästerung, des Atheismus; man verschrie es als langweilig und sprach nicht mehr darüber.

Von Theophile

So war es auch mit Theophile, der zu seiner Zeit sehr berühmt war65: er war ein junger Mann aus  guter Gesellschaft, dem es leicht fiel, mittelmäßige Verse zu schreiben, die aber einen guten Ruf hatten; sehr gebildet in Belletristik, rein lateinisch schreibend; ein Mann der Tafel wie des Kabinetts, willkommen bei den jungen Herren, die sich mit Geist schmückten, und vor allem bei dem berühmten und unglücklichen Herzog von Montmorency, der, nachdem er Schlachten gewonnen hatte, auf dem Schafott starb66.

Als er sich eines Tages mit zwei Jesuiten traf und das Gespräch auf einige Punkte der unglücklichen Philosophie seiner Zeit kam, wurde der Streit erbittert. An die Stelle von Begründungen setzten die Jesuiten Beleidigungen. Theophile war ein Dichter und ein Gascogner, genus irritabile vatum et Vasconum67.  Er verfasste ein kleines Gedicht, in dem er die Jesuiten nicht allzu gut behandelt. Hier sind drei Verse, die in ganz Frankreich umliefen:

Diese Maschine, groß und schwarz,
Mit ihrem geschmeidigen, riesigen Körper
Streckt ihre Tentakeln aus bis nach China.

Theophile selbst erinnert an sie in einem Brief in Versen, den er aus seinem Gefängnis an König Ludwig XIII. richtete. Alle Jesuiten wüteten gegen ihn. Die beiden wütendsten, Garasse und Guérin68, entehrten die Kanzel und verstießen gegen das Gesetz, indem sie ihn in ihren Predigten namentlich nannten, ihn als Atheisten und abscheulichen Menschen bezeichneten und alle ihre Frömmler gegen ihn aufhetzten.

Ein gefährlicherer Jesuit, namens Voisin, der weder schrieb noch predigte, aber bei dem Kardinal de la Rochefoucauld großes Ansehen genoss, erhob eine Strafanklage gegen Théophile und hetzte einen jungen, ausschweifenden Mann namens Sajeot gegen ihn auf, der sein Schüler gewesen war und angeblich seinen schändlichen Vergnügungen gedient hatte, was er dem Angeklagten bei der Gegenüberstellung vorwarf. Endlich erwirkte der Jesuit Voisin durch die Gunst des Jesuiten Caussin, des Beichtvaters des Königs, einen Verhaftungsbefehl gegen Theophile wegen Gottlosigkeit und Atheismus. Der Unglückliche floh, man machte ihm in Abwesenheit den Prozess und verbrannte ihn 1621 in effigie. Weit gefehlt zu  glauben, der Zorn der Jesuiten wäre damit erloschen gewesen. Voisin bezahlte einen Konnetablen-Leutnant namens Le Blanc, um ihn an seinem Rückzugsort in der Picardie zu verhaften. Unter dem Jubel des Pöbels, dem Le Blanc zurief: „Das ist ein Atheist, den wir verbrennen werden“, wurde er in Eisen gelegt und in einen Käfig gesperrt. Von dort wurde er nach Paris in die Conciergerie gebracht, wo er in den gleichen Kerker wie Ravaillac69 gesteckt wurde. Er blieb dort ein ganzes Jahr, während die Jesuiten seinen Prozess verzögerten, um Beweise gegen ihn zusammenzutragen.

Während er in Eisen lag, veröffentlichte Garasse seine Doctrine curieuse70, in der er sagt, dass Pasquier, Kardinal Wolsey, Scaliger, Luther, Calvin, Beza, der König von England, der Landgraf von Hessen und Theophile gotteslästerliche Atheisten und Karpokratiker sind71. Garasse schrieb das zu seiner Zeit, wie es der elende Ex-Jesuit Nonotte zu seiner Zeit geschrieben hat: Der Unterschied besteht darin, dass die Unverschämtheit von Garasse auf dem Ansehen beruhte, das die Jesuiten damals hatten, wohingegen die Wut des lächerlichen Nonotte die Frucht des Entsetzens und der Verachtung ist, in welche die Jesuiten in Europa verfallen sind; es ist die Schlange, die noch immer beißen will, auch wenn man sie in Stücke geschnitten hat72. Theophile wurde besonders über den Parnass satyrique befragt, eine Sammlung von Unsittlichkeiten im Stile von Petronius, Martial, Catull, Ausonius, dem Erzbischof von Benevent, La Casa, dem Bischof von Angoulême, Octavian de Saint-Gelais und Melin de Saint-Gelais, seinem Sohn, dem Aretin, Chorier, Marot, Verville, den Epigrammen Rousseaus und hundert anderen zügellosen Torheiten73. Dieses Werk stammt nicht von Theophile. Der Buchhändler hatte alles, was er konnte, von Maynard, Colletet, Frénicle, einem Magistrat, später von der Akademie der Wissenschaften und von einigen Herren des Hofes gesammelt. Es wurde nachgewiesen, dass Theophile an dieser Ausgabe, gegen die er selbst eine Beschwerde eingereicht hatte, keinen Anteil hatte. Kurz, die Jesuiten, so mächtig sie damals auch waren, konnten sich nicht damit trösten, ihn verbrennen zu lassen, und sie hatten sogar große Mühe, seine Verbannung aus Paris zu erreichen. Trotz ihrer Gegnerschaft kehrte er unter dem Schutz des Herzogs von Montmorency zurück, der ihn in seinem Palast unterbrachte. Dort starb er 1626 an dem Kummer, dem er schließlich durch eine so grausame Verfolgung erlag.

Von Des Barreaux

Der Parlamentsrat Des Barreaux74, der in seiner Jugend mit Theophile befreundet war und ihn nicht im Stich ließ, als er in Ungnade fiel, galt beständig als Atheist. Und zwar aus welchem Grund? Wegen einer Geschichte, das Abenteuer mit dem Speck-Omelett, die man über ihn erzählt. Ein junger Mann mit freizügigen Neigungen kann sehr wohl an einem Samstag in einer Kneipe etwas Fettiges essen und während es gewittert und donnert, eine Schüssel aus dem Fenster werfen und sagen: „Oha, so ein Getöse – und alles nur wegen einem Speck-Omelett!“, ohne deswegen den abscheulichen Vorwurf des Atheismus zu verdienen. Es handelt sich zweifellos um eine sehr große Respektlosigkeit, um eine Beleidigung der Kirche, in die er hineingeboren wurde; es ist ein Spott über die Institution der mageren Tage; aber es bedeutet nicht, die Existenz Gottes zu leugnen.

Was ihm diesen Ruf eintrug, war hauptsächlich die indiskrete Kühnheit Boileaus75, der in seiner Satire des femmes, die nicht seine beste ist, sagt, er habe mehr als einen Capaneus76 gesehen:

Du tonnerre dans l’air bravant les vains carreaux,
Et nous parlant de Dieu du ton de Des Barreaux.
[etwa: Vom Donner in der Luft, dem eitle Fensterscheiben trotzen,
Und spricht zu uns von Gott im Ton Des Barreaux].

Dieser Richter77 schrieb nie etwas gegen Gott. Es ist nicht statthaft, einen verdienstvollen Mann, gegen den es keine Beweise gibt, mit dem Namen eines Atheisten zu belegen: das ist unwürdig. Man hat Des Barreaux jenes berühmte Sonett untergeschoben, das wie folgt endet:


Tonne, frappe, il est temps; rends-moi guerre pour guerre.
J’adore en périssant la raison qui t’aigrit;
Mais dessus quel endroit tombera ton tonnerre,
Qui ne soit tout couvert du sang de Jésus-Christ?
[etwa : Donner, schlag, es ist Zeit; gib mir Krieg für Krieg.
Ich bete die Vernunft an, während ich zugrunde gehe, sie, die dich verbittert,
Aber auf welche Stelle wird dein Donner fallen,
Die nicht ganz von Jesu Christi Blut bedeckt wäre?]78

Es war derselbe Abt von Lavau, der dieses abscheuliche Epigramm auf das Mausoleum schrieb, das in Saint-Eustache zu Ehren Lullis errichtet worden war: Das Sonett ist nichts wert. Jesus Christus in Versen ist nicht tolerierbar; „rends-moi guerre“ ist nicht französisch; „guerre pour guerre“ ist sehr flach, und „dessus quel endroit“ ist verabscheuungswürdig. Diese Verse stammen von Abbé de Lavau79, und Des Barreaux war immer sehr ärgerlich, dass sie ihm zugeschrieben wurden.

Von La Mothe Le Vayer

Der weise La Mothe Le Vayer80, Staatsrat, Erzieher von Monsieur, des Bruders von Ludwigs XIV., und fast ein Jahr lang Hauslehrer von Ludwigs XIV. selbst, hat nicht weniger Verdächtigungen auf sich gezogen, als der wollüstige Des Barreaux. In Frankreich gab es noch wenig Philosophie. Die Abhandlung Über die Tugend der Heiden (De la vertu des païens81) und die Dialogues d’Oracius Tubero82 machten ihm Feinde. Besonders die Jansenisten, die wie der heilige Augustinus die Tugenden der großen Männer des Altertums nur für grandiose Sünden hielten, wüteten gegen ihn.
Der Gipfel der fanatischen Unverschämtheit besteht darin, zu sagen: „Niemand ist tugenhaft außer uns und unseren Freunden; Sokrates, Konfuzius, Marc Aurel, Epiktet waren Schurken, weil sie nicht unserer Religion angehörten“.
Von dieser Extravaganz sind wir heute abgekommen, aber damals war sie noch vorherrschend. In einem kuriosen Buch wird erzählt, dass eines Tages einer dieser Verrückten, als er La Mothe Le Vayer durch die Galerie des Louvre gehen sah, laut sagte: „Das dort ist ein Mann ohne Religion.“ Anstatt ihn bestrafen zu lassen, drehte sich Le Vayer zu dem Mann um und sagte: „Mein Freund, ich habe so viel Religion, dass ich nicht der deinen angehöre“.

Von Saint-Évremond

Einige Werke gegen das Christentum sind unter dem Namen Saint-Évremond83 erschienen, aber keines stammt von ihm. Nach seinem Tode glaubte man, diese gefährlichen Bücher schützen zu können, indem man sie mit seinem guten Namen verband, auch weil sich in der Tat in seinen wirklichen Werken mehrere Züge finden, die von einem von den Vorurteilen der Kindheit befreiten Geist zeugen. Andererseits dienen sein epikureisches Leben und sein philosophischer Tod all jenen als Vorwand, die seinen Namen gebrauchen, um ihren eigenen Ansichten Gewicht zu verleihen.

Wir besitzen vor allem eine Analyse der christlichen Religion84, die ihm zugeschrieben wird. Es ist ein Werk, das es darauf anlegt, die gesamte Chronologie und fast alle Fakten der Heiligen Schrift umzuwerfen. Niemand ist tiefer als der Autor der Ansicht mancher Theologen auf den Grund gegangen, dass der Astronom Phlegon von einer Finsternis gesprochen habe85, die beim Tode unseres Herrn Jesus Christus die ganze Erde bedeckt habe. Ich gebe zu, der Verfasser ist völlig im Recht gegen diejenigen, die sich auf das Zeugnis dieses Astronomen stützen wollen; aber er hat großes Unrecht, wenn er das ganze christliche System bekämpfen will, nur weil man es schlecht vertreten hat.

Im Übrigen war Saint-Évremond zu derart gelehrten Untersuchungen gar nicht in der Lage. Er war ein angenehmer und rechtschaffener Geist; aber er besaß wenig Wissen, kein Genie, und keinen sicheren Geschmack: seine Abhandlungen über die Römer86 verschafften ihm einen Ruf, den er missbrauchte, um die flachsten Komödien und die schlechtesten Verse zu schreiben, mit denen man jemals Leser ermüdet hat; heute ermüden sie nicht mehr, weil sie sie nicht mehr gelesen werden. Man kann ihn in die Reihe der liebenswürdigen und geistreichen Menschen stellen, die in der glänzenden Zeit Ludwigs XIV. erblüht sind, aber nicht in die Reihe der herausragenden. Im Übrigen sind diejenigen, die ihn als Atheisten bezeichneten, schändliche Verleumder.

