Alzire, eine von den Spaniern gefangene Inkaprinzessin, ist mit dem aus spanischen Gefängnissen entflohenen Inkafürsten Zamore verlobt. Gegen ihren Willen wird sie mit dem gewalttätigen Spanier Gusman verheiratet.
„Alzire ou les Americains, tragédie, Amsterdam 1736, Ledet.“ weiterlesenAuthor: Rainer Neuhaus
Göttliche Kapriolen v. Gérard Biard Charlie Hebdo, 17.10.18, No. 1369), Übersetzung Rainer Neuhaus
Soll man alles den Kindern vermachen? Gewiß nicht. Und noch weniger den Eltern, jedenfalls nicht, wenn es um die Erziehung geht.
Dies ist eine der Lehren, die man einem Bericht von Europe 1 in der letzten Woche über die Zunahme der religiösen Gruppenbildung in den Schulen entnehmen kann, der sich auf einen Informationsdienst des Erziehungsministeriums bezieht.
Da ist die Rede von Kindern, immer jüngeren zumal, die den Inhalt bestimmter Lehrstoffe ablehnen, die sich weigern, Porträts von Menschen zu zeichnen, die sich im Musikunterricht die Ohren zuhalten, die es ablehnen, einem Mädchen die Hand zu geben, die es ablehnen, neben Schweinefleisch essenden Mitschülern zu sitzen; andere werden beleidigt, wenn sie dieses essen, weil sie Muslime sind, sich nicht halal ernähren, Mütter von Schülern einer Grundschule werden beim Verteilen von Flugblättern überrascht, in dem sie die Trennung von Jungen und Mädchen in der Schule fordern. Aber auch verstörende Fälle wie den der Schüler in Troyes, die sich weigerten, ins Schwimmbad zu gehen, weil sie befürchteten, dort gegen die Gebote des Ramadan zu verstossen, wenn sie sich am Badewasser verschluckten. Oder die Schüler einer Einrichtung im Norden Frankreichs, die sich weigerten, ihr Klassenzimmer zu betreten, weil dort die Möbel rot waren, eine Farbe, die, so scheint es, vom Koran als haram – unrein verurteilt wird.
Gleichzeitig lehnten einige Eltern die Teilnahme ihrer Kinder am Unterricht über die Geschichte des Monotheismus ab, wenn es dort um den Islam ging, aus Angst, ihre Kinder könnten dadurch zur Konversion motiviert werden.
Der Informationsdienst ist eine Plattform, die das Erziehungsministerium seit einem Jahr installiert hat, um Fragen von Lehrern aufzunehmen, die sich mit einem Problem konfrontiert sehen, das mit Religion zu tun hat. Dort gehen täglich 30 Meldungen ein. Dabei fallen all jene Fälle unter den Tisch, die die Lehrer gar nicht melden, weil sie keine Schwierigkeiten möchten, oder weil sie nicht noch mehr ‚Öl ins Feuer gießen‘ wollen, oder weil sie es einfach satt haben.
Zwischen April und Juni wurden ungefähr 400 Fälle behandelt, sagt das Erziehungsministerium. Es gebe keine Zunahme bei diesen Fällen, die schon seit längerem erfasst werden, der Obin Bericht von 2004 enthielt sie bereits, allerdings sind sie aggressiver geworden und radikaler.
Als 2004 das Gesetz gegen religiöse Abzeichen in der Schule verabschiedet wurde, meinten seine Gegner, es sei überflüssig und stigmatisierend, weil es nur eine handvoll Schüler beträfe. Sie vertraten damit das Dogma von der ‚vernünftigen Anpassung‘ dem man in Kanada folgt, um verschiedene Identitäten zu respektieren, aufgrund dessen es einem Sikhs-Schüler erlaubt wurde, in der Schule sein rituelles Messer zu tragen. Man kann sich fragen, wie die französischen Schulen heute aussehen würden, wenn man damals auf diese Leute gehört hätte.
Die Gruppenbildung, der Kommunitarismus, nichts als ein anderes, respektableres Wort für Apartheid, trägt nicht dazu bei, eine Gesellschaft zu formen, sondern arbeitet daran, sie in möglichst viele verschiedene Fähnlein aufzuteilen, die sich unausweichlich dann untereinander bekämpfen. Für das friedliche Zusammenleben bedeutet dies das gleiche was der ökonomische Neoliberalismus für eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bedeutet.
Die andere, wichtigere Lehre, die daraus zu ziehen ist, lautet, dass die Religionen in ihrem Anspruch, die soziale und politische Kontrolle auszuüben, niemals nachlassen. und dass der Kern ihres Programms darin besteht, den Obskurantismus zu erhalten oder zurückzuerhalten. Man kann das jedesmal feststellen, wenn der ‚progressive‘ Papst Franziskus seinen göttlichen Mund öffnet um zu verkünden, was er von der Abtreibung hält. Letzte Woche noch hat er Mediziner, die Abtreibungen vornehmen, mit bezahlten Mördern verglichen. Nichts Geringeres.
Die politische Doktrin der Religion ist eine tödliche Krankheit. Und die einzig bisher bekannte Schutzimpfung dagegen ist die Trennung zwischen Kirche und Staat, der Laizismus.
Günther, Horst, Das Erdbeben von Lissabon, Wiesbaden: Corso, 2016, 141 S.
Der Autor, promovierter Philosoph, stellt die Reaktionen auf das Erdbeben vom 1.11.1755, das in Portugal erhebliche Verwüstungen anrichtete und 30.000 Menschen das Leben kostete, in den Mittelpunkt seines bibliophil ansprechend gestalteten Buches, das er bereits 2005 im Fischer Verlag, dort allerdings als einfaches Taschenbuch, veröffentlicht hatte.
