250 Jahre Candide – Erste Kritik am autoritären Optimismus – 21.6.2010

Erste Kritik am ‚Optimismus vom Dienst’

250 Jahre Candide

von Rainer Neuhaus

250 Jahre alt und noch immer lebendig: Das hätte sich Ludwig der XV. nicht träumen lassen, als er Voltaires Roman Candide kurz nach seinem Erscheinen Ende Februar 1759 in Frankreich verbieten ließ (in Genf wurde das Werk sogar öffentlich verbrannt).

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Der Antimachiavel Friedrichs II. oder wie sich ein kleiner Verleger gegen den preußischen König durchsetzte

Eine kleine Editionsgeschichte

nach Kees van Strien, Voltaire in Holland 1736-1745, Leuven: Peeters, 2011, 589 S. 

1. Ein Verleger steht zu seinem Auftrag

Von Friedrich vor seiner Thronbesteigung als eine Art Bekenntnis zur Staatsführung im Sinne der Aufklärung verfasst (z.B.: „Es ist demnach die Gerechtigkeit, welche das vornehmste Augenmerk eines Fürsten sein soll; es ist demnach die Wohlfahrt seines Volkes, so er allem anderen Nutzen vorziehen muss„), war ihm sein Antimachiavel nach der Krönung (31. Juni 1740) nicht mehr genehm und er verlangte von Voltaire, das Buch zu unterdrücken. Voltaire hatte sich sehr viel von dem Werk versprochen und viel daran gearbeitet, er versuchte nun im Auftrag Friedrichs den mit der Herausgabe bereits beauftragten Verleger Van Düren (1687 – 1757)* in Den Haag zu überzeugen, von einer Veröffentlichung abzusehen, was sich als schwierig erwies. Van Düren, einer der führenden Verleger Hollands, der auch in Frankfurt und Leipzig ausstellte, weigerte sich  nämlich, die Herausgabe fallenzulassen, denn eine skandalträchtige Veröffentlichung dieses Buches, verfasst von einem frisch gekrönten Haupt, war werbewirksam und gewinnträchtig. Also kündigte er  in der Zeitung s’Gravenhaagse Courant vom 25. 7. 1740 das baldige Erscheinen des Antimachiavels an.

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Was die Kirchen ärgert – Die Verteidigung des Luxus bei Voltaire

Die Debatte über den Luxus

Mandeville verteidigt in seiner berühmten ‚Bienenfabel’ (London 1723) nicht nur den Luxus – er versteht darunter alles, was über das Lebensnotwendige hinausgeht – und bewertet ihn als für die Gesellschaft positiv, denn im Überfluss und nicht im Mangel sieht er den Anstoß für die Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Er verteidigt über den Luxus hinaus sogar die menschlichen ‚Laster‘ überhaupt gegen eine puritanische, genussfeindliche Moral. Es war Voltaires Lebensgefährtin Émilie du Châtelet, die die Bienenfabel erstmalig ins Französische übersetzte.

Luxus, was im Lateinischen ‚Verschwendung, Liederlichkeit‘ bedeutet, hat diesen Makel behalten und bis heute soll man Wohlstand und gutes Leben nur mit einem ordentlich schlechten Gewissen genießen dürfen. Angefangen vom persönlichen Schmuck über erlesene Speisen und alkoholische Getränke bis hin zu sündhaft teuren Fahrzeugen – all dies ist von Übel und wer es begrüßt, ist ein Feind des Volkes und Verschwender. Stattdessen soll man bescheiden leben, den Ertrag seiner Arbeit nützlich anlegen (reinvestieren) und vermehren und nichts im Konsum nutzloser Güter verschwenden. Dass vor solchem Hintergrund auch die Kunst keine positive ‚Weiterführungsprognose‘ besitzt, liegt auf der Hand.

Mme du Châtelet – soviel steht fest – war die Verteidigung des Luxus sympathisch, gehörte sie doch zur Hocharistokratie und besaß reichlich Schmuck und war auch sonst eine ausgesprochene Genießerin und das war Voltaire wiederum sympathisch. Überhaupt verteidigten die französischen Aufklärer in ihrer Glanzzeit den Luxus, jedoch nicht wie Mandeville, der einer bigotten Moral einfach ihr Spiegelbild vorhielt, sondern indem sie zu zeigen versuchten, dass Luxus für die Gesellschaft überhaupt nicht schädlich, sondern sogar besonders nützlich sei. Folgendes waren ihre Positionen:

o Damit sich die Gesellschaft weiterentwickelt, muss mehr hergestellt werden, als man zum puren Leben braucht. Die Ungleichheit der Gesellschaftsmitglieder ist zunächst notwendig, denn sie schafft für einige die Möglichkeit, Kunst und Wissenschaft – Luxus – zu entwickeln und zu genießen, damit aber den Fortschritt für alle erst möglich zu machen.

o Die Gesellschaft sollte versuchen, die Ungleichheit zu reduzieren, denn desto mehr ihrer Mitglieder am Luxus teilhaben können, desto besser für die Gesellschaft und ihre Weiterentwicklung.

o Die Verderbtheit der Sitten resultiert nicht aus dem Luxus, sondern aus der zu großen Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums einer Gesellschaft. Wer das Gegenteil behauptet, verdreht Ursache und Wirkung.

o Selbst der extrem Reiche, der in den Luxus investiert, bewirkt Gutes für die Gesellschaft, denn damit fördert er Kunst und Handwerk, ganz anders, wenn sein Geld in Klöster, Tierparks oder andere, nicht produktiv wirkende Dinge fließt, das erst bedeutet wirkliche Verschwendung.