Von Fontenelle

Bernard de Fontenelle87, der spätere Sekretär der Akademie der Wissenschaften, hatte eine kräftigere Erschütterung auszuhalten. Im Jahre 1686 ließ er in Bayles République des lettres einen sehr einfallsreichen Reisebericht von der Insel Borneo erscheinen: Es war eine Allegorie auf Rom und Genf mit zwei Schwestern, die Mero und Enègue hießen. Mero war eine tyrannische Zauberin; die verlangte, dass ihre Untertanen zu ihr kommen, ihre geheimsten Gedanken mitteilen und anschließend ihr ganzes Geld bei ihr abliefern sollten. Man musste Totengebeine anbeten, bevor man ihre Füße küssen durfte, und oft, wenn man zu Mittag essen wollte, ließ sie das Brot verschwinden. Endlich brachten ihre Zauberkünste und Wutausbrüche eine Menge Leute gegen sie auf, und ihre Schwester Enègue entriss ihr die Hälfte des Reiches.

Bayle hörte zunächst nichts von dem Streich, aber als der Abbé Terrasson ihn kommentierte, erregte das viel Aufsehen. Es war die Zeit, in der das Edikts von Nantes widerrufen wurde. Fontenelle lief Gefahr, in die Bastille geworfen zu werden. Er hatte die Schwäche, zu Gunsten dieses Widerrufs und für die Jesuiten eine Reihe ziemlich schlechter Verse zu schreiben. Sie wurden in eine üble Sammlung mit dem Titel Le Triomphe de la religion sous Louis le Grand aufgenommen, die 1687 bei Langlois in Paris gedruckt wurde.

Seitdem er aber mit großem Erfolg Van Dales Gelehrte Geschichte der Orakel88 auf Französisch herausgegeben hatte, verfolgten ihn die Jesuiten. Le Tellier, der Beichtvater Ludwigs XIV., brachte die Allegorie Mero und Enègue in Erinnerung und hätte ihn gern so behandelt, wie der Jesuit Voisin es mit Théophile gemacht hatte. Er verlangte einen Haftbefehl gegen ihn. Der berühmte garde des sceaux d’Argenson89, damals Polizeileutnant, rettete Fontenelle vor dem Zorn Le Telliers. Hätte man zu wählen gehabt, ob Fontenelle oder Le Tellier ein Atheist sei, so hätte der Verdacht auf den Verleumder Le Tellier fallen müssen.

Diese Anekdote wiegt schwerer als all die literarischen Bagatellen, die Abbé Trublet in einem dicken Band über Fontenelle zusammengestellt hat 90. Sie verdeutlicht, wie gefährlich die Philosophie ist, wenn ein Fanatiker oder ein Schurke oder ein Mönch, der beides zugleich ist, unglücklicherweise das Ohr eines Prinzen hat. Das ist eine Gefahr, mein Herr, der man bei Ihnen nie ausgesetzt sein wird.

Über den Abbé De Saint-Pierre

Die Mohammed-Allegorie des Abbé de Saint-Pierre91 war viel spektakulärer als die von Mero. Alle Werke dieses Abbés, von denen viele als Träumereien gelten, sind das Werk eines ehrbaren Mannes und eines engagierten Bürgers; aber alles darin ist reinster Deismus. Er wurde jedoch nicht verfolgt, denn er schrieb so, dass niemand neidisch werden konnte. Sein Stil ist nicht ansprechend; er wurde wenig gelesen. Er machte niemandem etwas vor; die ihn lasen, lachten ihn aus und schimpften ihn einen Biedermann. er wäre verloren gewesen, wenn er wie Fontenelle geschrieben hätte, besonders, als die Jesuiten noch herrschten.

Über Bayle

Doch damals stand für mehrere Jahre der unsterbliche Bayle92 auf, der erste der Dialektiker und der skeptischen Philosophen. Er hatte bereits seine Gedanken über den Kometen93, seine Antworten auf die Fragen eines Provinzialen und schließlich sein Dictionnaire de raisonnement vorgelegt94. Seine größten Feinde müssen zugeben, dass es in seinen Werken keine einzige Zeile gibt, die eine offensichtliche Blasphemie gegen die christliche Religion darstellt; aber sogar seine größten Fürsprecher geben zu, dass es in den streitbaren Artikeln zu Glaubensfragen keine einzige Seite gibt, die den Leser nicht zum Zweifel und oft zum Unglauben hinführt. Man konnte ihn nicht der Gottlosigkeit überführen, aber er machte Gottlose, indem er die Einwände gegen unsere Dogmen in ein so helles Licht stellte, dass es einem mittelmäßigen Glauben nicht möglich war, davon nicht erschüttert zu werden; und leider hat der größte Teil der Leser nur einen sehr mittelmäßigen Glauben.
In einem jener historischen Wörterbücher, in denen die Wahrheit so oft mit der Lüge vermischt ist, wird erzählt, dass der Kardinal de Polignac Bayle auf der Durchreise in Rotterdam fragte, ob er Anglikaner, Lutheraner oder Calvinist sei, und dieser darauf geantwortet habe: „Ich bin Protestant, weil  ich gegen alle Religionen protestiere.“
Erstens kam der Kardinal de Polignac nie durch Rotterdam, außer als er 1713 nach Bayles Tod den Frieden von Utrecht95 schloss. Zweitens war diesem gelehrten Prälaten nicht unbekannt, dass Bayle, in Foix als Calvinist geboren, nie in England oder Deutschland gewesen und weder Anglikaner noch Lutheraner war. Drittens war er zu höflich, um einen Mann zu fragen, welcher Religion er angehöre. Es ist wahr, dass Bayle zuweilen das gesagt hat, was man ihm als Ausspruch zuschreibt; er fügte hinzu, er sei wie Jupiter, der bei Homer die Wolken zusammenschiebt96. Er war außerdem ein Mann von geregelter und einfacher Lebensweise, ein wahrer Philosoph im vollsten Sinne des Wortes. Er starb plötzlich, nachdem er die Worte geschrieben hatte: „Das also ist sie, die Wahrheit“.
Er hatte sie sein ganzes Leben lang gesucht und überall nur Irrtümer gefunden.
Nach ihm ist man noch viel weiter gegangen. Maillet, Boulainvillier, Boulanger, Meslier, der gelehrte Fréret, der Dialektiker Dumarsais, der ungestüme La Méttrie und viele andere griffen die christliche Religion ebenso heftig an wie Porphyrios, Celsus oder Julian97.
Ich habe oft danach gefragt, was so viele moderne Schriftsteller veranlassen konnte, derartigen Hass auf das Christentum zu entfalten. Einige erwiderten, die Schriften der neuen Apologeten unserer Religion hätten sie empört; dass man nicht daran gedacht hätte, sich gegen diese Apologeten zu erheben, wenn sie mit der Mäßigung geschrieben hätten, die ihnen ihre Sache hätte einflößen müssen,; dass aber ihre Galle Galle erzeugte; dass ihr Zorn zu Zorn führte; dass die Verachtung, die sie für die Philosophen hegten, Verachtung hervorrief; so dass endlich zwischen den Verteidigern und den Feinden des Christentums das eingetreten ist, was man in allen Glaubensgemeinschaften gesehen hat: Man schrieb auf beiden Seiten mit Hitzigkeit; man vermischte Beleidigungen mit Argumenten.

Von Mademoiselle Huber

Mademoiselle Huber98 war eine Frau von großem Geist und Schwester des Abbé Huber99, der Ihrem Vater, Monsieur100, wohlbekannt war. Sie tat sich mit einem großen Metaphysiker zusammen, um 1740 das Buch Religion essentielle à l’homme zu schreiben. Man muss zugeben, dass diese Wesentliche Religion leider der reine Deismus ist, wie ihn die Noachiden101 praktizierten, bevor Gott sich herabgelassen hatte, sich in den Wüsten Sinai und Horeb ein geliebtes Volk zu schaffen und ihm besondere Gesetze zu geben. Nach Mademoiselle Huber und ihrem Freund muss die dem Menschen wesentliche Religion zeitlos sein, für alle Orte und Köpfe gelten. Alles, was ein Mysterium ist, übersteigt den Menschen und ist nicht für ihn bestimmt; das tugendhafte Handeln darf nicht mit religiösen Lehrsätzen verknüpft werden. Die für den Menschen wesentliche Religion liegt in dem, was man tun soll, und nicht in dem, was man nicht verstehen kann. Intoleranz ist für die wesentliche Religion das, was die Barbarei für die Menschheit ist, die Grausamkeit für die Sanftmut. Das ist die Kernaussage des gesamten Buches. Die Autorin ist sehr abstrakt: Sie liefert eine Abfolge von Maximen und Theoremen, die manchmal mehr Dunkelheit als Licht verbreiten. Es fällt schwer, diesem Ablauf zu folgen. Dass eine Frau wie ein Landvermesser über ein so interessantes Thema scheibt, ist erstaunlich; vielleicht wollte sie Leser abstoßen, die sie verfolgt hätten, wenn sie sie verstanden und mit Vergnügen gelesen hätten.
Weil sie Protestantin war, wurde das Buch nur von Protestanten gelesen. Ein Prediger namens Desroches102 widersprach ihm, und zwar für einen Prediger sogar recht höflich. Die protestantischen Prediger, Monsieur, müßten gegen die Deisten gemäßigter sein als die katholischen Bischöfe und Kardinäle; denn nehmen wir einen Augenblick an, Gott bewahre, dass der Deismus die Oberhand behielte, dass es nur einen einfachen Gottesdienst unter der Autorität der Gesetze und Obrigkeit gäbe, dass alles auf die Anbetung des höchsten Wesens reduziert sei, die belohnt und rächt;  so würden die protestantischen Pastoren nichts verlieren; sie würden weiterhin beauftragt sein, den öffentlichen Gebeten zum höchsten Wesen vorzustehen, und sie würden immer noch Lehrer der Moral sein; ihre Pensionen würden ihnen erhalten bleiben, oder, wenn sie sie verlieren, wird dieser Verlust sehr gering sein. Ihre Widersacher dagegen haben reiche Prälaturen; sie sind Grafen, Herzöge, Fürsten; sie haben Souveränität; und obwohl so viel Größe und Reichtum vielleicht nicht gut zu Nachfolgern der Apostel passen, werden sie es niemals dulden, dass man sie ihrer beraubt: Selbst die weltlichen Rechte, die sie erworben haben, sind heute so eng mit der Verfassung der katholischen Staaten verbunden, dass man sie ihnen nur durch heftige Erschütterungen nehmen kann..

Nun ist der Deismus eine Religion ohne Leidenschaft, die von sich aus niemals eine Revolution auslösen wird. Er ist falsch, aber er ist friedlich. Alles, was zu befürchten wäre, ist, dass der Deismus, der so allgemein verbreitet ist, unmerklich alle Gemüter dazu bringt, das Joch der Päpste zu verachten, und dass die Obrigkeit ihn bei der ersten Gelegenheit auf die Funktion reduzieren wird, für das Volk zu Gott zu beten. Aber solange er gemäßigt ist, wird er respektiert: Es ist stets nur der Missbrauch der Macht, der die Macht erschüttert. Bedenken wir, Monsieur, dass zwei- oder dreihundert Bände des Deismus niemals die Einkünfte der römisch-katholischen Päpste um einen Ecu geschmälert haben, dass aber zwei oder drei Schriften Luthers und Calvins sie um etwa fünfzig Millionen Einkünfte gebracht haben. Vor zweihundert Jahren hätte ein theologischer Streit Europa erschüttern können; der Deismus hat nie auch nur vier Menschen zusammengebracht. Man kann sogar sagen, dass diese Religion, indem sie die Geister verwirrt, die Gemüter beruhigt und die Streitigkeiten besänftigt, die eine falsch verstandene Wahrheit hervorgerufen hat. Wie dem auch sei, ich beschränke mich darauf, Eurer Hoheit einen getreuen Bericht zu geben. Es liegt an Ihnen, darüber zu urteilen.

Von Barbeyrac

Barbeyrac103 ist der einzige Kommentator, der mehr Ansehen genießt als sein Autor selbst. Er übersetzte und kommentierte Pufendorfs Sammelsurium, aber er bereicherte es mit einem Vorwort104, das allein das Buch in Schwung brachte. In dieser Vorrede geht er auf die Quellen der Moral zurück; und er hat die kühne Offenheit, zu zeigen, dass die Kirchenväter diese reine Moral nicht immer gekannt haben und sie durch seltsame Allegorien verunstalteten. So zum Beispiel, wenn sie sagen, dass der Fetzen roten Tuches, den die Schankwirtin Rahab am Fenster ausbreitet105 offensichtlich das Blut Jesu Christi sei; dass Mose, wenn er im Kampf gegen die Amalekiter seine Arme ausbreitet, das Kreuz meint106, an dem Jesus stirbt; dass die Küsse der Sulamith die Hochzeit Jesu Christi mit seiner Kirche bedeuten107; dass die große Tür der Arche Noah den menschlichen Körper bezeichnet, die kleine Tür den Anus usw. usw.