Günther gibt zunächst einen guten Überblick über die verschiedenen Positionen, angefangen mit denen der Kirche, die in dem Erdbeben eine Strafe Gottes erblickte bis hin zu denen der Philosophen der Aufklärung, für die es ein willkommener Anlass war, an der Allmacht eines Gottes zu zweifeln, der zehntausende unschuldige Menschen „opferte“ und an dem Konzept von Pope und Leibniz, das Alles, so wie es ist, gut sei.
Im Anschluss daran konzentriert sich der Autor mehr und mehr auf die Voltaire – Rousseau Debatte, wobei er zwischen beiden eine Art Mittelposition einzunehmen sucht, die er dialektisch nennt. Insbesondere legt der Wert auf die Begriffsgeschichte von Optimismus und Pessimismus, eng mit Voltaires Candide verbunden, dessen Inhaltsangabe alleine erstaunliche vier Seiten des Buches füllt.
Günther beschränkt sich zu sehr auf die Ideengeschichte, was den Tiefgang des Textes deutlich einschränkt und einem neuerlichen Interesse an der Theodizee-Debatte nicht förderlich ist. Weder beschäftigt ihn, für wen die einzelnen Protagonisten sprachen, noch bezieht er die Machtverhältnisse im 18. Jahrhundert in seine Analyse ein. Sätze wie dieser: „Die Bewohner des 18. Jahrhunderts begannen, es sich in ihrer Zeit bequem zu machen.“ (7), sind von einer erschreckenden, inhaltslosen Allgemeinheit und kommen in dem Buch leider an zu vielen Stellen vor.
So kommt es, dass er auch den Streit zwischen Voltaire und Rousseau auf eine rein persönliche Ebene reduziert, die Positionen der englischen Aufklärung, von Pierre Bayle und die von Immanuel Kant bunt durcheinandermischt und sogar die Preisfrage der Berliner Akademie zur Position Popes rein unter dem Gesichtspunkt universitär- einflusspolitischen Streitereien vorstellt.
Das mag für Historiker und Philosophen vielleicht interessant sein, reicht aber nicht aus, um ein Publikum, das über diesen engen Leserkreis hinausgeht, anzusprechen. Somit muss das Buch als eine verpasste Gelegenheit angesehen werden. Einzig als Einstieg, will man sich über die einzelnen, in der im Anschluss an das Erdbeben von Lissabon in Europa anhebenden Debatte vertretenen Positionen orientieren, ist es nützlich und informativ.
Die Deutschen und der Orient“ von Joseph Croitoru. Wo die Völker aufeinander schlagen, Tagesspiegel, 16.12.2018 (von Wolfgang Schneider).
Nach seiner Rezension im Deutschlandfunk erneut eine Rezension zum Buch Croitorus von Wolfgang Schneider, jetzt mit ausführlicherer Inhaltsangabe. Auch hier hält er sich mit einer eigenen Wertung angenehm zurück.
„Die Deutschen und der Orient“ von Joseph Croitoru. Wo die Völker aufeinander schlagen, Tagesspiegel, 16.12.2018 (von Wolfgang Schneider).“ weiterlesenBuch der Woche: Abgründig optimistisch – zu Voltaire: Candide oder der Optimismus. Officina ludi. 127 Seiten. 24,80 Euro
Lausitzer Rundschau, 8/9.12.2018 (von Ingrid Hoberg).
Klaus Ensikat, der Illustrator dieser schönen Ausgabe, ist in Finsterwalde aufgewachsen und das liegt in Brandenburg, dem Vertriebsgebiet der Lauitzer Rundschau. Er schuf für diese Candide-Ausgabe 55 aquarellierte Federzeichnungen,
Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amour – Liebe (Kommentare)
Hintergrund:
Der Artikel ist ein Meisterstück Voltaires: Ohne das Christentum auch nur zu erwähnen, grenzt er sich vom ersten bis zum letzten Satz von diesem ab. Will man über die Liebe sprechen, muss man sich zunächst mit der ‚Amour physique“, mit den physischen, physikalischen, körperlichen Gegebenheiten der Liebe, also der Sexualität befassen. Kein Hauch von der ‚platonischen Liebe’, wie sie in das Christentum einging und dort zur höchsten Gottesliebe verfeinert (’sublimiert’) herauskam. Auch die Geschlechtskrankheiten, von der Kirche so oft als ‚Strafe Gottes’ willkommen geheißen, sprechen für Voltaire eher für einen Konstruktionsfehler in dieser besten aller möglichen Welten.
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):
Anmerkung 1 (Seite 30, „Die Liebe brächte noch ein Land von Atheisten dahin, das Göttliche anzubeten“.): Voltaire zitiert mit dem Grafen von Rochester (1647 – 1680) eine sehr umstrittene Persönlichkeit des 17. Jahrhunderts. John Wilmot, Graf von Rochester, war hochtalentierter Poet, Autor zahlreicher erotischer Gedichte und einflussreicher Vertrauter von Charles II. Er starb wahrscheinlich an der Syphilis. Seine Biographie ist in einem Film von J. Malkovitch zu sehen (The Libertine). Das Zitat Voltaires geht auf das Gedicht: „A letter from Artemesia in the town to Chloe in the country“ zurück und lautet im Original:
Love, the most generous passion of the mind,
The softest refuge innocence can find,
The safe director of unguided youth,
Fraught with kind wishes, and secured by truth;
That cordial drop heaven in our cup has thrown
To make the nauseous draught of life go down;
On which one only blessing; God might raise
In lands of atheists, subsidies of praise,
For none did e’er so dull and stupid prove
But felt a god, and blessed his power in love –
This only joy for which poor we were made
Is grown, like play, to be an arrant trade
nach: http://www.ealasaid.com/fan/rochester/main.html
Anmerkung 2 (S. 31, 2. Absatz: Phryne, Lais, Flora, Messalina):
Syphillis ist gerade keine ‚Gottestrafe‘, sonst hätte sie die vier genannten für ihren ausschweifenden Lebenswandel die Krankheit ja unbedingt befallen:
Phryne, berühmte griechische Prostituierte (Hetäre), aus Thespiä gebürtig, hieß eigentlich Mnesarete und erhielt den Namen Phryne („Kröte“) wegen ihrer Blässe; sie war erst eine arme Kapernhändlerin, gelangte dann aber in Athen, wo sie ihre Reize feilbot, zu außerordentliche Reichtum, so daß sie anbieten konnte, die Mauern Thebens auf eigne Kosten wieder aufzubauen, wenn die Thebaner die Inschrift darauf setzten: „Alexander hat sie zerstört, die Hetäre P. wieder aufgebaut“. Ihrem Reiz konnte angeblich niemand widerstehen. Als Phryne wegen Gottlosigkeit vor Gericht gezogen wurde, enthüllte ihr Verteidiger Hypereides ihren schönen Busen und das beeindruckte die Richter dermaßen, daß sie nicht anders konnten, als Phryne freizusprechen.
