Philosophisches Taschenwörterbuch: Circoncision – Beschneidung (Kommentare)

Wenn auch im Judentum die Beschneidung als ureigenes jüdisches Zeichen der Verbindung Gottes mit Abraham und dessen Nachfahren gesehen wird und die Beschneidungszeremonie, die bereits am 8. Tage nach der Geburt vorgenommen wird, den Bund besiegelt, steht doch infrage, woher dieser Brauch ursprünglich stammt und wie man auf die seltsame Idee kommen konnte bzw. kann, in der Beseitigung der Vorhaut einen heiligen Akt zu erblicken. Allein diese Frage zu stellen, wird im Judentum als Sakrileg und im Islam als Grund angesehen, eine heilige Todesstrafe, die Fatwa, auszusprechen. Wie schwer sich auch angeblich zivilisierte Gesellschaften mit der Beschneidung tun, zeigte sich 2012 in Deutschland bei der öffentlichen Debatte um ein Beschneidungsgesetz Sicher ist, dass die Beschneidung schon lange vor dem Judentum existierte. Psychologisch gesehen besiegelt die Beschneidung die Unterwerfung des Sohnes unter die väterliche Gewalt, der ihm auch das Leben nehmen könnte, sich großzügigerweise aber mit einem kleinen, wenn auch schmerzhaften Opfer begnügt. Näheres zur Geschichte, Praxis der Beschneidung und zum Streit um deren Vor- bzw. Nachteile bringt der Medizinhistoriker David Gollaher, Circumcision, New York: basic books, 2000 [dt: Das verletzte Geschlecht, Berlin: Aufbau 2002]

Hintergrund:
A
. Zur Beschneidung im 18. JhdT:
Eine eigentliche Debatte um die Beschneidung gab es im 18. Jahrhundert nicht. Voltaires Artikel führte allerdings zu einer scharfen Entgegnung des kath. Theologen Nonnotte (s.u.)

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Nonnnotte, Claude Adrien,  Dictionnaire philosophique de la réligion, 1772 (4 vols.). Der kath. Theologe Nonnotte läßt an dem Artikel kein gutes Haar. Nicht zu Unrecht sieht er in Voltaires Zweifeln an der  Ursprünglichkeit des Beschneidungsrituals im Judentum die Erzählung der Bibel vom exklusiven Bund infrage gestellt.
– Calmet, Augustin, Art. Circoncision, in: Dictionnaire Historique, Critique, Chronologique, Geographique Et Litteral De La Bible, Genf 1730 vol. 2
Der Benediktiner-Abt Calmet aus Senones in den Vogesen, einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit, sieht, unter Verweis auf Celcius, Herodot,  dass die B. bereits in Ägypten gebräuchlich war, meint aber, sie sei eher symbolisch vorgenommen und nicht, wie bei den Juden, als verpflichtende Maßnahme für alle, die dem gemeinsamen Glauben folgen, vorgeschrieben worden.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: (S.97,oben, Die Juden sagen, sie seien in Ägypten aus Barmherzigkeit aufgenommen worden): s. Genesis, 47, zu Josephs Hilfeleistung für seine Familie, die unter einer Hungersnot litt.

Anmerkung 2: (S.97, oben, „wem kann man nun den Ursprung dieses Brauchs zuschreiben…?): Ein Basrelief aus Sakkara zeigt, dass die Beschneidung in Ägypten schon 2400 v.u.Z praktiziert wurde, s. Gollahar S. 13 ff., und den Wikipedia Artikel Beschneidung im Alten Ägypten.

Anmerkung 3: (S.97, man musste beschnitten sein, um der Priesterschaft Ägyptens anzugehören): Es liegt nahe, dass die Juden einen Brauch, der unter Ägyptern für die Priesterkaste vorgeschrieben war, für sich als eine Art nachträgliche Genugtuung übernahmen. Vor allem, wenn man der Annahme folgt, dass sie ursprünglich Anhänger von Echnaton und seiner in Ägypten verfolgten monotheistischen Lehre waren (Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion und auch div. Studien v. Jan Assmann).

Anmerkung 4: (S.98, „All das belegt, dass das kleine jüdische Volk trotz seiner Abneigung gegen die große ägyptische Nation…“): Diese Abneigung erinnert an den bekannten Spruch: Die größten Feinde der Elche – waren früher selber welche, einen Gedanken, dem Voltaire allerdings nicht folgt. Die historische Herleitung der jüdischen Bräuche deutet dies zwar an, im 18. Jahrhundert gab es jedoch niemanden, der das Judentum religionsgeschichtlich an die Lehre Echnatons anschloss, wie auch: Da man das Ägyptische vor Champollions Entdeckung des Steins von Rosetta 1822 noch nicht lesen konnte und die Archäologie noch in den Kinderschuhen steckte, waren die Kenntnisse über die ägyptische Geschichte auf die Berichte Herodots (5. Jhdt. v.u.Z.) und anderer Reisender angewiesen. Amarna, die Hauptstadt Echnatons wurde erst im Jahr 1820 entdeckt.

Anmerkung 5: (S.98, 2. Absatz, Die Genesis sagt, dass Abraham schon vorher beschnitten worden war…): So sagt die Genesis es nicht, wohl aber, dass Abraham Ägypten bereiste, bevor er die göttliche Anweisung zur Entfernung der Vorhaut erhielt. Siehe dazu Genesis 17 .

Anmerkung 6: (S. 98 2.Absatz, nicht beschnitten bis zur Zeit Josuas): Josua, Nachfolger Moses und legendärer Heerführer Israels, führte sein Volk ins gelobte Land. Dass die Beschneidung bereits zu Moses Zeiten praktiziert wurde, zeigt Exodus 14.

Anmerkung 7: (S. 100, der Phalluskult bei den Ägyptern): Darüber berichtet Herodot, Historien, II, 44
.