Barbeyrac konnte es aus moralischen Gründen nicht dulden, dass Augustinus zum Verfolger wurde, nachdem er Toleranz gepredigt hatte108. Er verurteilt aufs schärfste die groben Beleidigungen, die Hieronymus gegen seine Widersacher, insbesondere gegen Rufinus und Vigilantius ausstieß109. Er weist auf die Widersprüche hin, die er in der Moral der Kirchenväter bemerkt; er ist empört darüber, dass sie manchmal Hass auf das Vaterland geschürt haben, wie Tertullian, der den Christen ausdrücklich verbietet, Waffen zur Rettung des Reiches zu tragen110.

Barbeyrac hatte heftige Gegner, die ihm vorwarfen, er wolle die christliche Religion vernichten, indem er diejenigen, die sie durch unermüdliche Arbeit unterstützt hatten, lächerlich machte. Er verteidigte sich; aber er zeigt in seiner Verteidigung eine so tiefe Verachtung für die Kirchenväter; er zeigt so viel Verachtung für ihre falsche Beredsamkeit und Dialektik; er bevorzugt Konfuzius, Sokrates, Zaleukos, Cicero, den Kaiser Antoninus und Epiktet so sehr, dass es offenbar ist, dass Barbeyrac mehr der eifrige Verfechter der ewigen Gerechtigkeit und des Naturgesetzes, das Gott den Menschen gegeben hat, als der Anbeter der heiligen Mysterien des Christentums ist. Wenn er sich geirrt hat, als er glaubte, Gott sei der Vater aller Menschen, wenn er das Unglück hatte, nicht zu sehen, dass Gott nur Christen lieben kann die in Herz und Verstand unterwürfig sind, so ist sein Irrtum wenigstens ein Irrtum einer schönen Seele; und da er die Menschen liebte, ist es nicht Sache der Menschen, ihn zu beleidigen, sondern es ist an Gott, ihn zu richten. Gewiss ist er nicht zu den Atheisten zu zählen.

Von Fréret

Der berühmte und tiefgründige Fréret111 war ständiger Sekretär der Académie des Belles-Lettres in Paris. Er hatte in den orientalischen Sprachen und in der Finsternis des Altertums so viele Fortschritte gemacht, wie es nur möglich war. Indem ich seiner ungeheuren Gelehrsamkeit und Redlichkeit gerecht werde, maße ich es mir nicht an, seine Heterodoxie zu entschuldigen112. Er war nicht nur mit dem heiligen Irenäus überzeugt, dass Jesus mehr als fünfzig Jahre alt war, als er die letzte Marter erlitt, sondern er glaubte auch mit dem Targum, dass Jesus nicht zur Zeit des Herodes geboren wurde und dass seine Geburt auf die Zeit des kleinen Königs Jannaeus, des Sohnes des Hircan, datiert werden muss113. Die Juden sind die einzigen, die diese eigentümliche Meinung vertreten haben; Herr Fréret versuchte, sie zu stützen, indem er behauptete, unsere Evangelien seien erst mehr als vierzig Jahre nach dem Jahr geschrieben worden, in das wir den Tod Jesu legen; dass sie nur in fremden Sprachen und in weit von Jerusalem entfernten Städten verfasst wurden, wie Alexandria, Korinth, Ephesus, Antiochia, Ankara, Thessaloniki: alles Städte von großem Handel, voll von Therapeuten, Jüngern des Johannes, Juden, Galiläern, die in mehrere Sekten aufgeteilt waren. Daher komme es, sagt er, dass es eine sehr große Anzahl von Evangelien gebe, die sehr verschieden voneinander seien, denn jede besondere und verborgene Gruppierung wollte ihre eigenen haben. Fréret behauptet, dass die vier, die kanonisch geblieben sind, zuletzt geschrieben wurden. Er glaubt unwiderlegbare Beweise dafür zu haben, nämlich, dass die ersten Kirchenväter sehr oft Worte zitieren, die nur im Evangelium der Ägypter oder im Evangelium der Nazarener oder im Jakobusevangelium zu finden sind, und dass Justin der erste ist, der die empfangenen Evangelien ausdrücklich zitiert114.

Wenn dieses gefährliche System anerkannt würde, würde daraus offenbar folgen, dass die Bücher mit den Titeln Matthäus, Johannes, Markus und Lukas erst zur Zeit von Justins Kindheit115 geschrieben wurden, etwa hundert Jahre nach der uns gemeinen Zeitrechnung. Das allein würde unsere Religion von oben bis unten umstürzen116. Die Mohammedaner, die sahen, wie ihr falscher Prophet die Blätter seines Korans ausschnitt, und die sahen, wie sie nach seinem Tode vom Kalifen Abubeker feierlich aufgesetzt wurden, würden über uns triumphieren; sie sagten zu uns: „Wir haben nur einen Alcoran, und ihr habt fünfzig Evangelien; wir haben das Original sorgfältig aufbewahrt, und nach einigen Jahrhunderten habt ihr vier Evangelien ausgewählt, deren Daten ihr nie erfahren habt. Du hast deine Religion Stück für Stück geschaffen; Unsere wurde in einem Rutsch hergestellt, wie eine Schöpfung. Ihr habt hundertmal gewechselt, und wir haben uns nie verändert.“117

Gott sei Dank werden wir nicht auf diese fatalen Begriffe reduziert. Wo wären wir, wenn das, was Fréret behauptet, wahr wäre? Wir haben hinreichende Beweise für das Alter der vier Evangelien: der heilige Irenäus sagt ausdrücklich, dass nur vier notwendig sind.

Ich gestehe, dass Fréret Abbadies118 klägliche Argumentation pulverisiert. Dieser Abbadie behauptet, dass die ersten Christen in der Annahme, für die Wahrheit zu sterben, für die Evangelien gestorben seien. Aber dieser Abbadie erkennt an, dass die ersten Christen falsche Evangelien erfunden haben: Deshalb, so Abbadie selbst, starben die ersten Christen für die Lüge. Abbadie hätte zwei wesentliche Dinge berücksichtigen müssen: erstens, dass nirgends geschrieben steht, dass die ersten Märtyrer von Staatsbeamten über die Evangelien befragt wurden; zweitens, dass es in allen Gemeinschaften Märtyrer gibt. Wenn aber Fréret Abbadie niederschmettert, so wird er selbst durch die Wunder zu Fall gebracht, die unsere vier heiligen wahren Evangelien vollbracht haben. Er leugnet die Wunder, also stellt ihm einen Schwarm von Zeugen entgegen; er leugnet die Zeugen, da bleibt uns schließlich nur, ihn zu bemitleiden.

Ich stimme mit ihm darin überein, dass fromme Betrügereien oft angewandt worden sind; ich stimme zu, dass es im Anhang zum Ersten Konzil von Nicäa heißt, dass alle kanonischen Bücher auf einen großen Tisch gelegt wurden, um sie von den Fälschungen zu unterscheiden, und dass der Heilige Geist gebeten wurde, alle Apokryphen herunterzubringen; sofort fielen sie, und nur die wirklichen blieben übrig. Schließlich gestehe ich, dass die Kirche mit falschen Legenden überschwemmt worden ist. Aber folgt daraus die Tatsache, dass es Lügen und Bösgläubigkeit gegeben hat, dass es weder Wahrheit noch Offenheit gegeben hat? Gewiss ist Fréret zu weit gegangen: Er hat das ganze Gebäude umgestürzt, anstatt es zu reparieren; er führt, wie so viele andere, den Leser zur Anbetung des einen Gottes, ohne die Vermittlung Christi. Aber immerhin atmet sein Buch eine Mäßigung, die einen fast dazu bringen würde, seine Fehler zu verzeihen; er predigt nur Nachsicht und Toleranz; er beleidigt Christen nicht grausam wie Lord Bolingbroke; er lacht sie nicht aus wie Pfarrer Rabelais und Pfarrer Swift. Er ist ein Philosoph, der umso gefährlicher ist, als er hochgebildet, sehr konsequent und sehr bescheiden ist. Es ist zu hoffen, dass es Gelehrte geben wird, die ihn besser widerlegen werden, als es bisher der Fall war.

Sein schrecklichstes Argument ist, dass, wenn Gott sich herabgelassen hätte, Mensch und Jude zu werden und in Palästina durch eine schändliche Folter zu sterben, um die Verbrechen des Menschengeschlechts zu sühnen und die Sünde von der Erde zu verbannen, es keine Sünde und kein Verbrechen mehr gegeben haben dürfte; und doch, sagt er, sind die Christen hundertmal abscheulicher gewesen als alle Anhänger anderer Religionen zusammen119. Er führt als klaren Beweis dafür die Massaker, die Räder, die Galgen und die Scheiterhaufen der Cevennen und fast hunderttausend Männer an, die in dieser Provinz vor unseren Augen abgeschlachtet wurden; die Massaker in den Tälern des Piemonts; die Massaker des Veltlin zur Zeit Karls Borromäus; die Massaker an den in Deutschland massakrierenden und massakrierten Wiedertäufern120; die Massaker an Lutheranern und Papisten vom Rhein bis in die Tiefen des Nordens; die Massaker in Irland, England und Schottland zur Zeit Karls I., der selbst massakriert wurde121; die von Maria und Heinrich VIII., ihrem Vater, angeordneten Massaker122; die Massaker am Bartholomäustag in Frankreich und vierzig Jahre anderer Massaker von Franz II. bis zum Einzug Heinrichs IV. in Paris; die Massaker der Inquisition, die vielleicht noch abscheulicher sind, weil sie legal durchgeführt wurden; schließlich die Massaker an zwölf Millionen Bewohnern der Neuen Welt, die mit Kruzifixen in der Hand hingerichtet wurden, ganz zu schweigen von all den Massakern, die seit der Zeit Konstantins im Namen Jesu Christi begangen wurden, und ganz zu schweigen von mehr als zwanzig Schismen und zwanzig Kriegen von Päpsten gegen Päpste und von Bischöfen gegen Bischöfe, von den Vergiftungen, den Morden, den Vergewaltigungen der Päpste Johannes XI.  Johannes XII., Johannes XVIII., Gregor VII., Bonifaz VIII., Alexander VI. und einiger anderen Päpste, die Nero und Caligula, was ihre Schurkereien betrifft, weit hinter sich gelassen haben. Endlich bemerkt er, dass es diese furchtbare, fast ununterbrochene Kette von Religionskriegen seit vierzehnhundert Jahren nur bei den Christen gab; dass außer ihnen kein Volk auch nur einen Tropfen Blut für theologische Argumente vergossen hat. Wir müssen Herrn Fréret zustimmen, dies ist alles wahr. Aber wenn er die geschehenen Verbrechen aufzählt, vergisst er die Tugenden, die verborgen geblieben sind; vor allem vergisst er, dass die höllischen Schrecken, die er so ungeheuer zur Schau stellt, der Missbrauch der christlichen Religion sind und nicht ihr Geist. Was beweist es, dass Jesus Christus die Sünde auf Erden nicht vernichtet hat? Daraus könnte man allenfalls mit den Jansenisten schließen, dass Jesus Christus nicht für alle, sondern für viele gekommen ist: pro vobis und pro multis123. Aber wenn wir die hohen Geheimnisse nicht verstehen, sollten wir uns damit begnügen, sie anzubeten, und vor allem wollen wir diesen berühmten Mann nicht beschuldigen, ein Atheist gewesen zu sein.

Von Boulanger

Schwieriger wäre es für uns, Herrn Boulanger124, den Direktor für Straßen und Brücken, zu rechtfertigen. Sein Christianisme dévoilé [dt.: Das entschleierte Christentum]125 ist nicht mit der Methode und Tiefe der Gelehrsamkeit und Kritik geschrieben, die den gelehrten Fréret auszeichnen. Boulanger ist ein kühner Philosoph, der zu den Quellen zurückkehrt, ohne sich dazu herabzulassen, den Wasserläufen nachzugehen. Dieser Philosoph ist ebenso betroffen wie unerschrocken. Die Schrecken, mit denen sich so viele christliche Kirchen seit ihrer Geburt befleckt haben; die feigen Barbareien der Staatsbeamten, die so viele ehrliche Bürger den Priestern geopfert haben; Fürsten, die, um ihnen zu gefallen, schändliche Verfolger gewesen sind; so viele Torheiten in kirchlichen Streitigkeiten, so viele Gräuel in diesen Streitigkeiten; die Menschen, die abgeschlachtet oder ruiniert wurden; die Throne so vieler Priester, die aus der Beute zusammengesetzt und mit dem Blut der Menschen gekittet sind; jene furchtbaren Religionskriege, mit denen allein das Christentum die Erde überschwemmt hat; dieses ungeheure Chaos von Absurditäten und Verbrechen rüttelt die Vorstellungskraft des Herrn Boulanger mit solcher Macht auf, dass er an einigen Stellen seines Buches so weit geht, an der göttlichen Vorsehung zu zweifeln. Ein verhängnisvoller Irrtum, den die Einsätze der Inquisition und unsere Religionskriege vielleicht entschuldigen würden, wenn er entschuldbar wäre; aber kein Vorwand kann den Atheismus rechtfertigen. Wenn alle Christen sich gegenseitig die Kehle durchgeschnitten; wenn sie die Eingeweide ihrer wegen bloßer Argumente ermordeten Brüder  verschlungen haben werden; wenn nur noch ein Christ auf Erden übrig ist, dann müsste er, wenn er in die Sonne schaut, das ewige Wesen erkennen und anbeten. Er könnte in seinem Schmerz sagen: „Meine Väter und meine Brüder waren Ungeheuer, aber Gott ist Gott“.