Lais, Name zweier wegen ihrer Schönheit bewunderter griechischer Hetären, von denen die ältere, aus Korinth, zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs lebte und die Vornehmsten und Reichsten des Staats, sogar Philosophen, wie Aristippos und den Cyniker Diogenes, bezaubert haben soll. Die jüngere L., Tochter der Timandra, der treuen Gefährtin des Alkibiades, geboren zu Hykkara in Sizilien, kam in einem Alter von sieben Jahren nach Korinth, der Sage. nach als Kriegsgefangene. Der Maler Apelles soll sie zur Hetäre herangebildet haben. Später folgte sie einem Hippostratos nach Thessalien, wo sie von Frauen im Heiligtum der Aphrodite gesteinigt worden sein soll.
Flora, die ludi Florales, dieser Göttin der Blumen zu Ehren gefeiert, waren ein fröhliches Fest (28.April – 1.Mai) mit Mimen und lasziven Spielen, bei dem sich die Schauspielerinnen am Ende der Darbietungen entkleideten.
Messalina (25 – 48) heiratete im Alter von 15 Jahren Claudius, der damals bereits 50 Jahre zählte und war eine der begehrtesten Frauen ihrer Zeit. Als sie nach Claudius Krönung im Jahre 41 Kaiserin geworden war, stand der Erfüllung all ihrer zahlreich vorhandenen Begierden nichts mehr im Wege. Und sie strebte danach, nicht eine davon unbefriedigt zu lassen…. (Lit Tacitus TACITE, Annalen, XI, 12, 26-27, 31-32, 37-38 Erich Heller, hrsg. P.C.Tacitus, Annalen, (Sammlung Tusculum), WBG Darmstadt 1982). Siehe zu ihrem Lebenswandel unsere Messalinaseite.
Anmerkung 3 (Seite 31, unten: Francois 1er): Francois I. soll sich die Syphillis von einer Geliebten zugezogen haben, deren Mann, um sich an ihm zu rächen, extra , mit dem Ziel, sich dort anzustecken, Pariser Bordelle besucht haben soll. Er infizierte dann seine Frau, die wiederum den König ansteckte (nach Bayle Dictionnaire, Francois I).
Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amour propre – Eigenliebe (Kommentare)
Hintergrund:
Wie könnte das Christentum die Eigenliebe positiv sehen, wenn es jahrhundertlang den Hass auf die Sexualität predigte, die ihm immer ein Teufelswerk war? Wer könnte die Devise befolgen „Liebe Deinen Nächsten wie die Dich selbst“, wenn ihm sein Körper als satanischer Gegner, als Territorium der Angst erscheint? Wem wäre es möglich, sich selbst zu lieben, ohne die Sexualität dabei einzubeziehen? Konsequent und ehrlich, wie er war, lehnte Blaise Pascal, der große Theoretiker des im 18. Jahrhundert einflussreichen Jansenismus, die Eigenliebe komplett ab. Sie führe unweigerlich dazu, dass man seine Unvollkommenheit, seine Laster und Fehler erkenne und dann, durch Eigenliebe zur Heuchelei getrieben, den Schein der Vollkommenheit aufrechtzuerhalten versuche. Aus der Erkenntnis der eigenen Mängel resultiere Selbsthass und Selbstverleugnung: „Der Mensch ist also nichts als Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl in sich selbst als gegen die anderen“ (Pascal, Gedanken über die Religion…, I. 5, Eitelkeit, Eigenliebe). Ein wahrhaft philosophischer Gedanke!
Voltaire dagegen bekennt sich zu einer Eigenliebe, die für die Genüsse und Freuden des Lebens und sogar für das gute Funktionieren der Gesellschaft die Grundlage darstellt (siehe auch Philosophische Briefe, 25.XI, Bemerkungen über Pascal). Erstaunlich ist, wie Voltaire, Jahrhunderte vor der Psychoanalyse, völlig selbstverständlich erklärt, dass der Kern der Eigenliebe die Sexualität ist, die man genauso wie diese liebt, jedoch verstecken muss.
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):
Anmerkung 1 (Seite 36, 1. Absatz, „Ein Missionar reiste durch Indien und traf auf einen Fakir“): Voltaire baute die Geschichte in seine kleinen Erzählung: „Lettre d’un Turc sur les fakirs (1750)“ (dt. Bababek und die Fakire, in: Sämtliche Romane, übersetzt v. Ilse Lehmann) ein. Auch dort setzt der Fakir auf eine Entschädigung für seine Leiden im Himmel. Es sei daran erinnert, dass die Selbstgeißelung bei den Jesuiten gängige Praxis war. Der erotische Roman Therèse philosophe des Marquis d’Argens, in dessen Haus Voltaire in Potsdam (dem Marquisat) 1751 eine zeitlang lebte, stellte die Verbindung zwischen der Flagellation und der masochistischen Lustbefriedigung, einer sehr irdischen Entschädigung also, explizit her. In Voltaires Erzählung befriedigt den Fakir stattdessen die öffentliche Anerkennung. Was sind Viele bereit zu erdulden, um solcher Belohnungen willen!