o Luxus (der Genuss desselben) besänftigt die Seele und die Leidenschaften und veredelt die Umgangsformen. (nach dem Vorwort der Kehler Ausgabe der Werke Voltaires zu Le Mondain)

Natürlich hatte die Monarchie keine Freude an solchen Debatten, die mit dem Luxus begannen, ihn verteidigten, aber sich, indem sie ihn verteidigten, über die Ungleichheit in der Gesellschaft Gedanken machten und schließlich den Luxus gar möglichst Vielen zugänglich machen wollten. Nicht alle sahen das so gelassen wie M. de Melon, ehemals Sekretär beim königlichen Regenten Philippe d’Orléans, der sich in einem Brief über Voltaires Gedicht Le Mondain so äußerte:

M. de MELON A MADAME LA COMTESSE DE VERRUE SUR L’APOLOGIE DU LUXE.

J’ai lu, madame, l’ingénieuse Apologie du luxe; je regarde ce petit ouvrage comme une excellente leçon de politique, cachée sous un badinage agréable. Je me flatte d’avoir démontré, dans mon Essai politique sur le commerce combien ce goût des beaux-arts et cet emploi des richesses, cette âme d’un grand État qu’on nomme luxe, sont nécessaires pour la circulation de l’espèce et pour le maintien de l’industrie; je vous regarde, madame, comme un des grands exemples de cette vérité.Combien de familles de Paris subsistent uniquement par la protection que vous donnez aux arts? Que l’on cesse d’aimer les tableaux, les estampes, les curiosités en toute sorte de genre, voilà vingt mille hommes, au moins, ruinés tout l’un coup dans Paris, et qui sont forcés d’aller chercher de l’emploi chez l’étranger. Il est bon que dans un canton suisse on fasse des lois somptuaires, par la raison qu’il ne faut pas qu’un pauvre vive comme un riche. Quand les Hollandais ont commencé leur commerce, ils avaient besoin d’une extrême frugalité; mais à présent que c’est la nation de l’Europe qui a le plus d’argent, elle a besoin de luxe.

Madame, Ich habe die geschickte Verteidigung des Luxus gelesen, ich halte dieses kleine Werk für eine ausgezeichnete politische Lektion, die sich hinter einem angenehmen Plauderton verbirgt. Ich kann mir schmeicheln, in meinem Essay über die Wirtschaft gezeigt zu haben, wie sehr der Gefallen an den schönen Künsten und der Gebrauch der Reichtümer, diese Seele eines bedeutenden Staatswesens, die man Luxus nennt, notwendig sind für die Kreisläufe des Geldes und zum Erhalt der Wirtschaft; ich betrachte Sie, Madame als eines der großen Beispiele dieser Wahrheit. Wieviele Pariser Familien überleben ausschließlich durch die Unterstützung, die Sie der Kunst gewähren? Würde man aufhören, Gemälde zu lieben, wertvolle Drucke, interessante Gegenstände aller Arten, zwanzigtausend Menschen in Paris wären mit einem Male ruiniert und wären gezwungen, in der Fremde Arbeit zu suchen. Es ist richtig, dass ein schweizer Kanton Gesetze zur Sparsamkeit erließ, denn es kann nicht sein, dass ein Armer wie ein Reicher lebt. Als die Holländer am Anfang ihrer Handelstätigkeit standen, hatten sie eine extrem Genügsamkeit nötig, aber wenn wir es hier mit der Nation in Europa zu tun haben, die am meisten Geld besitzt, braucht sie den Luxus.

Le Mondain –  Das Gedicht zur Verteidigung des Luxus

Voltaire hat dieses Gedicht zur Verteidigung des Luxus geschrieben, als er sich schon im Exil in Cirey sur Blaise befand. Nach Cirey -er lebte dort mit Emilie du Châtelet im Schloß ihres Mannes -war er 1734 geflohen, um sich der Verfolgung zu entziehen, die ihm seine ‚Lettres philosophiques’ zugezogen hatten. In diesem Werk vergleicht und kritisiert er unter anderem die französischen Zustände der Glaubensverfolgung mit der in England praktizierten Toleranz gegenüber Minderheitsreligionen.

Kaum war Voltaires Gedicht erschienen, als es schon abgeschrieben und in den Salons vorgelesen wurde, es zirkulierte in den aufgeklärten Kreisen und provozierte die klerikalen. Alle Veröffentlichungen mussten damals den Stempel des obersten Zensors tragen, ein Amt, das von 1726 bis zu seinem Tod 1743 faktisch der Premierminister Kardinal André-Hercule de Fleury innehatte. Für ‚Le Mondain’ hat Voltaire diesen Stempel allerdings nicht erhalten, stattdessen drohte ihm dafür ein Haftbefehl, was mit seiner Respektlosigkeit gegenüber Adam und Eva zusammenhing, denn es heißt in dem Gedicht über die beiden:

Seide und Gold glänzten für sie nicht,
Bewundert Ihr dafür unsere Vorfahren?
Es fehlte ihnen Handwerk und Wohlstand:
Ist das Tugend? Es war reine Unwissenheit.
Welcher Narr würde, hätte er für eine Weile
ein gutes Bett gehabt, draußen schlafen?
Mein lieber Adam, mein Vielfraß, mein guter Vater
was machtest du im Garten Eden?
Arbeitetest Du für diese einfältige menschliche Rasse
Liebkostest du Frau Eva, meine Mutter?     

Gebt mir zu, dass ihr alle beide
lange Fingernägel hattet, etwas schwarz und schmutzig,
die Haare wenig geordnet,
der Teint gebräunt, die Haut verschmutzt und verwittert.
Ohne Sauberkeit ist die glücklichste Liebe
keine Liebe mehr, sondern ein schändliches Bedürfnis.
Bald ermüdet von ihrem schönen Abenteuer,
speisen sie herrschaftlich unter einer Eiche,
mit Wasser, Hirse und Eicheln;
das Mahl beendet, schlafen sie auf harter Erde:
Dies ist der Zustand der reinen Natur!