Von Montesquieu

Der moderateste und klügste aller Philosophen war der Präsident de Montesquieu126. In seinen Persischen Briefen127 war er nur amüsant; in seinem Geist der Gesetze128 war er vielseitig und tiefgründig. Dieses Werk, voll von Vortrefflichem und Fehlern129, scheint auf das Gesetz der Natur und auf die Gleichrangigkeit der Religionen gegründet zu sein: gerade das hat ihm so viele Anhänger und Feinde eingebracht; aber diesmal wurden die Feinde von den Philosophen besiegt. Ein lange unterdrückter Schrei erhob sich von allen Seiten. Endlich wurde der Deismus, der schon lange tief verwurzelt war, als fortschrittlich entdeckt130. Die Sorbonne wollte den Geist der Gesetze zensieren; aber sie fühlte, dass sie von der Öffentlichkeit getadelt werden würde und schwieg. Es gab nur wenige elende, unbedeutender Schriftsteller, wie einen Abbé Guyon und einen Jesuiten, die den Präsidenten Montesquieus beleidigten; und sie wurden noch unbedeutender, trotz des Ruhmes des Mannes, den sie angriffen131. Sie hätten unserer Religion mehr gedient, wenn sie mit Vernunft gekämpft hätten; doch sie waren schlechte Verfechter einer guten Sache.

Von La Mettrie

Seit dieser Zeit gab es eine Flut von Schriften gegen das Christentum. Der Arzt La Mettrie132, der beste Kommentator Boerhaaves133, gab die Medizin des Körpers auf, um sich, wie er sagte, der Medizin der Seele134 zu widmen; aber sein Homme machine135 zeigte den Theologen, dass er nichts als Gift verabreichte. Er war Vorleser des Königs von Preußen und Mitglied seiner Berliner Akademie. Der Monarch, der mit seinen Manieren und seinen Diensten zufrieden war, verschwendete keinen Gedanken darüber, ob La Mettrie in der Theologie irrige Ansichten vertreten hatte: er dachte nur an den Arzt, an das Mitglied der Akademie, und in dieser Eigenschaft wurde La Mettrie die Ehre zuteil, dass dieser philosophische Heros seinen Nachruf zu verfassen geruhte136. Der Nachruf wurde in der Akademie auf seine Anweisung hin von einem Sekretär verlesen. Ein König, den ein Jesuit regiert, hätte La Mettrie und das Andenken an ihn verfemen lassen können; ein König, den nur die Vernunft regiert, unterschied den Philosophen vom Gottlosen und überließ es Gott, die Gottlosigkeit zu bestrafen, während er das Verdienstvolle lobte und bewahrte.

Von Abbé Mesliers

Der Abbé Meslier137 ist die bemerkenswerteste Erscheinung, die man unter all diesen für die christliche Religion verhängnisvollen Meteoriten gesehen hat. Er war Pfarrer des Dorfes Étrepigny in der Champagne in der Nähe von Rocroi und diente auch einer kleinen Nebenpfarrei namens But. Sein Vater war ein Arbeiter in der Wollherstellung aus dem Dorf Mazerny, das vom Herzogtum Rethel-Mazarin abhängig ist.

Dieser Mann, von tadelloser Lebensweise und eifrig in allen seinen Pflichten, spendete jedes Jahr den Armen seiner Pfarreien, was von seinem Einkommen übrig blieb. Er starb 1733 im Alter von fünfundfünfzig Jahren. Man war sehr erstaunt, in seinem Hause drei große Manuskripte von je dreihundertsechsundsechzig Blättern zu finden, alle drei eigenhändig und von ihm unterschrieben, mit dem Titel „Mein Testament“138. Er hatte auf ein graues Papier, das eines der drei Exemplare umhüllte, die an seine Pfarrkinder gerichtet waren, folgende bemerkenswerte Worte geschrieben:

„Ich habe die Irrtümer, die Missbräuche, die Eitelkeiten, die Torheiten, die Bosheit der Menschen gesehen und erkannt. Ich hasse und verabscheue sie: Ich habe es in meinem Leben nicht gewagt, es zu sagen; aber ich will es wenigstens sagen, bevor ich sterbe, und damit man es weiß, schreibe ich diese Denkschrift, damit sie allen, die sie sehen und lesen werden, wenn es ihnen beliebt, als Zeugnis der Wahrheit diene. »

Der Hauptteil des Werkes ist eine naive und grobe Widerlegung aller unserer Dogmen, ohne ein einziges auszulassen. Der Stil ist, wie man es von einem Dorfpfarrer erwarten muss, sehr abschreckend. Er hatte bei der Abfassung dieses seltsamen Werkes gegen die Bibel und gegen die Kirche keine andere Hilfe als die Bibel selbst und einige der Kirchenväter. Von den drei Exemplaren behielt eines der Generalvikar von Reims, ein anderes wurde an Herrn Siegelbewahrer Chauvelin geschickt, das dritte verblieb in der Kanzlei des Ortes. Der Graf von Caylus besaß eine Zeit lang eines dieser drei Exemplare; und bald darauf gab es in Paris mehr als hundert davon, die für zehn Louis das Stück verkauft wurden. Viele Neugierige bewahren dieses traurige und gefährliche Denkmal noch immer auf. Ein Priester, der sich im Sterben beschuldigt, die christliche Religion vertreten und gelehrt zu haben, hat einen stärkeren Eindruck auf die Gemüter der Menschen gemacht als die Pensées von Pascal139.

Mir scheint, wir sollten vielmehr über die Geistesverfassung dieses melancholischen Priesters nachdenken, der seine Pfarrkinder vom Joch einer Religion befreien wollte, die er selbst zwanzig Jahre lang gepredigt hatte. Warum richtete er dieses Testament an Männer vom Land, die nicht lesen konnten? Und wenn sie lesen konnten, warum sollte man ihnen dann das heilsame Joch nehmen, eine notwendige Furcht, die allein geheime Verbrechen verhindern kann? Der Glaube an Strafen und Belohnungen nach dem Tod ist ein Bremse, den das Volk braucht. Die Religion, richtig geläutert, wäre das wichtigste Bindeglied der Gesellschaft.

Dieser Priester wollte alle Religionen vernichten, sogar die natürliche. Wäre sein Buch gut gemacht gewesen, so hätte die Einstellung des Autors seine Leser zu sehr beeindruckt. Es sind mehrere kleine Auszüge davon gemacht worden, von denen einige gedruckt wurden: sie sind glücklicherweise vom Gift des Atheismus gereinigt140.

Noch erstaunlicher ist, dass es zur gleichen Zeit einen Pfarrer von Bonne-Nouvelle in der Nähe von Paris gab, der es zu seinen Lebzeiten wagte, gegen die Religion zu schreiben, die er lehren sollte: Er wurde von der Regierung still und leise ins Exil geschickt. Sein Manuskript ist äußerst selten141.

Lange vor dieser Zeit hatte der Bischof von Le Mans, Lavardin142, bei seinem Tode ein nicht minder merkwürdiges Beispiel gegeben: Er hinterließ zwar kein Testament gegen die Religion, die ihm ein Bistum verschafft hatte; aber er erklärte, dass er sie hasse; er lehnte die Sakramente der Kirche ab und schwor, dass er niemals Brot und Wein in der Messe geweiht habe, noch habe er die Absicht gehabt, Kinder zu taufen und Weihen zu erteilen, wenn er Christen getauft und Diakone und Priester geweiht habe. Dieser Bischof machte sich ein böses Vergnügen daraus, alle, die von ihm die Sakramente der Kirche empfangen hatten, in Verlegenheit zu bringen: er lachte, als er starb, über die Skrupel, die sie haben mochten, und er freute sich über ihre Ängste. Es wurde beschlossen, dass niemand wiedergetauft oder neu ordiniert werden sollte; aber einige gewissenhafte Priester wurden ein zweites Mal geweiht. Jedenfalls hinterließ Bischof Lavardin keine Denkmäler gegen die christliche Religion: Er war ein wollüstiger Mann, der über alles lachte; während der Pfarrer Meslier ein düsterer und enthusiastischer Mann war, von einer starren Tugend zwar, aber gerade durch diese Tugend gefährlicher.