Anmerkung 2 (S. 36, 2. Absatz, „Die Eigenliebe ist die Grundlage all unserer Empfindungen und Handlungen“):
An dieser Stelle weist die Voltaire Foundation, Oxford, darauf hin, dass das 18. Jahrhundert mit Voltaire an erster Stelle (und beginnend mit Pope’s Essay on man) die Eigenliebe rehabilitierte. Gegenüber welcher Tradition die Eigenliebe rehabilitiert werden musste, sagen die Voltaire-Spezialisten – wie an vielen anderen Stellen – leider nicht.
Werke zur Philosophie
Ad Fontes: zurück zu den Quellen
Religiösen Ballast abwerfen und zu den Grundlagen der menschlichen Zivilisation vordringen, dies war das Anliegen des Humanismus und der Renaissance. Aus der Kritik des religiös inspirierten Denkens, aus der kritischen Lektüre der Schriften der Antike, der Philosophie Chinas, schöpfte Voltaire die Fundamente eines neuen, aufgeklärten Denkens. Man hat ihm immer wieder vorgeworfen, dass er kein System errichtete – Voltaire hätte dieser Vorwurf nur erheitert, denn er arbeitete wie ein Archäologe, dessen Suchgrabungen dem Ausheben eines wieder zu entdeckenden, lange verschollenen Ortes immer vorhergehen.
Lettres philosophiques 1734
Erstmals publiziert in englischer Sprache als: Letters concerning the English Nation, London 1733 (C.Davis and A.Lyon) und auf Französisch unter dem Titel: Lettres écrites de Londres sur les Anglais et autres sujets, par M.D.V….À Basle [=London] 1734). In seinen Briefen aus England vergleicht Voltaire die politischen und geistig-philosophischen Lebensbedingungen dort mit denen in Frankreich, wobei letzteres recht schlecht abschneidet, was ihm viel Feindschaft in Frankreich eintrug, wo die katholische Kirche das kulturelle Leben im Würgegriff hielt und Adelscliquen in einer Art von Arbeitsteilung Gesellschaft und Ökonomie zugrunde richteten.
Auf einer Extraseite mehr zu den Lettres Philosophiques
dt.: Philosophische Briefe/Briefe aus England
-> Liste von Übersetzungen (hier aufklappen)
Auf Deutsch (Jahr der ersten Ausgabe, ohne Folgeauflagen):Als Einzelausgabe:
o Sammlung verschiedener Briefe des ... die Engelländer und andere Sachen betreffend aus dem Französischen übersetzet und mit einigen Anmerkungen begleitet von N **, Jena: Johann Wilhelm Hartung 1747, 6 Bl, 354 S.,9 Bl (BV-200604 Dieses Werk aufrufen)
o Sammlung verschiedener Briefe des ... die Engelländer und andere Sachen betreffend aus dem Französischen übersetzet und mit einigen Anmerkungen begleitet von N **, Jena: Johann Wilhelm Hartung 1747, 6 Bl, 354 S.,9 Bl (BV-201122)
o Philosophische Briefe, übersetzt von Rudolf von Bitter Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein, 1985, 152 S. (BV-200524)
o Briefe des Herrn Voltaire, Die Engländer und anderes betreffend, Herausgegeben und eingerichtet von Horst Lothar Teweleit, mit acht Radierungen von William Hogarth, Berlin: Eulenspiegel 1987, 127 S. (BV-200798)
In Sammlungen:
o Sammlung verschiedener Briefe des ... die Engelländer und andere Sachen betreffend aus dem Französischen übersetzet und mit einigen Anmerkungen begleitet von N **, Jena: Johann Wilhelm Hartung 1747, 6 Bl, 354 S.,9 Bl (Bd.1, Seite: , (BV-200604)
o Des Herrn von Voltaires vermischte Schriften, hrsg. v. Karl Franz Romanus Bd. 1-6, Dresden 1768-1775 (Walter). (Bd.2, Seite: 205-380, (BV-200298)
o Sammlung verschiedener Briefe des ... die Engelländer und andere Sachen betreffend aus dem Französischen übersetzet und mit einigen Anmerkungen begleitet von N **, Jena: Johann Wilhelm Hartung 1747, 6 Bl, 354 S.,9 Bl (Bd.1, Seite: , (BV-201122)
o Erzählungen, Dialoge, Streitschriften, herausgegeben von Martin Fontius, Berlin [DDR]: Rütten & Loening 1981 (Bd.3, Seite: 5 - 186, (BV-200321)
o Philosophische Briefe, übersetzt von Rudolf von Bitter Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein, 1985, 152 S. (Bd.1, Seite: , (BV-200524)
o Briefe des Herrn Voltaire, Die Engländer und anderes betreffend, Herausgegeben und eingerichtet von Horst Lothar Teweleit, mit acht Radierungen von William Hogarth, Berlin: Eulenspiegel 1987, 127 S. (Bd.1, Seite: , (BV-200798)
o Ein Lesebuch, herausgegeben von Martin Fontius, Berlin und Weimar: Aufbau 1989 (Bd.1, Seite: 13 - 78, (BV-200322)
Elements de la philosophie de Newton 1738
Nach ausführlichen Studien und eigenen Experimenten, die gemeinsam mit Émilie du Châtelet und den Naturwissenschaftlern Clairaut sowie Maupertuis in Cirey durchgeführt wurden, übersetzte zunächst Émilie du Châtelet Newtons Werk. Die “Elements de la Philosophie de Newton” stellen eine popularisierte Version aus der Feder Voltaires dar. Die französische Physik war zu Voltaires Zeit noch stark von theologischen Bevormundungen und Irrtümern geprägt – mit dieser Übersetzung hat Voltaire der experimentellen Wissenschaft gegen spekulative Phantastereien in Frankreich zum Durchbruch verholfen. Die erste Ausgabe erschien ohne die vier letzten Kapitel über das Planetensystem. Erst 1741 erschien in Paris die erste vollständige Ausgabe mit London als Druckortangabe.