Voltaire floh über die nahe Grenze nach Holland, musste dort zwei Monate bleiben, wo er sich im übrigen prächtig amüsierte, denn alle Welt wollte ihn zum Bekannten haben und seine Theaterstücke sehen, außerdem arbeitete er in Amsterdam an der Herausgabe seiner gesammelten Schriften. Nachdem Gras über die Sache gewachsen war, konnte er, einflussreiche Freunde hatten sich für ihn eingesetzt, im Februar 1737 nach Cirey zurückkehren. In dieser Zeit tat sich für ihn auch eine neue Perspektive auf, denn er hatte den ersten Brief eines jungen Mannes erhalten, der später die europäische Geschichte maßgeblich beeinflussen sollte: es war der erste von vielen weiteren, schmeichelnden und lobenden Briefen aus der Feder Friedrich II, damals noch Kronprinz von Preußen, die schließlich Voltaires Übersiedlung nach Berlin in den Jahren 1750-52 bewirkten.

Doch sehen wir zunächst das Gedicht in der Übersetzung aus dem sehr zu empfehlenden Voltaire-Lesebuch von Martin Fontius, es ist eine gereimte Übertragung ins Deutsche, an der man, so flüssig sie auch ist, trotzdem bemängeln muss, daß sie hier und da versucht, Voltaire zu glätten. So übersetzt Fontius den Vers Sans propreté l’amour le plus heureux  N’est plus amour, c’est un besoin honteux flüssig: Wie glücklich auch die Neigung – wo’s gebricht an Reinlichkeit, ist’s Notdurft, Liebe nicht. Doch es heißt bei Voltaire eben nicht Neigung, sondern Liebe und er meint damit kein romantisches Schmachten, sondern körperliche Liebe in drastischer Klarheit: Ohne Sauberkeit ist die glücklichste Liebe keine Liebe mehr, sondern ein schändliches Bedürfnis.  Nur so ist zu verstehen, warum er wegen dieser Passage verfolgt und der Gotteslästerung beschuldigt wurde. Man vergleiche die wörtliche Übersetzung dieses Abschnittes oben mit der entsprechenden (kursiv gedruckt) in der Version von Fontius, er malt eine Schäferidylle, wo Voltaire das sogenannte Paradies mit der Realität eines unzivilisierten Lebens konfrontiert – und karikiert