  1. William, Baron von  North and Grey (1678 – 1734), englischer Adliger, Offizier und Anhänger der Stuarts. ↩︎
  2. David Durand, La Vie et les sentimens de Lucilio Vanini, Rotterdam : Fritsch, 1717, 260 S. Durant (1680 -1763) war ein hugenottischer Flüchtling aus dem Umfeld von Pierre Bayle. Er lebte später in England und war dort Pastor der Kirche von England. ↩︎
  3. François Garasse (1585-1631) war ein fanatischer Vertreter der katholischen Gegenreformation. Seine Gegner titulierte er mit allen möglichen Tiernamen, bevorzugt als Ungeziefer. Im Fall des Ketzerprozesses gegen Vanini war er einer der Haupteinpeitscher. Sein Name rangiert in der Galerie der größten Finsterlinge der Geschichte sicher auf einem der oberen Plätze. Seine Kampfschrift La Doctrine curieuse des beaux-espr its (1624) wurde im Jahr 2009 tatsächlich neu aufgelegt – siehe dazu die Rezension in Le Monde vom 20. März 2009 ↩︎
  4. Der exakte Titel ist: Garasse, François, La doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps, ou pretendus tels. Contenant plusieurs maximes pernicieuses à la religion, à l’estat, & aux bonnes mœurs, Paris: Chez Sebastien Chappelet, 1624 ↩︎
  5. Voltaire bezieht sich auf das Werk De religione gentilium errorumque apud eos causis (1663), in dem Edward Lord Herbert von Cherbury (1583 – 1648) fünf Grundsätze aufstellt, die in jeder Religion gleich seien: 1. Der Glaube an ein höheres Wesen/2. Die Pflicht, dieses Wesen zu verehren/3. Die Gleichsetzung der Verehrung mit moralischem Handeln/4. Die Forderung, Sünden zu bereuen und zu büßen/5. Der Glaube an göttliche Belohnung und Bestrafung. Voltaire lehnt sich sehr eng an diese Auffassung an. Offenbarungen, auf die sich das Judentum , Christentum und der Islam gründen, kommen dabei allerdings nicht vor. ↩︎
  6. Der Earl of Shaftesbury (1671-1713) war die bedeutendste Stimme der Frühaufklärung. Er lehnte die Offenbarungsbehauptung ebenso ab, wie die angebliche priesterliche Vermittlung zu Gott. Wie Cherbury nahm auch er ein natürliches moralisches Empfinden an, das allen Menschen gleichermaßen zu eigen sei. F.A. Lange, (in seiner Geschichte des Materialismus 1866) sagt über ihn: „Wo Voltaire seine Nahrung fand, ist leicht zu sehen wenn man bedenkt, dass Shaftesbury nicht nur Scheiterhaufen und Hölle, Wunder und Bannfluch, sondern auch Kanzel und Katechismus angriff.“ (S. 326) ↩︎
  7. William Wollastone 1659 – 1724), Anglikanischer Priester, Frühaufklärer. Sein Hauptwerk ist: The Religion of Nature Delineated (1722) [etwa: Die natürliche Religion im Überblick]. Er war ein Deist und vertrat die Auffassung, dass die natürliche Religion im „Streben nach Glück durch die Ausübung von Vernunft und Wahrheit“ bestehe und zwar in vollkommener Übereinstimmung mit der Natur. ↩︎
  8. John Toland (1670-1722), bedeutender irischer Aufklärer, vertrat eine pantheistische Lehre. Sein Hauptwerk ist Christianity not Mysterious (1696) [dt. Christentum ohne Geheimnis, Gießen: Töpelmann1908, 148 S.]. Es wurde 1697 in Dublin verbrannt. Er starb, völlig verarmt, 1722 in Putney. ↩︎
  9. John Toland, Origines Judaicae sive Strabonis de Moyse et religione Judaica historia, Den Haag 1709 ↩︎
  10. John Toland, Nazarenus: or Jewish, Gentile, and Mahometan Christianity, London: 1718 ↩︎
  11. John Toland: Pantheisticon : Sive formula celebrandæ Sodalitatis Socraticæ 1720; engl.: Pantheisticon: or the Form of Celebrating the Socratic-Society, London,1751 [dt.: Das Pantheistikon, Leipzig: Findel, 1897, 170 S.] ↩︎
  12. Allmächtiger und ewiger Bacchus, der Du die Herzen der Menschen mit deinen Gaben belebst, gewähre gnädig, dass diejenigen, die durch die Kelche von gestern erkrankt sind, heute durch Becher um Becher geheilt werden. Amen! ↩︎
  13. John Locke, The Reasonableness of Christianity as Deliver’d in the Scriptures, London, 1695 [dt.: Vernünftigkeit des biblischen Christentums, übers. von C. Winckler, hrsg. von Leopold Zscharnack, Gießen, Töpelmann, 1914, 140 S. ↩︎
  14. Diese ewig existierende und denkende Monade ist die Seele. Siehe: Voltaire, Sur Locke, lettres philosophiques (1733), chap. XIII  ↩︎
  15. Pierre Gassendi (1592-1655), Physiker und Philosoph, verehrte den der Kirche verhassten Epikur (s. sein Werk De vita et moribus Epicuri) an. Er betont, dass anders als es Descartes lehrt, der Mensch sich seiner Existenz nicht nur im Denken bewußt wird, sondern ebenso durch körperliche Handlungen. ↩︎
  16. Der Brief an Descartes: Voltaire bezieht sich auf Gassendis Objectiones. Das Zitat findet sich in dem 4. Einwand. Siehe in englischer Übersetzung mit den Antworten Descartes (pdf) ↩︎
  17. Damaris Cudworth Masham (1658-1708) war eine britische Philosophin und eng mit John Locke befreundet, zuletzt lebten die beiden zusammen. ↩︎
  18. Jeremy Taylor (1613-1667), Anglikanischer Bischof von Connors (Nordirland). Sein Werk Ductor Dubitantum (1660) [D.D. oder allgemeiner Gewissenslehrer, Bremen, 1705] ist eine viele tausend Seiten lange Abhandlung zur Frage, was glaubenskonformes Verhalten im Sinne des Christentums bedeute (z.B. nicht zu lügen, auch wenn es das eigene Leben kostete …). ↩︎
  19. Matthew Tindal (1657 -1733), engl. Jurist, Verfechter der freien Meinungsäußerung. Sein Werk Christianity as Old as the Creation (1739) ist so etwas wie die Bibel des Deismus, in dem er zeigt, dass alles, was am Christentum glaubhaft/bewahrenswert ist, schon lange vor diesem in diversen anderen Glaubensrichtungen existierte. Dem entsprechend lehnte er alle Offenbarungsbehauptungen ab. ↩︎
  20. Whig: Anhänger der Hannoveranischen, protestantischen Thronfolge, die nach dem Tod v. Königin Anne 1714 Georg I. auf den engl. Thron brachte; Jakobit: Anhänger der Thronfolge der katholischen Stuarts, mit Jakob II, der nach der Glorius Revolution im Exil lebte) ↩︎
  21. Alexander Pope, Dunciad (1728) ist ein satirisches Gedicht, in dem Pope mit seinen Gegnern abrechnet. ↩︎
  22. Anthony Collins (1676-1729), Jurist, sein Hauptwerk ist A Discourse Concerning Free-Thinking, 1713 in dem er sich gegen den Materie/Geist bzw. Leib-Seele Dualismus à la Descartes ausspricht. ↩︎
  23. Samuel Clarke (1675-1729), Bischof von Nordwich und Vertrauter Isaac Newtons. Auch er vertrat die Position, dass es eine natürliche Religion gebe. Clarkes Auseinandersetzung mit Collins um die Frage, ob Bewusstsein zu einem materiellen System gehören kann, dokumentiert W. Uzgalis 2020 (engl.).
    Es ist interessant, dass sich Voltaire hier auf die Seite von Collins stellt, der eine materialistische Begründung des Bewußtsein vertritt. ↩︎
  24. Thomas Woolston (1670-1733), mit seiner These, dass die Bibel nur allegorisch und nicht wörtlich zu verstehen sei, kam er in Konflikt mit der angl. Kirche und wurde 1729 wegen Gotteslästerung zu einer Geld- und Gefängnisstrafe verurteilt. Zu Woolston und Voltaire: siehe: Norman L. Torrey, Voltaire and the English Deists (New Haven, CT: Yale University Press, 1930) ↩︎
  25. Auf frz. erschien 1730 von Th. Woolston: Discours sur les Miracles de Jesu Christ –  Engl.: A Discourse On the Miracles of Our Saviour In View of the Present Controversy Between Infidels and Apostates, 1729 ↩︎
  26. Jean-Baptiste Ladvocat (1709-1765), Theologe. Sein Wörterbuch heißt: Dictionnaire historique-portatif (Paris : Didot,1752) und das erwähnte  Nouveau Dictionnaire historique (1766) stammt von Louis Mayeul Chaudon. ↩︎
  27. William Warburton (1698-1779), gab die Werke Shakespeare heraus und schrieb Divine Legation of Moses demonstrated on the Principles of a Religious Deist (5 vol. 1738–41) ↩︎
  28. Henry Saint John Bolingbroke (1678-1753), war eine der zentralen Figuren der englischen Politik, 1710 Außenminister des Landes, bedeutender Kopf der Torys, nach der Thronbesteigung von George I. 1715 des Landes verwiesen. Voltaire besuchte ihn 1722 in La Source bei Orléans. Bolingbrokes Unterstützung und Empfehlung verdankte Voltaire die offene Aufnahme während seines Exils in England (1726 -1728). Die Sammlung seiner philosophischen Werke erschien 1754: The philosophical works of the late Right Honorable Henry St. John, Oxford: Bodleian Library in five volumes. ↩︎
  29. Voltaire erinnert hier an den Humanismus, Agrippa, Melanchton, Erasmus werden im 6. Abschnitt „Über die Deutschen“ erwähnt. ↩︎
  30. Voltaire spricht hier über sein eigenes Werk L’Examen important de Milord Bolingbroke ou le tombeau du fanatisme, écrit sur la fin de 1736 (1766), das er aus Sicherheitsgründen unter dem Namen des verstorbenen Lord Bolingbroke veröffentlichte. Darin kommt er zu dem Schluss: „Ich fasse zusammen, dass jeder empfindsame Mensch, jeglicher Gutgesinnte die Sekte des Christentums mit Abscheu betrachten muss“. ↩︎
  31. Thomas Chubb (1679-1747), britischer Gelehrter und Deist, wandte sich gegen Ansicht, dass Wunder die Göttlichkeit Jesus beweisen. Sein Hauptwerk ist The true Gospel of Jesus Christ (1738).. ↩︎
  32. Während seines Exils in England hatte Voltaire persönlichen Kontakt zu Swift. Zwei kurze Briefe sind überliefert. Voltaire nennt Swift „den Rabelais Englands“. Gullivers Reisen erschien 1726 während Voltaires Aufenthalt in London, er wollte die Travels ins Französische übersetzen lassen. Deutlich wird dessen Einfluss in der Erzählung Micromegas (1752). Dazu: Christopher Tacker, Swift and Voltaire, in Hermathena No. 104, 1967, pp 51-66 (Jstor) ↩︎
  33. Die Strophe ist aus dem Drama Cinna (1643) von Corneille ↩︎
  34. Tale of a tub (1704), eingegangen in Voltaires Pot-Pourri. Der Prediger ist nicht wirklich zwischen den beiden anderen Sprechern, er scheint auf seiner Tonne gegen die beiden zu sprechen – trotzdem auf lächerliche Art. ↩︎
  35. Voltaire bezieht sich auf die dritte Novelle im Decamerone (1325) v. Bocaccio ↩︎
  36. Eine Intrige des Papstes gegen Friedrich II., die Voltaire auch in dem Artikel Atheismus des Philosophischen Taschenwörterbuchs beschreibt. ↩︎
  37. Das Buch De tribus Impostoribus, erstmals verfasst 1562, wurde 1768 von d’Holbach herausgegeben. Voltaire grenzte sich stets scharf gegen dieses Werk ab, das seiner eigenen Positionen sehr nahe kommt. ↩︎
  38. Ihm wird vor allem von Seiten seiner beiden anderen Brüdern übel mitgespielt. ↩︎
  39. Swift starb an Hydrocephalus; Jacques Abbadie (1658 -1727) war ein protestantischer Theologe, durch das Edikt von Nantes nach England vertrieben. Sein Traité de la vérité de la religion chrétienne (1684) und sein Art de se connoître soi-même (1692) wurden in mehrere Sprachen übersetzt. La défense de la Nation Britannique (1693) , gegen Pierre Bayle verfasst, verteidigt die Volkssouveränität gegen den Untertanenstaat. Da Abbadie zur Zeit von Voltaires Aufenthalt in London starb, wird Voltaire von den Todesumständen erfahren haben, über die wir sonst keine Quellen gefunden haben. ↩︎
  40. Agrippa von Nettesheim (1486-1535), bedeutender Humanist aus Köln, der  sich mutig gegen die Hexenprozesse stellte und Reuchlin gegen die inquisitorischen Talmudverbrenner verteidigte. 1530 wurde er in Brüssel inhaftiert und seine Schrift De incertitude…(1527) [dt: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften, 1721] verbrannt. Zu Nettesheim und seine Stellung unter den Humanisten: Peter Priskil, Zwölf  Humanisten, Freiburg: Ahriman, 2023 Bd 2, S. 311-379 ↩︎
  41. Apuleius, gr. Philosoph des 2. Jhd., war angeklagt, sich die Gunst der reichen Witwe Prudentia durch Zauberei verschafft zu haben, war aber durch seine Verteidigungsrede freigesprochen worden (-> Apologie des Apuleius ) ↩︎
  42. In: Agrippa, Von Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts ↩︎
  43. Auf welches Theaterstück sich Voltaire bezieht, ist unklar, im Anschluss an Marlowes The Tragical History of Doctor Faustus von 1604 gab es auf vielen Volkstheaterbühnen Faust-Stücke.
    Bekannt ist auch, dass der mit der Aufklärung durchaus verbundene Leipziger Professor Gottsched diese Volksstücke verdammte – Voltaire, wie man sieht, fand sie eher vergnüglich und verstand ihren antiautoritären Impuls besser als der Deutsche. ↩︎
  44. Dass Faust aus Schwaben stammte (Knittlingen bei Heilbronn) erzählte Johann Manlius 1562 (Locorvm communium collectanea) mit Bezug auf seinen Lehrer Melanchton.
    Maximilian I (1459-1519), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Im Essay sur les moeurs (CXXII), erwähnt Voltaire dessen Bestreben, selbst Papst zu werden und dass er nicht über genügend Geld verfügte, um sich das Pontifikat zu kaufen. ↩︎
  45. Die Geschichte der Statue wird hier erzählt, jedoch ohne jeden intellektuellen Aufwand. Dass die Statue 1622 aufgestellt wurde, führt man auf den Stolz der Rotterdamer und auf das Bestreben von Hugo Grotius zurück. ↩︎
  46. Philipp Melanchthon (1497-1560), hieß eigentlich Philipp Schwartzerdt. ↩︎
  47. Eigentlich nannte man Melanchthon den Praeceptor (den Lehrer) Deutschlands. Zu den aufständischen Bauern veröffentlichte 1525 er sein Gutachten „Gegen die Artikel der Bauernschaft“. ↩︎
  48. „Ohne mein göttlich Geheiß schon wagt ihr, Winde, Himmel und Erde umzustürzen und solchen Tumult zu erheben?“ Spricht Neptun und glättet die Wogen…. ↩︎
  49. Eigentlich hält man Christian Wolff für einen Vertreter der Theologia naturalis. ↩︎
  50. Fontenelle (1657-1757), französischer Philosoph und Anhänger Descartes. Seine Lobrede auf Leibniz, übersetzt v. Gottsched, erschien als Vorrede zu Leibniz´ Theodizee (1763) ↩︎
  51. Siehe dazu unten „Von Fontenelle↩︎
  52. Christian Wolff (1679-1754), Mathematikprofessor und Prorektor der Universität Halle, zu seiner Biograhie: H. J. Kertscher, Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff – eine Biographie, Halle: mdv, 2018 (s. unsere Rezension) ↩︎
  53. Voltaire hatte bereits im Philosophischen Wörterbuch (Chinesischer Katechismus) auf das Schicksal Wolffs hingewiesen. Siehe dazu unseren Kommentar . ↩︎
  54. Diese Fehler befinden sich in dem Dictionnaire historique-portatif (1752) von Jean-Baptiste Ladvocat ↩︎
  55. Fleury, Claude (1640-1723), Beichtvater von Louis XV – sein Hauptwerk ist eine 20 bändige Kirchengeschichte. Eine Zusammenfassung (Abrégé de l’Histoire ecclésiastique, Bern [Berlin]) erschien 1766 mit einem Vorwort von Friedrich II. das mit dem genannten Zitat beginnt. ↩︎
  56. Marquis d’Argens, Défense du Paganisme par l‘empereur Julien, Berlin: Voss, 1764; ein Text, den Voltaire 1768 selbst unter dem Titel Discours de l’Empereur Julien contre les chrétiens herausgab, allerdings mit geänderten Anmerkungen, die ihm eine klar antichristliche Richtung verleihen. Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens (1703 – 1771), Jurist, Schriftsteller der Aufklärung, war ein enger Vertrauter von Friedrich II. (Zu d’Argens siehe Uni Trier) ↩︎
  57. Mézeray, François-Eudes de (1610-1683), verfasste eine dreibändige Histoire de France ↩︎
  58. Hardouin, Jean (1646-1729), Herausgeber des einflussreichen Journal de Trévoux. In seinem posthum erschienen Pamphlet Athei detecti (1733) greift er insbesondere Descartes und dessen Anhänger an. Zu Garasse s. Anmerkung 3 und 4 ↩︎