dt.: Elemente der Philosophie Newtons
-> Liste von Übersetzungen (hier aufklappen)
Auf Deutsch (Jahr der ersten Ausgabe, ohne Folgeauflagen):Als Einzelausgabe:
o Die Metaphysik des Neuton [Newton] oder Vergleichung der Meinungen des Herrn von Leibnitz und des Neutons von dem Hn. Von Voltaire in Franz. Sprache abgefaßet und ins Deutsche übersetzet von G. C. M. , [= Gottlieb Christian von Moser] Helmstädt: Weygand, 1741, 104 S. (BV-200628 )
o Elemente der Philosophie Newtons, Verteidigung des Newtonianismus, Die Metaphysik des Neuton, herausgegeben von Renate Wahsner und Horst Heino v. Borzeszkowski, Berlin 1996 (de Gruyter ). (BV-200522)
In Sammlungen:
o Die Metaphysik des Neuton [Newton] oder Vergleichung der Meinungen des Herrn von Leibnitz und des Neutons von dem Hn. Von Voltaire in Franz. Sprache abgefaßet und ins Deutsche übersetzet von G. C. M. , [= Gottlieb Christian von Moser] Helmstädt: Weygand, 1741, 104 S. (Bd.1, Seite: , (BV-200628)
o Elemente der Philosophie Newtons, in: Borzeszokowski, H.H, von, Wahsner, R., Newton und Voltaire, Berlin: Akademie, 1980, S. 217 - 290 (nicht: 2.Teil und 3. Teil nur Kap. 1,5) (Bd.1, Seite: , (BV-201079)
o Elemente der Philosophie Newtons, Verteidigung des Newtonianismus, Die Metaphysik des Neuton, herausgegeben von Renate Wahsner und Horst Heino v. Borzeszkowski, Berlin 1996 (de Gruyter ). (Bd.1, Seite: , (BV-200522)
Dictionnaire Philosophique 1764,1765,1767,1769
Das philosophische Wörterbuch ist Voltaires Kampfansage an die christliche Religion und ihre Kirche, es ist die Schrift, in der man Voltaires lebendige Art zu denken am direktesten erleben kann. 1764 als Philosophisches Taschenwörterbuch erschienen, erweiterte es Voltaire bis 1769 zu einem zweibändigen Werk. Im allgemeinen Sinn ‚philosophisch‘ sind folgende Artikel: Âme, Beau, Bien, Tout est bien, Bornes de l’esprit humain, Certain, Corps, Destin, Fin, Folie, Matière, Préjugés, Sensation, Superstition. Näheres in den Inhaltsangaben zu den entsprechenden Artikeln des Philosophischen Taschenwörterbuchs
dt.: Philosophisches Taschenwörterbuch
-> Liste von Übersetzungen (hier aufklappen)
Auf Deutsch (Jahr der ersten Ausgabe, ohne Folgeauflagen):Als Einzelausgabe:
o Voltaire's politische Ideen aus seinen Werken gezogen. Ein Lesebuch für die Bedürfnisse unserer Zeit und Auszüge aus Rousseau von Christian August Fischer, Leipzig Halle: Reinicke 1793, 132 S. (BV-200300 Dieses Werk aufrufen)
o Handbuch der Vernunft, Zusammengestellt von Laurenz Wiedner, Nachwort von Prof. J.R. von Salis, Zürich : Pegasus Verlag Gregor Müller, 1945, 166 S. (BV-200589)
o Abbé, Beichtkind Cartesianer, Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Rudolf Noack, übersetzt von Erich Salewski, Leipzig: Philipp Reclam junior, 1964 (BV-200523)
o Aus dem Philosophischen Wörterbuch, herausgegeben und eingeleitet von Karlheinz Stierle Frankfurt/Main: Insel 1967 (BV-200799)
o 16 Artikel aus dem phil. Taschenwörterbuch, zweisprachig, Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Ulrich Friedrich Müller, München: dtv 1973,111 S. (BV-200800)
o 20 Artikel aus dem phil. Taschenwörterbuch, zweisprachig, Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Ulrich Friedrich Müller, München: dtv 1985 (BV-201016)
o Philosophisches Taschenwörterbuch, Nach der Erstausgabe von 1764 übersetzt von Angelika Oppenheimer, Nachwort von L.Moland, Hrsgg. V. Rainer Bauer, Ditzingen: Philipp Reclam jun., 2020, 444 S. (BV-201208)
In Sammlungen:
o Voltaire, Herausgegeben von W. Schulte vom Brühl, Berlin: Ehbock, 1907, 145 S. (Bd.1, Seite: , (BV-201015)
o Handbuch der Vernunft, Zusammengestellt von Laurenz Wiedner, Nachwort von Prof. J.R. von Salis, Zürich : Pegasus Verlag Gregor Müller, 1945, 166 S. (Bd.1, Seite: , (BV-200589)
o Abbé, Beichtkind Cartesianer, Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Rudolf Noack, übersetzt von Erich Salewski, Leipzig: Philipp Reclam junior, 1964 (Bd.1, Seite: , (BV-200523)
o Aus dem Philosophischen Wörterbuch, herausgegeben und eingeleitet von Karlheinz Stierle Frankfurt/Main: Insel 1967 (Bd.1, Seite: , (BV-200799)
o Kritische und satirische Schriften, übertragen von Karl August Horst, Joachim Thimm und Liselotte Ronte und einem Nachwort von Fritz Schalk, München: Winkler, 1970, 797 S. (Bd.1, Seite: 562 - 743, (BV-200318)