Regrettera qui veut le bon vieux temps 
Et l’âge d’or, et le règne d’Astrée,  
Et les beaux jours de Saturne et de Rhée, 
Et le jardin de nos premiers parents; 
Moi, je rends grâce à la nature sage
Qui, pour mon bien, m’a fait naître en cet âge
Tant décrié par nos tristes frondeurs
Ce temps profane est tout fait pour mes moeurs.
J’aime le luxe, et même la mollesse,
Tous les plaisirs, les arts de toute espèce,
La propreté, le goût, les ornements:
Tout honnête homme a de tels sentiments
Betraure, wer da will, die gute alte Zeit,
Das goldne Alter und Asträas Walten,
Saturns und Rheas segensreiches Schalten,
Den Garten, dessen Adam sich erfreut.
Ich dank~ der Natur, die weisheitsvoll
Zu meinem Wohl mich jetzt hervorgebracht,
Indieser Zeit, die leidlich gut gemacht:
Den tristen Tadlern gilt sie als frivol,
Doch meiner Lebensart ist sie genehm.
Ich liebe Luxus, üppig und bequem,
Die Künste, das Vergnügen, Reinlichkeit:
Ein jeder Ehrenmann sich daran freut.
il est bien doux pour mon coeur très immonde  
De voir ici l’abondance à la ronde,  
Mère des arts et des heureux travaux,  
Nous apporter, de sa source féconde,  
Et des besoins et des plaisirs nouveaux.  
L’or de la terre et les trésors de l’onde,  
Leurs habitants et les peuples de l’air,  
Tout sert au luxe, aux plaisirs de ce monde.
O le bon temps que ce siècle de fer!
Mein Herz, das freilich unrein, ist entzückt
Vom Überfluß, der uns ringsum beglückt:
Er ist der .Künste Hort, des Schönen Quelle,
Die neue Freuden bringt und Wünsche weckt.
Der Erde Gold und das der Meereswelle,
Was sie bewohnt und was darinnen steckt
Sowie auch alles, was in Küften schwebt –
es dient dem Luxus, des Vergnügens Zweck:
Wie gut es sich im Eisenalter lebt!
Le superflu, chose très nécessaire
A réuni l’un et l’autre hémisphère.  
Voyez-vous pas ces agiles vaisseaux  
Qui, du Texel, de Londres, de Bordeaux,  
S’en vont chercher, par un heureux échange,  
De nouveaux biens, nés aux sources du Gange, 
Tandis qu’au loin, vainqueurs des musulmans, 
Nos vins de France enivrent les sultans?  
Quand la nature était dans son enfance,  
Nos bons aïeux vivaient dans l’ignorance 
Ne connaissant ni le tien ni le mien.
Das Überflüssige, nicht zu entbehren,
Verbindet jetzt die beiden Hemisphären.
Unzählige schnelle Schiffe seht ihr froh
Von Texel abgehn, London und Bordeaux
Um Güter, die von Ganges‘ Ursprung kommen,
Günstig für uns ertauscht, indes die Frommen
Des Mohammed von Frankreichs Wein besiegt
Und mancher Sultan selig trunken liegt.
Voreinst, im Kindesalter der Natur,
Schwant‘ unsern guten Ahnen keine Spur
Von einem Mein, sie wußten nichts vom Dein.
Qu’auraient-ils pu connaître? Ils n’avaient rien, 
Ils étaient nus; et c’est chose très claire
Que qui n’a rien n’a nul partage à faire.
Sobres étaient. Ah! je le crois encore:
Martialo n’est point du siècle d’or.
D’un bon vin frais ou la mousse ou la sève
Ne gratta point le triste gosier d’Ève;
La soie et l’or ne brillaient point chez eux,
Admirez-vous pour cela nos aïeux?
Il leur manquait l’industrie et l’aisance:
Est-ce vertu? c’était pure ignorance.
Quel idiot, s’il avait eu pour lors 
Quelque bon lit, aurait couché dehors? 
Wie konnte es für sie wohl anders sein?
Sie hatten nichts, sie waren nackt; ’s ist klar:
Was sie nicht hatten, nicht zu teilen war.
Sie lebten mäßig, ja, ich glaube heut
Martialo war kein Koch der goldnen Zeit.
Und keines feurig-frischen Weines Schaum 
Letzt‘ je der Eva freudelosen Gaum.
Auch glänzte Seide, Gold den Ahnen nie:
Hegt deshalb ihr Bewunderung für sie?
Von Kunstfleiß, Wohlstand fehlte jede Spur.
Gilt das für Tugend? Ignoranz war’s nur.
Und welcher Narr, wenn er’s gehabt nur hätte,
Schlief damals draußen, nicht in seinem Bette?
Mon cher Adam, mon gourmand, mon bon père
Que faisais-tu dans les jardins d’Éden?
Travaillais-tu pour ce sot genre humain?
Caressais-tu madame Ève, ma mère?
Avouez-moi que vous aviez tous deux
Les ongles longs, un peu noirs et crasseux,
La chevelure un peu mal ordonnée,
Le teint bruni, la peau bise et tannée.
Sans propreté l’amour le plus heureux
N’est plus amour, c’est un besoin honteux. 
Bientôt lassés de leur belle aventure, 
Dessous un chêne ils soupent galamment 
Avec de l’eau, du millet, et du gland; 
Le repas fait, ils dorment sur la dure: 
Voilà l’état de la pure nature.
Mein lieber Adam, guter Vater, was
Tatst du im Garten Eden, Leckermaul?
Zu lieb der dummen Menschheit warst nicht faul? 
Mit Mutter Eva kostest du im Gras? 
Indes gebt zu, die Nägel von euch zwein, 
Sie waren lang, ein wenig schwarz, nicht rein; 
nicht eben wohlgeordnet euer Haar, 
Sonnenverbrannt die Haut und ledern war.
Wie glücklich auch die Neigung – wo’s gebricht 
An Reinlichkeit, ist’s Notdurft, Liebe nicht. 
Des schönen Spieles müde ohne Frage, 
Soupieren unter Eichen sie galant, 
Wo Wasser, Hirse sich zu Eicheln fand; 
Dann schlummern sie am Boden sonder Klage: 
Dies eben ist Natur im Urzustand. 
Or maintenant voulez-vous, mes amis, 
Savoir un peu, dans nos jours tant maudits
Soit à Paris, soit dans Londre, ou dans Rome,
Quel est le train des jours d’un honnête homme?
Entrez chez lui: la foule des beaux-arts, 
Enfants du goût, se montre à vos regards.
De mille mains l’éclatante industrie 
De ces dehors orna la symétrie. 
L’heureux pinceau, le superbe dessin 
Du doux Corrége et du savant Poussin