  59. https://cymbalum-mundi.com/la-cymbale-du-monde/ ↩︎
  60. des Périers, Bonaventure (1510-1544), Humanist, Schriftsteller im Kreise von Marguerite de Navarre, der Schwester des franz. Königs Franz I. Er übersetzte die Bibel auf Französisch. Zu seinem Leben und seiner Bedeutung siehe Priskil, Peter, Zwölf Humanisten, 2022, S. 444-524. ↩︎
  61. Voltaire veröffentlichte 1770 diese „sehr faden Dialoge“ selbst, enthalten im 3. Band seinern seinen Choses utiles et agréables (Berlin [Genf]: Cramer, 1770 ) in einer von ihm besorgten Ausgabe heraus. ↩︎
  62. Psalm 115, eigentlich: Ich glaubte, also sprach ich ↩︎
  63. Nicolas Catherinot (1628-1688), veröffentlichte eine kleine Broschüre über die „Kunst des Buchdrucks“, in der er den Buchdruck geißelt, weil er zur Kritik an der Kirche, dem Staat und den guten Sitten missbraucht würde. Das Wappen von Bourges enthält 3 Schafe. Zum Werk De tribus Impostoribus s. Anmerkung 37 ↩︎
  64. Mersenne, Marin (1588-1648) , war ein Mönch vom Orden der Minimiten. Er war mit Descartes gemeinsam zur Schule gegangen. Von seinem fanatischen Atheistenhass erfährt man bei Wikipedia kein Wort. In dem Artikel Atheismus des Philosophischen Taschenbuchs heißt es: „Mersenne hat den Wahnsinn so weit getrieben, drucken zu lassen, dass Vanini Neapel mit zwölf seiner Jünger verlassen habe, um alle Völker zum Atheismus zu bekehren.“(S. 49) ↩︎
  65. Theophile de Viau (1590-1626), bedeutender Poet des 16. Jahrhunderts. Seine phantasievolle Lyrik (und seine Homosexualität) machte ihn zum Hassobjekt der klerikalen Verfolger. ↩︎
  66. Henri II. de Montmorency (1595-1632), von Richelieu zum Tode verurteilt. Voltaire erzählt seine Geschichte im 176. Kapitel seines Essai sur les moeurs. ↩︎
  67. Horaz, Episteln 2.Bd., 2.Brief Vers 102, dort geht es um die Ruhmsucht der Schriftsteller, die sie reizbar macht, Theophilius ist demnach „von der überempfindlichen Rasse der Poeten“. ↩︎
  68. Zur Zeit, als diese Verse erschienen (um 1600), war die Jesuitenmission in China sehr erfolgreich, es war ihnen gelungen, Zgang zum Kaiserhof zu erlangen. François Garasse ↩︎
  69. Ravaillac, François (1587-1610) war der katholisch fanatisierte Mörder von Henry IV. Er wurde schrecklich gefoltert und von vier Pferden in Stücke gerissen. ↩︎
  70. In diesem Machwerk hetzt Garasse vornehmlich gegen Théophile de Viau  ↩︎
  71. Karpokrates von Alexandria (2.Jhdt), vertrat eine gnostische Richtung des Christentums, die Garasse fanatisch bekämpfte. ↩︎
  72. Nonotte [eigentlich Nonnotte], Jean-Adrien (1711-1793), Jesuit, verfasste eine weitverbreitete Schrift gegen Voltaire. Der Jesuitenorden war 1763 in Frankreich verboten, jedoch nicht ausgelöscht worden. ↩︎
  73. In dieser Aufzählung versammelt Voltaire satirische Autoren, die meist von der Kirche verfolgt wurden. ↩︎
  74. Des Barreaux [Jacques Vallée, seigneur des Barreaux], 1599-1673, war ein antiklerikaler Poet und Epikuräer. Zu seiner Biographie s. Wikipedia (frz) und die Biographie von Lachèvre. ↩︎
  75. Boileau-Despréaux, Nicolas (1636-1711), Schriftsteller. Seine Satyre X enthält die beiden zitierten Verse, die schwer zu übersetzen sind. Im zweiten wird Boileau als Beispiel eines Atheisten angeführt. S. Boileau, Oeuvres Poetiques . ↩︎
  76. Kapaneus, einer der sieben Helden, die gegen Theben zogen. Er glaubte nicht an Zeus und wurde deshalb vom Blitz erschlagen. ↩︎
  77. Des Barreaux war Richter am Parlament von Paris, verzichtete aber auf diese Funktion, um ein glückliches Leben zu führen. ↩︎
  78. Das Gedicht ist als “Barreaux‘s celebrated Sonnet” in der Sammlung von Pearch, G. (A collection of poems in four volumes. By several hands. Vol. III. [The second edition]. London: printed for G. Pearch, 1770) enthalten. Im Eighteenth-Century Poetry Archive wird es sorgfältig vorgestellt und ins Englische übersetzt. ↩︎
  79. De Lavau, Louis Irland (-1694), Kleriker und Mitglied der Académie française. Er verehrte Corneille und Fontenelle. Von ihm ist nichts schriftliches überliefert. ↩︎
  80. De la Mothe le Vayer, François (1588-1672), Schriftsteller und Philosoph des Skeptizismus (Pyrrhonismus). Sein Skeptizismus bedeutete auch, an der historischen Belegbarkeit der biblischen Erzählungen zu zweifeln. ↩︎
  81. De la vertu des païens, Paris: Targa, 1642, 374 p. La Motte verteidigte darin die Tugenden der sog. Heidnischen Religion. Zur Einordnung des Werkes, speziell vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Jansenismus, siehe (frz) Isabelle Moreau (2104) ↩︎
  82. Das Werk hat den Titel: Quatre dialogues faits à l’imitation des Anciens, par Orasius Tubero, Frankfurt: Jean Sarius, 1506 [1633] ↩︎
  83. Saint-Évremond, eigentlich Le Marquetel, Charles (1614-1703), war Philosoph und Epikuräer, aber auch Soldat. Ab 1661 lebte er im Exil in England, wo er in der Westminster-Abbye begraben liegt. Zeitlebens hat er kein eigenes Werk veröfffentlicht. Erst ab 1960 versuchte René Ternois, seine Schriften zu klassifizieren (s.dazu den Hinweis (frz.) in der Enzyklopädia universalis (Art. Saint-Évremond ) ↩︎
  84. Der Titel lautet: Examen de la religion und stammt von Chesneau, César, genannt Du Marsais (1676-1756), Autor der Enzyklopädie. Voltaire hielt es  « das zersetzendste Buch, das jemals über diesen Gegenstand geschrieben wurde“ (Brief an Cramer am 30.12.1761, D10239). Es erschein in Frankreich zunächst unter dem Namen Saint Evremonts. ↩︎
  85. Angeblich soll bei der Kreuzigung Jesu eine große Finsternis eingetreten sein. Phlegon († um 137) soll in seinen Olympiades für das 4. Jahr der 202. Olympiade (nach heutiger Zeitrechnung 32/33) davon gesprochen haben. Astronomischen Berechnungen zufolge war am 24. 11. 29, also im 1. Jahr der 202. Olympiade eine Sonnenfinsternis zu sehen, nicht aber im 4. Jahr. Siehe dazu bei Wikipedia: Finsternis bei der Kreuzigung Jesu Finsternis bei der Kreuzigung Jesu – Wikipedia, Voltaire schrieb im Artikel Geschichte des Christentums des Philosophischen Taschenwörterbuchs über die vielfachen Fälschungen rund um das Thema der Göttlichkeit Jesu. ↩︎
  86. Réflexions Sur Les Divers Génies Du Peuple Romain, Paris: Renouard, 1795 . Möglicherweise existierten frühere Ausgaben oder Abschriften zu Lebzeiten Voltaires. ↩︎
  87. De Fontenelle, Bernard le Bovier (1657-1757), französischer Philosoph der Frühaufklärung und Anhänger Descartes. Sein bekanntestes Werk ist: Entretiens sur la pluralité des mondes, Paris: Blageart, 1686, 359 p. [dt.: Dialogen über die Mehrheit der Welten, Berlin: Himburg, 1780, 355 S.) in dem er die astronomischen Lehren von Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes vorstellt, die allesamt der christlichen Annahme von der Erde als Mittelpunkt der Welt widersprechen. Es kam sofort auf die Liste der verbotenen Bücher. Trotzdem wurde Fontenelle 1691 in die Académie française und 1749 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. ↩︎
  88. 1683 erschienen von Antonius van Dale, einem holländischen Arzt, zwei Werke über die Orakel. Fontenelle überarbeitete den umständlichen Text, so dass daraus eine lesbare und klar verständliche Anklage gegen den christlichen Wunderglauben wurde (Histoire des oracles, 1687). Gottsched wiederum übersetzte das Werk ins Deutsche: Bernhards von Fontenelle Historie Der Heydnischen Orackel, Leipzig: Breitkopf, 1730, 308 S. ↩︎
  89. D’Argenson, René Louis (1694 – 1757), Politiker und Schriftsteller. D’Argenson war Voltaires Klassenkamerad am Jesuitenkolleg Louis Le Grand. Er wurde später Mitglied im Staatsrat (garde des sceaux) und war der Aufklärung eng verbunden. ↩︎
  90. Trublet, Nicolas-Charles-Joseph (1697–1770), Schriftsteller. Er verfasste die Mémoires pour servir à l’histoire de la vie et des ouvrages de M. de Fontenelle, Amsterdam 1759, 1761. ↩︎
  91. Castel de Saint-Pierre, Charles Irénée (1658- 1743), Philosoph der Aufklärung, insbesondere seine Gedanken über die notwendige Etablierung staatlicher Verfassungen, die ein friedliches Zusammenleben der Völker ermöglichen, waren wegweisend. Sein Hauptwerk ist: Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1712) [dt.: Der Traktat vom ewigen Frieden (1713)].  Voltaire befasste sich mit diesem Werk, das er sympathische Utopie ansieht, in seiner Schrift De la paix perpetuelle (1769) [dt.: Vom ewigen Frieden in: Voltair’s sämtliche Schriften (Mylius) Bd 13, Berlin: Wever 1788, S.445-514] – eine kurze Einordnung (engl.) gibt Pauline Kra in einem blog-Beitrag (2016) der Voltaire-Foundation, Oxford.
    Mit der Mohammed-Allegorie meint Voltaire Saint-Pierres Werk Discours contre le Mahométisme (1733), das sich unschwer als gegen das Christentum gerichtet erkennen lässt.
    Saint-Pierre war der Begründer des „club de l’entresol“, über dessen Bedeutung zur Verteidigung der Aufklärung ein eigener Artikel geschrieben werden müsste (siehe dazu: Nick Childs, A Political Academy in Paris, 1724-1731. The Entresol and its members, Oxford, Voltaire Foundation, SVEC, 2000). ↩︎
  92. Bayle, Pierre (1647-1706), als Protestant im katholischen Frankreich geboren, war er der bedeutendste Repräsentant der Frühaufklärung. Er gilt als Vertreter des Skeptizismus, wobei man bedenken sollte, dass Skeptiker zu sein in einer Zeit dogmatischer Denkkontrolle ziemlich das Gegenteil von dem ist, was man heute unter Skeptizismus versteht, das Zweifeln an der Möglichkeit, wahre und gültige Aussagen zu treffen. Noch ganz um konfessionellen Ausgleich bemüht, wurde Pierre Bayle und seine Familie dennoch Opfer der katholischen Verfolger, er musste Frankreich verlassen und lebte ab 1681 im Rotterdamer Exil. Nachdem sein Bruder Jacob im Gefängnis gestorben war – man hatte ihn stellvertretend für Pierre Bayle dort eingesperrt – schrieb er gegen die religiöse Intoleranz und verteidigte auch Atheisten, die nicht automatisch Menschen ohne Moral zu sein bräuchten. Voltaire betrachtete ihn als großes Vorbild, Bayles bedeutendes Historisch kritisches Wörterbuch (1697) stand Pate für Voltaires Dictionnaire Philosophique Portatif (1764). ↩︎
  93. Pensées diverses: écrites à un docteur de Sorbonne, à l’occasion de la comète qui parut au mois de décembre 1680, Rotterdam : Leers 1683, von Gottsched ins Deutsche übertragen : Verschiedene Gedanken über einen Kometen (1741)
    In dieser ersten, anonym erschienenen Veröffentlichung setzt Bayle das wissenschaftliche  gegen das magisch-religiöse Denken, das Zusammenhänge konstruiert, wo keine sind. Die Untersuchung der natürlichen Ursachen der Kometenerscheinung führt ihn zur Forderung religiöser Toleranz, auch als Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit. ↩︎
  94. Reponse aux questions d’un provincial (1704) ist eine erkenntnistheoretische Reflexion über Kriterien für die Wahrheit einer Aussage.
    Mit dem Dictionnaire raisonné meint Voltaire sicherlich das Dictionaire historique et critique, Rotterdam : Leers, 1697. II ed. 1702. [4 vol.], [dt. hrsg. von Gottsched: Historisches und kritisches Wörterbuch, 1.Teil A-B, 2.Teil C-J , 3.Teil K-P , 4. Teil Q-Z Eine Vorstellung von der Bedeutung dieses Werks vermittelt das Abstract zu einer Auswahlausgabe des Dictionnaire im Meinerverlag (2003) ↩︎
  95. Der Frieden von Utrecht (1713) beendete den Spanischen Erbfolgekrieg, der den europäischen Kontinent seit 1701 erschüttert hatte. In diesem Vertragswerk manifestiert sich ein Kräftegleichgewicht auf dem Kontinent, das für die Interessen der kommenden Weltmacht England äußerst günstig war. ↩︎
  96. Zeus teilte sich mit seinen beiden Geschwistern Poseidon und Hades die Welt: Zeus erhielt den Himmel, Poseidon die Meere und Hades die Unterwelt. Daher ist Zeus (bei Voltaire: Jupiter) der Wolkenschieber. Etwa hier im V.Gesang der Odysee: „Ha! wie fürchterlich Zeus den ganzen Himmel in Wolken hüllt…“ ↩︎
  97. Boulanger, Meslier, Fréret und La Mettrie stellt Voltaire weiter unten in eigenen Abschnitten selbst vor.
    Benoît de Maillet (1656-1738), sein Hauptwerk ist Telliamed (1720) , in dem er eine alternative Erklärung zur christlichen Sintflut- und Schöpfungslehre vorlegt und erste tastende Gedanken einer Evolutionstheorie entwickelt.
    Henri de Boulainvillier (1658-1722), war für Voltaire wegen einiger dem Deismus verbundenen Werke zur Religion (so eine Biographie Mohammeds) wichtig. Von Voltaire erschien zeitgleich mit den Lettres sur Rabelais  Le Dîner du comte de Boulainvilliers (1767), ein fiktives Gespräch zwischen Boulainviller, Fréret und dem Jansenisten Bernard Couet, in dem er ihn als Anhänger Spionzas vorstellt.
    Du Marsais, César Chesneau (1696-1756), sein Hauptwerk Examen de la religion chrétienne (1745), s. Anm 84. Voltaire veröffentlichte es (u.a.) zusammen mit einem Auszug aus dem Testament Mesliers, unter dem Namen L’Évangile de la Raison.
    Porphyrios (233-301), Schüler von Plotin, verfasste eine erstaunliche Kritik an den Christen und an deren Bibelglauben (Contra Christianos, Gegen die Christen).
    Celsus (2.Jhdt.), sein Werk Ἀληθὴς λόγος (Wahre Lehre), ist das erste bekannte Werk, das sich explizit gegen das Christentum richtet. Celsius sieht in im Christentum eine ernste Bedrohung für das römische Reich. Eine Sicht, die in Rudolf Bergmeiers Schatten über Europa. Der Untergang der antiken Kultur (2011) als Erklärung für den Untergang Roms fruchtbar gemacht wird.
    Flavius Claudius Julianus (331-363), römischer Kaiser, der als letzter Kaiser die römische Religion gegen das Christentum wieder aufrichten wollte. Er schrieb Gegen die Galiläer, das nur noch aus Zitaten seiner Gegner rekonstruiert werden kann. Voltaire gab 1768 den Discours de l’Empereur Julien contre les chrétiens (siehe Anmerkung 56) heraus. ↩︎
  98. Huber, Marie (1695-1753), frz. Philosophin. Ihr wichtigstes Werk ist Lettres sur la religion essentielle à l’homme, distinguée de ce qui n’en est que l’accessoire, Londres, 1756 (4 Bd). ↩︎
  99. Abbé Huber, Jean Jacques (1699-1744), Schriftsteller, war Befürworter religiöser Toleranz. Von Quentin de la Tour ist von ihm ein berühmtes Porträtbild, Montaigne lesend, erhalten. Den heute vergessenen Lebenslauf von Jean Jacques Huber rekonstruierte 1957 Paul Brazier (Teil1 1957) (Teil2 1959). ↩︎
  100. Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1713-1780), Herzog, war der Aufklärung verbunden. ↩︎
  101. Nach jüdischer Überlieferung offerierte Gott sein Vertragsangebot zur Zeit Noahs (10. Generation nach Adam)  allen Menschen, doch nur das jüdische Volk schlug ein und wurde dadurch zum erwählten. ↩︎
  102. François Des Roches, Defense du Christianisme, ou Preservatif contre un Ouvrage intitulé Lettres Sur La Religion Essentielle à l’Homme, Genève et Lausanne: Bousquet, 1740, 367 p. Pfarrer Des Roches (1701-1769) war es auch, der Voltaire 1755 denunzierte, weil er Theaterstücke aufführte, was im Genf Calvins verboten war (Desnoiresterres, Voltaire aux Délices, p. 122. ↩︎