o 16 Artikel aus dem phil. Taschenwörterbuch, zweisprachig, Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Ulrich Friedrich Müller, München: dtv 1973,111 S. (Bd.1, Seite: , (BV-200800)
Idées republicaines 1765
Enthalten Voltaires Auseinandersetzung mit Rousseaus “Contract Social”, wobei er sich an Ungereimtheiten und Fehlern Rousseaus festbeisst, sich den entscheidenden Kern dieses Werkes aber nicht zu eigen macht: ist Rousseau Demokrat, bleibt Voltaire Patrizier. Voltaire ist dabei aber praktischer orientiert als Rousseau, er richtet sich an die Genfer Bürger: zuallerst gehört die Kirche auf ihren Platz, den einer Glaubensgemeinschaft unter mehreren, verwiesen – sie soll die Finger von Staat und Politik lassen. Ein bürgerliches Rechtssystem muss die bürgerlichen Freiheiten, vor allem aber das Recht, seine Gedanken frei zu äußern, garantieren. Gerichtsurteile müssen nach geltenden Gesetzen gesprochen werden, niemand darf ohne Grund verhaftet werden.…Zitat
dt.: Republikanische Ideen
Auf Deutsch (Jahr der ersten Ausgabe, ohne Folgeauflagen):Als Einzelausgabe: keine erschienen
In Sammlungen:
o Republikanische Schriften, herausgegeben und mit einem Nachwort von Günther Mensching, Frankfurt am Main: SYndikat 1978 (Bd.1, Seite: 7 - 32, (BV-200320)
o Erzählungen, Dialoge, Streitschriften, herausgegeben von Martin Fontius, Berlin [DDR]: Rütten & Loening 1981 (Bd.3, Seite: 255 - 279, (BV-200321)
Le philosophe ignorant, 1766
Wer die Meinung vertritt, Voltaire sei kein Philosoph, sollte sich diesen Text zu Gemüte führen. Auf 137 Seiten skizziert Voltaire, worauf das menschliche Wissen beruht, wie man von der sinnlichen Wahrnehmungen zu den Ideen und Begriffen kommt und auf welchen Prinzipien eine humane Gesellschaft aufgebaut sein sollte. Der „unwissende Philosoph“ ist aber auch ein verstörendes Werk, in dem Voltaire sich in nahezu jedem Abschnitt der Frage widmet, ob ein höchstes Wesen existiert. Angesichts der Terrorurteile gegen Sirven und gegen de la Barre unternimmt er eine Art von Standortbestimmung zu der Frage: Mit welchem Recht kritisiere ich das Christentum, was berechtigt mich dazu, ihr wichtigster Kritiker zu sein?
Die Inhaltsbeschreibung auf unserer Extraseite zum Philosophe ignorant lesen.
dt.: Der unwissende Philosoph
Auf Deutsch (Jahr der ersten Ausgabe, ohne Folgeauflagen):Als Einzelausgabe:
o Unwissender Weltweise [übersetzt] von Christian Heinrich W. Wilke 1767 (BV-200729 Dieses Werk aufrufen)
o Der unwissende Philosoph, aus dem Französischen von Voltaire, Berlin, Leipzig [vielmehr Wien]: Mössle, 1785, 176 S., 2 Bl (BV-200730 Dieses Werk aufrufen)
o Voltaire, Der unwissende Philosoph, übers. v. Ulrich Bossier, Nachwort v. Tobias Roth, Ditzingen,: Reclam, 2022, 108 S. (BV-201243)
In Sammlungen:
o Unwissender Weltweise [übersetzt] von Christian Heinrich W. Wilke 1767 (Bd.1, Seite: , (BV-200729)
o Der unwissende Philosoph, aus dem Französischen von Voltaire, Berlin, Leipzig [vielmehr Wien]: Mössle, 1785, 176 S., 2 Bl (Bd.1, Seite: 1-176, (BV-200730)
o Groß-Hoffinger, Anton Johann Geist aus Voltaire's Schriften, sein Leben und Wirken, Stuttgart: Friedrich Brodhag, 1837, 472 S. (Bd.1, Seite: 369 - 377, (BV-201241)
o Kritische und satirische Schriften, übertragen von Karl August Horst, Joachim Thimm und Liselotte Ronte und einem Nachwort von Fritz Schalk, München: Winkler, 1970, 797 S. (Bd.1, Seite: 196 - 256, (BV-200318)
o Erzählungen, Dialoge, Streitschriften, herausgegeben von Martin Fontius, Berlin [DDR]: Rütten & Loening 1981 (Bd.3, Seite: 280 - 339, (BV-200321)
o Voltaire, Der unwissende Philosoph, übers. v. Ulrich Bossier, Nachwort v. Tobias Roth, Ditzingen,: Reclam, 2022, 108 S. (Bd.1, Seite: 5 - 89, (BV-201243)
L`A.B.C. ou dialogues entre A.B.C. 1768
Ein noch heute hochinteressantes Gespräch über die Themen: Von der Seele, Ob ein Mensch böse geboren wird, Vom Naturgesetz und der Neugier, Von der Theokratie, Von den Regierungsarten, Ob das heutige Europa besser ist als das ehemalige, Von Leibeigenen, Von den Geistessklaven, Über die Religion, Vom Kriegsrecht, Vom Recht der Treulosigkeit, Von der besten Gesetzgebung
dt.: Das ABC oder Dialoge zwischen A, B und C
Auf Deutsch (Jahr der ersten Ausgabe, ohne Folgeauflagen):Als Einzelausgabe: keine erschienen
In Sammlungen:
o Des Herrn von Voltaires vermischte Schriften, hrsg. v. Karl Franz Romanus Bd. 1-6, Dresden 1768-1775 (Walter). (Bd.5, Seite: 222 - 225, (BV-200298)
o Sämmtliche Schriften. Übersetzt von Wilhelm Christhelf Sigmund Mylius u.a., 29 Bd. Berlin, (Wever [Sander]) 1786-1794. (Bd.2, Seite: 317 - 502, (BV-200299)
o Groß-Hoffinger, Anton Johann Geist aus Voltaire's Schriften, sein Leben und Wirken, Stuttgart: Friedrich Brodhag, 1837, 472 S. (Bd.1, Seite: 416 - 424, (BV-201241)
o Republikanische Schriften, herausgegeben und mit einem Nachwort von Günther Mensching, Frankfurt am Main: SYndikat 1978 (Bd.1, Seite: 167 - 278, (BV-200320)
o Erzählungen, Dialoge, Streitschriften, herausgegeben von Martin Fontius, Berlin [DDR]: Rütten & Loening 1981 (Bd.2, Seite: 160 - 253, (BV-200321)
Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amour socratique – Sokratische Liebe /Homosexualität – (Kommentare)
Hintergrund:
‚Sokratische‘ Liebe heißt die Homosexualität hier, weil es Sokrates war, der nach Platon in seiner Unterhaltung mit dem jungen Phaidros die Liebe zu diesem rechtfertigt und ebenso in ‚Das Bankett‘ seine Zuneigung zu Alkibiades.
Im 18. Jahrhundert war Homosexualität, noch ganz unter der Fuchtel des Christentums, ein Kapitalverbrechen und wurde, Gott zu gefallen, mit dem Tode bestraft. Jeffry Merrick (Sodomites, Pederasts, and tribades in eigtheen-century France, Pensylvania 2019) schreibt dazu: „In Frankreich, wie in anderen Ländern, reglementierten Kirche und Staat die Sexualität und kriminalisierten nichtfortpflanzungsbezogenen Praktiken – Masturbation, Oral- und Analverkehr innerhalb der Ehe, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Verkehr mit Tieren“. Hier zwei Beispielprozesse, die größere Bekanntheit erlangten:
o 1726 entzog sich Nattier, ein französischer Maler, der drohenden Verbrennung wegen Homosexualität, indem er den Freitod wählte; während Benjamin Deschauffours, ebenfalls verurteilt, wirklich auf dem Scheiterhaufen endete (wobei die Anklage Kinderhandel und –schänderei beinhaltete).
o 1750 wurden Jean Diot und Bron Lenoir im letzten Todesurteil wegen Homosexualität in Frankreich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Wenn Voltaire die Homosexualität auch nicht verteidigte und den Missbrauch von Minderjährigen (die Knabenliebe) verurteilte, war es im Jahr 1725 doch vor allem seinem Engagement zu verdanken, dass ein gewisser Abbé Desfontaines, ein Schriftsteller, den man wegen Homosexualität im Bicêtre, einem ‚Spezialgefängnis für Homosexuelle’, inhaftierte, ohne weitere Folgen aus dem Gefängnis entlassen wurde. In folgenden Werken Voltaires kommen homosexuelle Handlungen vor:
o in Candide, wo Kunegundes Bruder von Bulgaren (d.i.: Preussen) vergewaltigt wird und dann von Jesuiten missbraucht,
o in seiner biographischen Schrift, wo er Friedrich II den Mißbrauch der ihm untergebenen jungen Soldaten anlastet.
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):
Anmerkung 1 (Seite 32, letzter Absatz: „Oft gleicht ein Knabe mit der Frische seines Teints….einem schönen Mädchen. …und wenn mit dem Alter diese Ähnlichkeit verschwunden ist, hat der Fehlgriff ein Ende.“): Sokrates sagt bei Platon das Gegenteil, die Knabenliebe sei die erste Stufe zur Erkenntnis des wahrhaft Schönen, Göttlichen, Sittlichen (Symposium, Die Rede des Sokrates, 209 e 5 ff).
Anmerkung 2 (Seite 34, 1. Absatz Plutarch, Dialog über die Liebe):
Im Kapitel 4 sagt Protogenius: „So ist der einzige echtbürtige Eros der Knaben-Eros“ und der weibliche Eros ist „ein Bastard, der gleichsam einem niederen Stand gehört“. Ihm erwidert Daphnaios, dass die Knabenliebe keinesfalls so rein sei, wie Protogenius behaupte, „Philosophie und Selbstzucht zu pflegen – nach außen, um der guten Sitten willen, aber nachts dann, in aller Stille, erntet er süße Früchte, wenn der Wächter ist fern.“ Und umgekehrt verteidigt er den „ehelichen Eros, der dabei mitwirkt, dem sterblichen Geschlecht Unsterblichkeit zu verleihen“.
Anmerkung 3 (Seite 34, 2. Absatz, „Sextus Empiricus [behauptet], die Knabenliebe sei von den Gesetzen Persiens empfohlen worden“):
Voltaire überspitzt die Aussage. Im Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, I,152. Dort sagt Sextus Empiricus nur, dass bei den Persern die Männerliebe Sitte ist.