Sont encadrés dans l’or d’une bordure;
C’est Bouchardonqui fit cette figure,
Et cet argent fut poli par Germain. 
Des Gobelins l’aiguille et la teinture 
Dans ces tapis surpassent la peinture.
Tous ces objets sont vingt fois répétés
Dans des trumeaux tout brillants de clartés. 
De ce salon je vois par la fenêtre, 
Dans des jardins, des myrtes en berceaux;
Je vois jaillir les bondissantes eaux.  
Mais du logis j’entends sortir le maître: 
Un char commode, avec grâces orné,
Par deux chevaux rapidement traîné,  
Paraît aux yeux une maison roulante, 
Moitié dorée, et moitié transparente: 
Nonchalamment je l’y vois promené; 
De deux ressorts la liante souplesse  
Sur le pavé le porte avec mollesse.  
Soll ich euch aber nun, ihr Freunde, sagen,
Wie sich’s in unsern oft verwünschten Tagen
Für einen Ehrenmann gewöhnlich lebet,
Sei’s in Paris, in Rom, in London? Gebet
Die Ehre ihm und tretet in sein Haus:
Der Reichtum schöner Künste füllt es aus;
Die der Geschmack gezeugt. Seine vier Wände
Schmückt der Gewerbefleiß von tausend Händen.
Was ein Correggio schuf, was hochgelehrt
Poussin entwarf, ein goldner Rahmen Iehrt.
Von Bouchardon stammt dieses Standbild hier 
Und von Germain des Silbers Glanz und Zier.
Und mehr als manchen Malers Arbeit wert
Sind Farbe, Zeichnung dieser Teppichpracht,
Im Haus der Gobelins hervorgebracht.
Dies alles leuchtet, funkelt viele Male
Aus klaren Pfeilerspiegeln rings im Saale.
Schau ich durchs -Fenster, seh ich Gärten prangen,
Es schatten Myrtenlauben, Wasser springen.
Ich höre ein Geräusch ans Ohr mir dringen:
Der Hausherr ist soeben ausgegangen.
Zwei Pferde ziehn in schnellem Trab den Wagen,
Der schön geziert, bequem, ich möchte sagen:
Er scheint ein Haus auf Rädern, halb aus Glas,
Vergoldet halb. Es sitzt sich gut darin,
Weich rollt er über hartes Pflaster hin;
Zwei Federn, die geschmeidig, biegsam tragen
Die prächtige Karosse, wirken das.
Il court au bain: les parfums les plus doux  
Rendent sa peau plus fraîche et plus polie 
Le plaisir presse; il vole au rendez-vous  
Chez Camargo, chez Gaussin chez Julie;  
Il est comblé d’amour et de faveurs 
Il faut se rendre à ce palais magique 
Où les beaux vers, la danse, la musique,  
L’art de tromper les yeux par les couleurs,  
L’art plus heureux de séduire les coeurs,  
De cent plaisirs font un plaisir unique.
Er eilt ins Bad: duftende Wasser geben
Mehr Frische seiner Haut. Nun drängt es ihn
Zum Stelldichein: zu Julie fliegt er eben,
Zu der Gaussin und zur Camargo hin.
Liebe und Kunstbeweis verwöhnen ihn
Nun heißt’s, in jenes Zauberschloß sich wenden,
Wo schöne Verse, Tanz, Musik, die Kunst
Des Farbentrugs zum Ganzen sich vollenden
Mit jener bessern: aller Herzen Gunst
Durch edle Schmeichelei sich zuzuwenden.
Il va siffler quelque opéra nouveau 
Ou, malgré lui, court admirer Rameau.  
Allons souper. Que ces brillants services,  
Que ces ragoûts ont pour moi de délices!  
Qu’un cuisinier est un mortel divin!  
Chloris, Églé, me versent de leur main  
D’un vin d’Aï dont la mousse pressée 
De la bouteille avec force élancée,  
Comme un éclair fait voler le bouchon;  
Il part, on rit; il frappe le plafond.  
De ce vin frais l’écume pétillante  
De nos Français est l’image brillante.  
Le lendemain donne d’autres désirs,  
D’autres soupers, et de nouveaux plaisirs.
Dort pfeift er eine neue Oper aus,
Zollt, ob er schon nicht will, Rameau Applaus.
Dann zum Souper. Welch köstliche Ragouts
Auf blinkendem Geschirr: ein Hochgenuß!
Ein Sterblicher, der göttlich, ist der Koch!
Chloris, Aglaia schenken lächelnd ein;
Soeben hielt den Wein der Pfropfen noch,
Jetzt schäumt Champagner ihm ins Glas hinein.
Seht, Freunde, wie ein Blitz der Pfropfen schießt
Zur Decke auf, und alles lacht, genießt.
Es perlt, es schäumt im Glas der kühle Wein:
Recht ein Franzose scheint er mir zu sein.
Und neue Wünsche bringt der Tag darauf,
Neue Soupers und neue Freuden auf.
Or maintenant, monsieur du Télémaque
Vantez-nous bien votre petite Ithaque,  
Votre Salente, et vos murs malheureux,  
Où vos Crétois, tristement vertueux,  
Pauvres d’effet, et riches d’abstinence,  
Manquent de tout pour avoir l’abondance:  
J’admire fort votre style flatteur,  
Et votre prose, encore qu’un peu traînante;  
Mais, mon ami, je consens de grand coeur  
D’être fessé dans vos murs de Salente,  
Si je vais là pour chercher mon bonheur.  
Et vous, jardin de ce premier bonhomme,  
Jardin fameux par le diable et la pomme 
C’est bien en vain que, par l’orgueil séduits,  
Huet, Calmet, dans leur savante audace,  
Du paradis ont recherché la place:  
Le paradis terrestre est où je suis.
Nun, werter Herr, der Telemach erschuf,
Preist Euer kleines Ithaka, den Ruf
Salentos mehrt und jener tristen Mauern, 
Wo Eure tugendreichen Kreter trauern.
Ihr Schwelgen im Verzicht beeindruckt schwerlich:
Sie leiden Mangel ums Die-Fülle-Haben.
Euern gefälligen Stil bewundere ich ehrlich,
Selbst Eurer Prosa zögerliches Traben;
Doch, guter Freund, in eines wi1lige ich:
Verprügeln soll man ohne weitres mich
Dort in Salento, wäre ich so dumm
Und säh mich da nach meinem Glücke um.
Du aber, unsrer ersten Eltern Garten, 
WoApfelbaum und Schlange jene narrten:
Vergebens haben hochgelehrte Leute
Wie Huet und Calmet, vom Stolz verführt,
Dem Ort des Paradieses nachgespürt:
Im Paradies auf Erden leb ich heute.