  103. Barbeyrac, Jean (1674-1744), Rechtshistoriker, Vertreter des Naturrechts. ↩︎
  104. Pufendorf, Samuel von (1632-1694), einflussreicher Rechtshistoriker und Naturrechtler, der in seiner Pflichtenlehre das Recht durch die Vernunft begründen wollte. Barbeyrac kommentierte und übersetzte von ihm (ins Französische)   sein De iure naturae et gentium octo (1672), dt.: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte (1711) zu dem er das von Voltaire erwähnte Vorwort schrieb, das ihn berühmt machte, sowie Pufendorfs  De officio homminis et civis (1673), dt. : Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (1994). ↩︎
  105. Josia, 2,18, Rahab, eine Prostituierte in Jericho, versteckte zwei „Männer von Israel“ und wurd durch das rote Tuch/Seil, das sie als Erkennungszeichen in ihr Fenser hängte, vom Untergang ausgenommen.   ↩︎
  106. Mose, der die Arme ausbreitet: 2. Mose,17,9-13. ↩︎
  107. Die Küsse der Sulamith, aus dem Hohenlied Salomons: Küß mich mit Küssen von Deinem Mund, denn Deine Küsse sind süßer als Wein… ↩︎
  108. Ein Vorwurf, den bereits Pierre Bayle gegen Augustinus erhob (s. seinen Artikel Augustin, Anmerkung H). ↩︎
  109. Kirchenvater Hieronymus (350-420) geriet in heftigen Streit mit Rufius von Aquileia (345-411) und Vigilantius (um 400) um die richtige christliche Lehre;  z.B. ging es um die Reliquienverehrung, die Vigilantius als Götzendienst verdammte. ↩︎
  110. Tertullian (150-220) war einer der ersten Kirchenschriftsteller. Der ganze sich später voll entfaltende Fanatismus dieser Religion war bei ihm schon angelegt. ↩︎
  111. Fréret, Nicolas (1688-1749) war ein renommierter französischer Althistoriker. ↩︎
  112. In dem 1766 unter Frérets Namen erschienenen Examen critique des apologistes de la réligion chrétienne wird die christliche Lehre einer scharfen Kritik unterzogen. Jedoch stammt das Werk nicht von Fréret, sondern von Jean Levesque de Burigny (1692-1785), was Voltaire wahrscheinlich bekannt war. Er stand mit Burigny in Briefkontakt (9 Briefe haben sich erhalten). Vielleicht hat Voltaire das Examen critique, aus dessen Inhalt er in diesem Abschnitt referiert, als Vorsichtsmaßnahme dem bereits verstorbenen Fréret zugeschrieben. ↩︎
  113. Irenäus war ein christlicher Theologe (Kirchenvater) des 2. Jahrhunderts. Das Targum ist eine antike Übersetzung von hebräischen oder altgriechischen Bibel-Handschriften in das Aramäische. Yohannan Hirkanos war ein jüdischer maccabäischer Hohepriester (2. Jhdt v.u.Z), sein dritter Sohn war Alexander Jannäus (126-76), ab 103 bis zu seinem Tod judäischer König. ↩︎
  114. Voltaire trägt die Argumentation aus dem Examen critique (S.9-13) vor. ↩︎
  115. Der christliche Kirchenvater Justin lebte von 100-165, die Autoren vor seiner Zeit zitieren die uns bekannten Evangelien nie. ↩︎
  116. Wenn die Evangelisten erst so spät geschrieben haben, sind die Widersprüche zwischen ihnen verständlich, sie beruhen auf unterschiedlichen mündlichen Überlieferungen, ihre Erzählungen werden dadurch aber unglaubwürdiger. ↩︎
  117. Dieser mohammedanische Einwand findet sich im Examen critique nicht, er stammt von Voltaire und erinnert an einen wichtigen Vorteil des Islam gegenüber dem Christentum: Dass Mohammed gelebt hat, ist sicher. ↩︎
  118. Zu Abbadie s. Anm 40. Voltaire referiert hier die Seiten 21 – 14 des Examen critique ↩︎
  119. Referiert das Kapitel 10 des Examen critique: Sind die Menschen nach dem Erscheinen von Jesus Christus vollkommener?   ↩︎
  120. Voltaire widmet das Kapitel 131 seines Essay sur les moeurs den Wiedertäufern . Seine Haltung zu ihnen ist ambivalent, er kritisiert ihren Fanatismus, mit dem sie für die Gleichheit kämpften. ↩︎
  121. In Kapitel 180 des Essay sur les mœurs berichtet Voltaire, wie es 1649 durch Cromwells Betreiben zur Hinrichtung Charles I. kam. ↩︎
  122. Die Kapitel 135 und 136 des Essay sur les moeurs handeln von der Auseinandersetzung Heinrichs VIII von England mit Papst Clemens VII., ohne dabei Partei für den König („ein Tyrann“) zu ergreifen und zeigt, wie sich durch den Riss in der religiösen Ideologie der Deismus und auch der Atheismus („welcher das Gegenteil des Deismus ist“) Gehör verschaffen konnte. ↩︎
  123. Anspielung auf das Wandlungsritual der kath. Kirche („qui pro vobis et pro multis“), nach dem Jesus Blut für die Teilnehmer am Ritual und für alle anderen vergossen worden sei. Erst ab Mitte des 20. Jahrhundert wird das pro multis – ganz nach Voltaires Vorschlag – einschränkend mit „für viele“ übersetzt. ↩︎
  124. Boulanger, Nicolas Antoine (1722-1759), Historiker und Ingenieur. Er befasste sich mit dem für die wirtschaftliche und militärische Entwicklung wichtigen Straßenbau in Frankreich, war federführend beim Ausbau des Straßennetzes beteiligt. Andererseits verfasste er die  interessante Abhandlung zur Frage, wie es zur Entstehung von äußerst inhumanen Religionen kommt (Recherches sur l’origine du despotisme oriental, 1761), Der Grundgedanke ist, dass alle religiösen Vorstellungen ursprünglich auf Naturkatastrophen zurückzuführen sind, deren Schrecken und Tradition sich von Generation zu Generation weiterverbreitete. Boulangers Werke erschienen fast alle posthum. So war es für d’Holbach ein Leichtes, die Autorschaft an dem von ihm verfassten Le christianisme dévoilé (1761) Boulanger unterzuschieben. ↩︎
  125. Das Christianisme dévoilé erschien wahrscheinlich 1761 unter dem Titel Le christianisme dévoilé, ou examen des principes et des effets de la religion chrétienne : par feu M. Boulanger, Londres, MDCCLVI. Es hat erhebliches Aufsehen erregt. Voltaire rezipierte es ausführlich, in seiner Bibliothek befinden sich 4 Ausgaben des Werkes. In neuerer Zeit versucht man ihm durch Vergessen (die bisher einzige, nicht wieder aufgelegte deutsche Übersetzung stammt aus der DDR: Das entschleierte Christentum, oder Prüfung der Prinzipien und Wirkungen der christlichen Religion.., übers. Fritz-Georg Voigt, Berlin: Aufbau, 1970), oder durch das bestens erprobte Mittel der Langeweile (etwa W. Kellerwessel 2009) beizukommen . Das Werk wird ausführlich in einem eigenen deutschen Wikipediaartikel vorgestellt. ↩︎
  126.  Montesquieu, Charles Louis de Secondat ( 1689-1755), Staatstheoretiker und philosophischer Schriftsteller, Altersgenosse Voltaires. Montesquieu stammte aus dem im Absolutismus so wichtigen Amtsadel (noblesse de robe). Er gilt als Erfinder der staatlichen Gewaltenteilung, obwohl er diese „Erfindung“ von John Locke übernommen hatte. ↩︎
  127. Die Lettres Persanes (1721) [dt. : Montesquieu‘s Persische Briefe, Mit Einl. u. Komm. v. Eduard Bertz, Leipzig: Reclam 1884] waren eine sehr erfolgreiche Publikation und begründeten den Ruhm Montesquieus als Schriftsteller der Aufklärung. Aus der Perspektive zweier persischer Reisender werden die rückständigen Gesellschaftsverhältnisse in Frankreich kritisiert. Montesquieu verkehrte im „club de l’entresol“ (siehe oben, Anm. 91) und war ab 1728 Mitglied der Académie française. Siehe zu den Persischen Briefen auch den entspr. Wikipediaartikel ↩︎
  128. De l’esprit des lois (1748) ist Montesquieus Hauptwerk. Der Titel lautet ausführlich: De l’esprit des lois ou du rapport que les Loix doivent avoir avec la Constitution de chaque Gouvernement, les Moeurs, le Climat, la Religion, le Commerce &c., à quoi l’Auteur a ajouté des recherches nouvelles sur les Loix Romaines touchant les Successions, sur les Loix Françoises et sur les Loix Féodales, Genève :Barrilot, 1748 [dt.: „Vom Geist der Gesetze oder von der Beziehung, welche die Gesetze zur Verfassung einer jeden Regierung, zu den Sitten, zum Klima, der Religion, dem Handel usw. aufweisen müssen, wozu der Autor neue Untersuchungen über die römischen Erbfolgegesetze, die französischen Gesetze und die Lehensgesetze hinzugefügt hat] 1854 übers. von Adolf Elissen (mit den Kommentaren von d’Alembert, Hélvetius). S. auch die digital verfügbare dt. Erstausgabe von 1753.
    Voltaires letztes veröffentlichtes Werk war sein Commentaire sur l‘Ésprit des Lois (1777) [dt.: Kommentar über Montesquieus Werk von den Gesetzen, übers. v. C.L.Paalzow, Berlin: Pauli 1780], in dem er zu Montesquieu deutlich auf Distanz geht. Siehe z.B. seine Auseinandersetzung mit Montesquieus Haltung zum Thema Krieg (Kommentar zum Artikel Krieg des Phil.Wörterbuchs v. 1764). ↩︎
  129. Voltaire publizierte 1771 eine Liste mit den von ihm enteckten Fehlern (Artikel Ésprit des lois) in seinen Questions sur l’Encyclopédie, huitième partie. ↩︎
  130. In den Persischen Briefen findet man nicht unbedingt ein deistisches Konzept. Zur Religion von Montesquieu s. P.Kra: La Réligion dans les pensées de Montesquieu, revue Montesquieu No.7  (2005) ↩︎
  131. Montesquieus l‘Ésprit des lois wurde von katholisch-jansenistischer Seite massiv angegriffen, er gab daraufhin eine Verteidigungsschrift, die Défense de l’ésprit des lois heraus. 1751 wurde das Buch vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Voltaire verteidigte das Werk in seinen Remerciement sincère à un homme charitable (1750), obwohl er viele Fehler entdeckt hatte und nicht immer mit Montesquieu übereinstimmte. Später, in den Idées républicaines (1762), in dem Dialog A. B. C. (1768), schließlich in den Questions sur l’Encyclopédie (1771), dort in den Artikeln Esclaves et Lois, Esprit des lois ging er zu Montesquieu stärker auf Distanz, erklärte jedoch, dass wir ihm für seine Haltung gegen den Fanatismus und gegen die Befürworter der Sklaverei ewigen Dank schulden. (Bibliogr. Vorwort z. Voltaires Commentaire v. Beuchot) ↩︎
  132. La Mettrie, Julien Offray de, (1709-1752), Arzt und Philosoph,verfasste philosophisch-naturwissenschaftliche Werke auf materialistischer Basis („Alles, was existiert, hat einen materiellen – und eben keinen göttlichen – Ursprung“). Friedrich Albert Lange, der ihm in seiner Geschichte des Materialismus (1866) ein eigenes Kapitel widmet (S. 344-376), kommt zu dem Schluss, dass man „in fast allen Fällen, wo wir eine auffallende Ähnlichkeit der Gedanken bei La Mettrie und einem berühmten Zeitgenossen finden, der erstere die unbestrittene Priorität für sich hatte“(S.345). So etwa die Gedanken der prinzipiellen Einheit in der Mannigfaltigkeit der Organismen, der Einheit von Körper und Seele, der analogen physischen Konstruktion von Mensch und Tier und die Ablehnung einer absoluten Moral zugunsten einer Tugendlehre der Selbstliebe und der sinnlichen Lust.  ↩︎
  133. La Mettrie begab sich 1733 nach Leiden, um von dem berühmten Mediziner und Naturwissenschaftler Boerhaave zu lernen. Er übersetzte dessen wichtigsten Schriften erstmals ins Französische, was ihn mit den Pariser Ärzten und deren dogmatischen Kirchenfreunden (Geschlechtskrankheiten als Strafe Gottes…) in Konflikt brachte. Das bekannteste Werk Boerhaavens, seine Institutiones rei medicae [frz.: Institutions De Médecine De Mr. Herman Boerhaave] erschien in der Übersetzung La Mettries 1743 in Paris. ↩︎
  134. La Mettrie veröffentlichte 1745 seine Histoire naturelle de l’Âme [dt.: Naturgeschichte der Seele]. Er beschreibt die Natur als ein sich selbst regulierendes Uhrwerk, das – anders als es etwa Voltaire behauptet – keinen Uhrmachergott benötigt. Dementsprechend kann die Seele auch nicht ohne den Körper überleben und ist nicht unsterblich. La Mettrie musste, nachdem dieses Werk von der Zensur verboten und verbrannt worden war, Frankreich verlassen und floh ins holländische Exil. ↩︎
  135. L’Homme Machine (1748) [Der Mensch eine Maschine (1875)] ist La Mettries Abrechnung mit der Religion, die stets den Menschen als Ebenbild Gottes mystifiziert, während er doch nach denselben körperlichen Mechanismen wie die Tiere funktioniert. Er veröffentlichte die Abhandlung bereits 1747 in Holland. Bernd A. Laska, der sich große Verdienste um die deutsche Veröffentlichung von La Mettries Werk erworben hat, schildert, was danach kam:
    „Holland war zu jener Zeit schon traditionell ein Hort liberaler Praxis. Ein Jahrhundert zuvor hatte Descartes dort fast sein halbes Leben im Exil verbracht, ebenso wie Bayle fünfzig Jahre nach ihm. Jetzt wurden in Holland, da eine Vorzensur nicht stattfand und die Nachzensur relativ grosszügig gehandhabt wurde, verbotene Bücher für ganz Europa gedruckt. La Mettrie, der wieder in Leiden lebte, setzte zunächst seine Polemik gegen ärztliche Scharlatanerie fort: »La faculté vengée« (1747), eine Komödie in drei Akten, nimmt die damalige Pariser medizinische Fakultät aufs Korn. Als nächstes schrieb er in kurzer Zeit und ohne besondere Sorgfalt jenes schmale Buch, das ihn berühmt machen sollte: »L’homme machine«, auf das Jahr 1748 datiert, erschien bereits Ende 1747. Diese relativ kleine Schrift philosophisch-wissenschaftlichen Inhalts ging den sonst so toleranten Holländern jedoch zu weit. Auch in diesem Fall war die anonyme Veröffentlichung nur ein kurzfristiger Schutz, und Élie Luzac, La Mettries Verleger, der seinen Autor Anfang Februar 1748 über die grüne Grenze aus Holland schleuste, schrieb, nur noch auf diese Weise habe er ihn davor bewahren können, ‚wie ein gewöhnlicher Verbrecher auf dem Schaffott zu enden'“. (www.lsr-projekt.de) ↩︎
  136. Friedrich II., der La Mettrie in Preußen vor klerikaler Verfolgung schützte und ihn zum Mitglied seiner Akademie der Wissenschaften machte,  verfasste einen Nachruf in französischer Sprache auf den am 11.11.1751 in Potsdam verstorbenen La Mettrie. ↩︎
  137. Zu Jean Mesliers (1664-1729) existiert ein informativer Artikel bei Wikipedia. ↩︎
  138. Die erste vollständige Ausgabe erschien 1861: Le Testament de Jean Meslier, Amsterdam: Meijer (3 Bd.), die erste deutsche Übersetzung ist: Das Testament des Abbé Meslier, übersetzt v. Angelika Oppenheimer, hrsg. v. Günther Mensching, Frankfurt: SUhrkamp, 1976 ↩︎
  139. Die Pensées (1670) sind eine der wichtigsten Grundlagentexte des jansenistischen Christentums. Es ist eine Textsammlung der Gedanken von Blaise Pascal (1623-1662) der für den christlichen Erbsünde-Glauben einsteht und von der ewigen Verdammnis der Menschen überzeugt ist, die nur durch göttliche Gnade aufgehoben werden kann. Voltaire veröffentlichte im 25. Kapitel seiner Philosophischen Briefe (1728) dazu einen ausführlichen Kommentar. ↩︎
  140. Von Voltaire stammt der Text Extrait des sentiments de Jean Meslier (1762), indem er in der Tat sämtliche atheistische Positionen Mesliers eliminierte, dadurch aber den Namen Mesliers und das geheime, nur als Handschrift zirkulierende Manuskript der Vergessenheit entriss. ↩︎
  141. Siehe Alain Mothu, Le curé de Bonne-Nouvelle et les miracles, in : La lettre clandestine : revue anuelle d’information sur la littérature philosophique clandestine de l’âge classique No. 8, 1999 ↩︎
  142. Lavardin, Hildebert de (1056 – 1133), französischer Theologe, Erzbischof von Tours. Sein Hauptwerk  De querimonia beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Leib und Seele, auf welchen Text sich Voltaire genau bezieht, ist unklar. ↩︎