Anmerkung 4 (Seite 35, 2. Absatz, „Kaiser Phillipus ..hat alle kleinen Jungen, die diesem Metier nachgingen [Lustknaben], aus Rom verjagt“):
Die Information stammt von Aelius Lampridius Alexandri Severi vita (dt. Die Kaisergeschichte der sechs Schriftsteller Aelius Spartianus, Julius Capitolinus, Aelius Lampridius, Vulcatius Gallicanus, Trebellius Pollio, Flavius Vopiscu). Dort schreibt er, dass Alexander Severus (208 – 235) alles mögliche tat, um die sexuellen Ausschweifungen in Rom in den Griff zu bekommen. Zum Beispiel ließ er die Gelder, die von den Lustknaben als Abgabe zu zahlen waren, öffentlichen Einrichtungen zukommen. Erst Phillipus Arabs (204 – 249) verbot die Lustknaben ganz, was aber dazu führte, so Aelius, dass sich das Laster ins Private verlagerte.
Philosophisches Taschenwörterbuch:
Vertu – Tugend (Kommentare)
Hintergund:
Die Beschäftigung mit der Frage, was Tugend oder tugendhaftes Leben sei, war zur Zeit Voltaires noch sehr stark von der kirchlich theologischen Tugendlehre durchdrungen, die jahrhunderte lang gepredigt und in die Köpfe gehämmert worden war. Die Werke der christlichen Tugendlehre würden meterlange Buchregale füllen, angeführt von Thomas von Aquin (1225-1274), der die christliche Tugendlehre in ein System goss. Auf diese bezieht sich Voltaire, ihren außerweltlichen Tugenden ‚Glaube an Gott, Hoffnung auf Gott, Liebe zu Gott’ setzt er die weltliche Wohltätigkeit entgegen, ein ganz und gar diesseitiger, gesellschaftlicher Begriff, den die große französische Revolution mit ‚fraternité’, ‚Brüderlichkeit’ übersetzte und den wir heute vielleicht am ehesten in den Begriffen ‚Hilfsbereitschaft, Solidarität’ wiederfinden. Aus dem Sprachgebrauch ist der Begriff ‚Tugend’ im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit dem Niedergang des religiösen Einflusses fast vollständig verschwunden. Voltaire und seinen Mitstreitern, die ganz am Anfang dieser Entwicklung standen, haben wir es zu verdanken, dass das Individuum und sein Glücksanspruch, wohl eingebettet in die Gesellschaft, vom religiösen Jenseitsversprechen befreit wurde. Sein Artikel Vertu ist dafür ein erstrangiges Zeugnis und entsprechend heftig waren die Reaktionen seiner Gegner (s.u., Anm 4).
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020)):
Anmerkung 1 (Seite 377 unten: „Dass die Nächstenliebe schwerer wiegt als Glaube und Hoffnung..“):
In einem Brief (13.Februar.1768) an den Grafen Adam Lewenhaupt, einem in Frankreich dienenden Militär aus dem alten schwedischen Adelsgeschlecht der von Lewenhaupt, schreibt Voltaire: „Ich werde mit den drei theologischen Kardinaltugenden sterben, die mich trösten: Den Glauben den ich an die menschliche Vernunft habe, die beginnt, sich in der Welt zu entwickeln; die Hoffnung, dass geschickte und weise Minister endlich gleichermaßen lächerliche wie gefährliche Gewohnheiten zerstören; und die Mildtätigkeit (d.i. die Caritas), die mich über das Los meines Nächsten seufzen macht, seine Ketten beklagen und seine Befreiung erhoffen läßt“. Die Stelle zeigt sehr deutlich, wie Voltaire die christlichen Tugenden Glaube-Hoffnung- Liebe umdreht um sie ‚vom Kopf auf die Füße zu stellen’.
Warum damals ein schwedischer Adliger in französischen Diensten stand und wie damals wie heute imperialistische Politik funktionierte, kann, wer Französisch versteht, in der Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte nachlesen.
Anmerkung 2 (Seite 378, Ergänzung zu Fußnote a, „Der heilige Bruno“):
Der heilige Bruno (1030 in Köln – 1101 in Kalabrien) gründete 1084 mit 6 seiner Begleiter den Karthäuserorden, der seine Mitglieder – extrem asketisch -, zum Fasten, Schweigen, zum Gebet und zur Einsamkeit verpflichtete. Sein Leichnam soll zahlreiche Wunder bewirkt haben, weshalb man ihn als Heiligen verehrte. Da er am 6.Oktober verstorben ist, sagt die Bauernregel: „Sankt Bruno, der Kartäuser, lässt Fliegen in die Häuser“.
Anmerkung 3 (Seite 378, 2. Absatz, „..an jedem Tag tugenhaft waren“):
Nonnotte, ein kaltholischer Theologe, der mehrere Bücher zur Bekämpfung Voltaires verfasste, schrieb in seinem Dictionnaire philosophique de la religion zu Voltaires Aussage über Nero und Alexander VI (wobei er wohlüberlegt den Papst nicht erwähnte): „Wie soll man einen Philosophen ansehen, der derartige Prinzipien aufstellt? Wie einen alten Verrückten.“
Anmerkung 4 (Seite 379, 2. Absatz, „Mein Gott, gib uns oft solche Schelme!“)
Vor allem dieser Artikel des philosophischen Wörterbuchs erregte bei Voltaires Gegnern größte Entrüstung. Gerade der letzte Satz zeige seine Niedertracht (Rochefort); zur Wohltätigkeit müsse der Gottesglaube kommen, sonst sei sie wertlos, giftete Chaudon, Paulian hetzte: „In dem Artikel Vertu hat der Autor des Dictionnaire die größten Niederträchtigkeiten verbreitet“. Der unsägliche Nonnotte kopierte den ganzen Artikel und verfasste eine Gegenschrift. Darin denunziert er die Tugend der Wohltätigkeit, in dem er sie mit einer Prostituierten vergleicht, die den einen ihre Wohltaten verleihe, und den anderen ihre Bedürfnisse befriedige.