Kritiker und die Verteidigung des Luxus

Schnell erschienen etliche Gegenschriften, lanciert von klerikalen oder literarischen Gegnern wie die von Priron (L’Anti-Mondain‘), Voltaires begabtem Erzrivalen. Doch Voltaire war schließlich nicht auf den Mund gefallen und verfasste sogleich seine ‚Verteidigung des Mondain’, dessen Anfang hier erstmals in deutscher Sprache wiedergeben wird:

LA DÉFENSE DU MONDAIN POUR RÉPONDRE
AUX CRITIQUES QU’ON AVAIT FAITES DU MONDAIN.

La défense du Mondain

A table hier, par un triste hasard,
J’étais assis près d’un maître cafard,
Lequel me dit: « Vous avez bien la mine
D’aller un jour échauffer la cuisine
De Lucifer;et moi, prédestiné,
Je rirai bien quand vous serez damné
Damné! comment? pourquoi? – Pour vos folies.
Vous avez dit en vos oeuvres non pies,
Dans certain conte en rimes barbouillé,
Qu’au paradis Adam était mouillé Lorsqu’il pleuvait sur notre premier père;
Qu’Ève avec lui buvait de belle eau claire;
Qu’ils avaient même, avant d’être déchus,
La peau tannée et les ongles crochus.
Vous avancez, dans votre folle ivresse,
Prêchant le luxe, et vantant la mollesse,
Qu’il vaut bien mieux (ô blasphèmes maudits!)
Vivre à présent qu’avoir vécu jadis. Par quoi, mon fils, votre muse pollue
Sera rôtie, et c’est chose conclue. »
Disant ces mots, son gosier altéré
humait un vin qui, d’ambre coloré,
Sentait encor la grappe parfumée
Dont fut pour nous la liqueur exprimée.
Un rouge vif enluminait son teint.
Lors je lui dis: « Pour Dieu, monsieur le saint,
Quel est ce vin? d’où vient-il, je vous prie?
D’où l’avez-vous? Il vient de Canarie;
C’est un nectar, un breuvage d’élu:
Dieu nous le donne, et Dieu veut qu’il soit bu.
Et ce café, dont après cinq services
Votre estomac goûte encor les délices?
Par le Seigneur il me fut destiné.
Bon : mais avant que Dieu vous l’ait donné,
Ne faut-il pas que l’humaine industrie
L’aille ravir aux champs de l’Arabie?

Die Verteidigung des Luxus

Gestern zu Tisch, durch einen traurigen Zufall
kam ich neben einem Oberfrömmler zu sitzen,
welcher zu mir sprach: Sie machen mir ganz den Eindruck,
eines Tages in der Küche Luzifers verheizt zu werden
und ich als Auserwählter.
werde lachen, wenn sie verdammt sein werden
– Verdammt? Wie? Weshalb? – Für ihre Narrheiten.
Sie haben in ihren unfrommen Werken gesagt
in irgendeiner schlecht gereimten Erzählung,
dass Adam im Paradies nass wurde, als
es auf unseren ersten Vater herunterregnete,
dass Eva mit ihm gutes klares Wasser trank
dass sie sogar, bevor sie vertrieben wurden,
gegerbte Haut und gebogene Nägel hätten
Sie gehen soweit, in Ihrer verrückten Trunkenheit
Luxus zu predigen und die Weichheit zu loben,
daß es besser sei (Oh verdammte Gotteslästerung!),
heute zu leben, als damals gelebt zu haben.
Deshalb mein Sohn, wird ihre unreine Kunst
geröstet werden, das ist beschlossene Sache
Als er so sprach, benetzte seine trockene Kehle
ein bernsteinfarbener Wein,
der noch nach dem Duft der Traube roch,
aus der für uns der Nektar gepresst wurde.
Ein lebhaftes Rot belebte seinen Teint.
Da sagte ich ihm:        „Bei Gott, Herr Heiliger,
Welcher Wein!, woher kommt der bitte sehr?
Wo haben sie ihn her? – Er kommt von Canarie
es ist eine Nektar, ein auserlesener Tropfen.
Gott gab ihn uns, Gott will, dass er getrunken werde,
— und dieser Café, von dessen Erlesenheit
auch nach fünf Gängen Euren Magen noch gelüstet?
– Vom Herrgott wurde er mir zugedacht
– Gut, aber bevor Gott ihn Euch geben konnte,
musste ihn da nicht menschliche Tätigkeit
den Feldern Arabiens entlocken?

Luxus ist für Voltaire untrennbar verbunden mit Lebensfreude, sinnlichem Genuß und bedeutet nicht den Luxus derjenigen, die ihn als Staussymbol gebrauchen, ohne irgendeinen anderen Gefallen daran zu haben, als sich am Neid ihrer Zeitgenossen zu erfreuen. Luxus ist für Voltaire ein Synonym für ‚zivilisierte Lebensfreude‘ und enthält darüber hinaus das Modell einer Gesellschaft, die nach der Aufklärungsmaxime: ‚das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl‘ gestaltet wäre. Zwar gibt es Lebensfreude auch ohne Zivilisation, ohne Kultur, pure Triebbefriedigung, auch sie soll man nicht verdammen, eine humane Gesellschaft steht ihr keinesfalls negativ gegenüber, sie will sie aber veredeln, verfeinern und kultivieren. Wie aktuell diese Konzeption bis heute ist, wird deutlich, wenn man sie mit den Verzichtsdebatten unseres beginnenden 21. Jahrhundert konfrontiert, wo fast jeder Genuß unter das Verdikt der Gesundheits-, Umwelt- oder Resourcenbelastung gestellt wird. Zieht man nur etwa die düstere Antiraucherkampagne als Beispiel heran, hätte ein an Voltaire orientiertes Verfahren zuallererst die Frage zu beantworten, wie der Lebensgenuß all der Raucherfreunde zu schützen wäre, ohne dabei das Verlangen anderer nach rauchfreien Zonen zu vernachlässigen. Gesellschaftlich schützenswert stünde dabei die Freude am Rauchen gleichbereichtigt neben der Begeisterung für Reinräume unter Nichtrauchern. Es ist sehr zu bedauern, wie sich in solchen Debatten ein seltsames Verständnis von Aufklärung in den Vordergrund schiebt und unter dem Vorwand der Sorge um Volksgesundheit, Kinderschutz, Gesundheitskassen und ihren Kosten das Ziel einer humanen und lebenswerten Gesellschaft zu Grabe getragen wird.