Aufstieg und Untergang der Vernunft: Hoevels, Fritz Erik, Wie unrecht hatte Marx wirklich? Bd. II, Lüge und Gewalt, Freiburg: Ahriman, 2023, 806 S., Rezension von Rainer Neuhaus

Wenn wir mit dieser Buchempfehlung eine Ausnahme von unserem Prinzip machen, nur Werke zu besprechen, die sich direkt auf Voltaire und die Aufklärung beziehen, so liegt dies an der besonderen Bedeutung dieses Buches für alle, die der Aufklärung nahe stehen.
Hoevels verlässt mit diesem zweiten seines auf drei Bände konzipierten Hauptwerkes die engere ökonomische Marxismustheorie und weitet den Horizont hin zu einer welthistorischen Analyse der Ideologieproduktion, in marxistischer Diktion also des gesellschaftlichen Überbaus.

Vergleicht man das Werk mit dem Essay sur les Moeurs et l‘Esprit des Nations von Voltaire, in dem er dem Einfluss von Religion und Kirche auf unsere Kultur nachgeht, verfolgt Hoevels ein ähnliches Ziel, insbesondere aber das eine, Übersicht zu gewinnen und zu vermitteln über die Funktionsgrundlagen der europäischen Kultur. Und wie schon Voltaire, bezieht er die außereuropäische Kulturgeschichte ein, setzt sie in Bezug zu unserer europäischen, um diese besser verstehen zu können. Denn es ist der Vergleich, der allem wissenschaftlichen Denken den Weg weist.

„Aufstieg und Untergang der Vernunft: Hoevels, Fritz Erik, Wie unrecht hatte Marx wirklich? Bd. II, Lüge und Gewalt, Freiburg: Ahriman, 2023, 806 S., Rezension von Rainer Neuhaus“ weiterlesen