Voltaire ist immer wieder auf das Thema Luxus zurückgekommen, etwa in seinem berühmten Candide, wo er im glücklichen Eldorado die Segnungen des absoluten Luxus vorstellt. und er hat den Luxus zeitlebens – so etwa gegen das ‘Zurück zur Natur’ J. J. Rousseaus – verteidigt, auf dessen Schrift ‚Discours sur l’origine de l’inégalité parmi des hommes’ er am 30. August 1755 brieflich betont polemisch reagierte: “On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes; il prend envie de marcher à quatre pattes quand on lit votre ouvrage.“ und das heißt ungefähr: Man hat noch nie so viel Geist aufgeboten, um uns schweinedumm zu machen, und man hat nicht übel Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man ihr Werk liest“. Rousseau sollte es ihm nie verzeihen.

Anhang:

Voltaire an Cideville am 5. August 1736: (Pierre Robert Cornier de Cideville lebte fast zeitgleich mit Voltaire von 1693 bis 1776 und war sein Klassenkamerad im Pariser Gymnasium Louis le Grand, Poet und später Mitbegründer der Akademie von Rouen), man sieht: ‚Le Mondain‘ wurde von Hand zu Hand weitergericht, eine Veröffentlichung war erst neun Jahre später möglich, versteckt in seiner Werkausgabe bei Ledet in Amsterdam im Jahr 1745.

A M. DE CIDEVILLE.

A Cirey, ce 5 août.

Mon cher ami, on vous a envoyé le Mondain j’envoie une ode à M. de Formont. M. de Formont vous donnera l’ode, et vous lui donnerez le Mondain. Vous voyez, mon aimable Cideville, qu’on fait ce qu’on peut pour vous amuser; tenez-m’en compte, car je suis entre Newton et Émilie. Ce sont deux grands hommes, mais Émilie est bien au-dessus de l’autre. Newton ne savait pas plaire. Vous, qui entendez si bien ce métier-là, comptez que vous devriez venir à Cirey; nous quitterions pour vous les triangles et les courbes, nous ferions des vers, nous parlerions d’Horace, de Tibulle et de vous. V.        

An HerrnM. DE CIDEVILLE.

Zu Cirey, am 5 August

Mein lieber Freund, man hat Ihnen ‘Le Mondain’ zukommen lassen, ich schicke eine Ode an Monsieur de Formont. M.de Formont wird Ihnen diese Ode geben und Sie werden ihm Le Mondain übergeben. Sie sehen, mein lieber Cideville, man tut was man kann um Euch zu amüsieren, rechnen Sie mir das hoch an, denn ich befinde mich zwischen Newton und Emilie. Das sind zwei große Menschen, aber Emilie ist dem anderen deutlich über, Newton wusste nicht zu gefallen. Sie, der Sie dieses Metier so gut beherrschen, rechnen Sie damit, dass Sie nach Cirey kommen müssen, wir werden für Sie die Geodreiecke und die Krümmungsmesser verlassen und wir werden Verse machen, wir werden über Horaz sprechen, von Tibulle und von Ihnen. V.

Literatur:

– Werner Krauss, Cartaud de la Villate, Berlin:Akademie 1960  2 Bd. 230,327S.

– Voltaire, Ein Lesebuch für unser Zeit, herausgegeben von Martin Fontius, Berlin: Aufbau, 1989

– Oeuvres complètes de Voltaire herausgegeben von P. de la Beaumarchais, 70 vols., Kehl: De l’Imprimerie de la Societe Litteraire Typographique, 1784-1789.

– Oeuvres complètes de Voltaire, herausgegeben von Louis Moland, 52 vols, Paris 1877-1885.

Voltaire – ein Antisemit?

Widerlegung scheinheiliger Behauptungen. Ein Essay von Rainer Neuhaus*


Wenn wir aufhören, Voltaire zu ehren,
sind wir für die Freiheit nichts mehr wert
(Will Durant)

Antisemitismus I: Die Aufklärung und ihre Gegner.

Voltaire ist schlecht für König, Kirche, Karitas, Voltaire ist gut für alle, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, lesen und schreiben können und sich kein X für ein U vormachen lassen wollen. Ob es einen Plan gibt, die Aufklärung durch den Antisemitismusvorwurf zu schwächen, oder nicht, das entsprechende Geschrei im Internet und Artikel wie der kürzlich in der Tageszeitung Die Welt (1) erschienene passen jedenfalls recht gut zum Zeitgeist, der aus ‚Antisemitismus’ und ‚Rassismus’ längst eine Waffe geschmiedet hat, die all jene zu spüren bekommen, die es wagen, aufgelegten Lügengespinsten mit eigenen Beobachtungen und Gedanken in den Weg zu treten.

Nicht nur, daß sich, befremdlich genug, mit der bloßen Behauptung, in der Tradition der Opfer des Holocaust zu stehen, Geld verdienen läßt, was vor allem diejenigen trifft, die das Andenken wirklich selbstlos bewahren, darüber hinaus dient sie selbsternannten Gralswächtern dazu, Humanisten, Pazifisten, Antiimperialisten, Antisemiten gleichermaßen zu Judenhassern zu erklären, ganz besonders dann, wenn jemand die Politik Israels und seiner Schutzmacht kritisiert. Auf solche Weise werden kriegerische und menschenfeindliche Motive ideologisch kaschiert und es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeit, um vorhersagen zu können, daß besagte Gralshüter in dem Augenblick zu Israelfeinden mutieren werden, in dem die Schutzmacht ihren Brückenkopf Israel nicht mehr zur Durchsetzung der eigenen Interessen benötigt.

Der Antisemitismusvorwurf gegen Voltaire, d’Holbach, d’Alembert, sogar Diderot, hat schon immer rückwärtsgewandten Kreisen dazu gedient, die Aufklärung an einem ihrer vermeintlich schwachen Punkte zu treffen. Ob es sich dabei um zionistische oder christliche Finsterlinge handelte, immer ging es in solchen Reden und Texten darum, eine unliebsame Lehre anzugreifen, indem man ihre Repräsentanten als moralisch fragwürdig erscheinen lässt, ein Mittel, so alt wie die Menschheit selbst (erinnert sei nur an Aristophanes, der Sokrates eines Manteldiebstahls beschuldigte, um dessen Religionskritik anzugreifen). Was Voltaire betrifft, hat man ihn auch schon einen schwierigen Charakter, geizig und als einen undankbaren Zeitgenossen gescholten, doch jetzt, wo der Antisemitismusvorwurf als Pfeil im Köcher der Mächtigen steckt und die Schriften Voltaires weitgehend unbekannt sind, ist, so steht zu befürchten, der Zeitpunkt günstig, gegen die Aufklärung zum entscheidenden Schlag ‚wegen Antisemitismus’ auszuholen. Sehen wir, was es mit dem angeblichen Antisemitismus Voltaires auf sich hat.

Antisemitismus II: Voltaire, die Juden und die Verfolgung Andersgläubiger.

Francois Marie Voltaire lebte 84 Jahre, von 1694 bis 1778. Im ersten Drittel seines Lebens wohnte er unter seines Vaters Namen ‚Arouet’ in Paris, dann unter seinem selbstgewählten Namen ‚Voltaire’ an wechselnden Orten in Frankreich, den Niederlanden, England und Deutschland, um dann ab 1753 in der vor Verfolgung sicheren Grenzregion um Genf, teils in Frankreich, teils in der Schweiz zu residieren. Erst in seinem Todesjahr 1778 ist er nach Paris zurückgekommen.

In seiner Heimatstadt Paris hat es damals sehr wenig Juden gegeben (einige hundert nur), Voltaire dürfte sie als ‚Gemeinde’ kaum wahrgenommen haben, allerdings kam er in Kontakt zu einigen ihrer herausragenden Mitglieder: er erwähnt zum Beispiel Silva, Leibarzt der Königin, den er schätzte und konsultierte. Judenverfolgungen im engeren Sinne hat es in Frankreich damals nicht gegeben, allerdings versuchte die Obrigkeit in Paris, deren Zuzug zu beschränken und die ansässigen Juden wurden von einem ‚Judenbeauftragten’ drangsaliert, der ihnen das Leben schwer machte und sich selbst nach Kräften an ihnen bereicherte. Nur im fernen Elsaß und in Bordeaux hat es eine bedeutende jüdische Gemeinde gegeben; nach Bordeaux waren zahlreiche portugiesische Juden vor der Inquisition geflüchtet und in den Elsaß sind viele Juden aus Polen gekommen, um sich gegenüber den sehr ärmlichen Verhältnissen dort ein besseres Leben aufzubauen.

Was es im Frankreich zu Lebzeiten Voltaires allerdings immer gegeben hat, war die Verfolgung von Protestanten, den sogenannten Hugenotten, denn 1685 war das seit Henry IV (ihm hat Voltaire ein berühmtes Epos gewidmet) geltende Gebot der religiösen Toleranz, das Edikt von Nantes, aufgehoben worden. Auf die Verfolgung Andersgläubiger seit jeher spezialisiert, konzentrierte sich die katholische Kirche sofort nach der Aufhebung des Toleranzediktes auf die Bekämpfung der Protestanten, setzte für sie Berufsverbote durch, zwang deren wohlhabende Familien, nur katholisches Personal anzustellen und unterdrückte brutal ihre Religionsausübung (wagten sie trotzdem, sich insgeheim zu versammeln, hat man die Prediger gefangengenommen und umgebracht). Es ist also festzustellen, dass sich die Kirche, um mit Voltaire zu sprechen: der Fanatismus, im 18. Jahrhundert in Frankreich auf die christlichen Abweichler konzentrierte und dass er die Juden, vielleicht, weil sie nicht sehr zahlreich waren, nicht im Visier hatte.

Stattdessen gab es aber Versuche, die jüdische Tradition für das Christentum zu beerben und das ging ungefähr so: die Juden waren zu Anfang Gottes auserwähltes Volk, sie haben sich aber schlecht benommen, als sie Christus ablehnten – da war es mit der göttlichen Gnade ganz vorbei. Gott hat sie deshalb verstoßen und seinen Sohn veranlasst, eine eigene Christenpartei zu gründen, deren Mitglieder seitdem seine wahren Parteigänger sind. Die Juden sind solchermaßen die älteren Verwandten der Christen und brauchen bloß zum Christentum überzutreten, um vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Der Theologe, der solches, natürlich mit wohlgesetzten, anderen Worten, vor allem predigte, war der einflussreiche Hofprediger Bossuet, der mit seinem Buch Discours sur l’histoire universelle (1681) dem Thronfolger Ludwig XV. erklärte, daß die Welt in der Geschichte immer perfekter, d.h. immer christlicher geworden sei und daß sie das nur bleiben könne, wenn das Christentum auch weiterhin die Macht ausübe.

Antisemitismus III: Voltaire und die jüdische Religion.

Nur wer diesen Hintergrund kennt, ist in der Lage, Voltaires Haltung zum Judentum zu beurteilen. Voltaire hatte ebenso eine Meinung zur jüdischen Religion, wie er ein Meinung zum christlichen Glauben und zum Islam hatte. Er forderte religiöse Toleranz und erkannte die tödliche Gefahr für die Freiheit, wenn es einer Religion gelingt, sich an die Macht zu schwingen: „Habt ihr bei euch zwei Religionen, werden sie sich die Kehle durchschneiden, habt ihr dreißig, leben sie miteinander in Frieden“.

Außerdem war Voltaire ein entschiedener Gegner aller monotheistischen Offenbarungsreligionen, also der Religionen, die die Auffassung vertreten, dass außer ihren Berufsspezialisten, den Priestern, niemand beurteilen kann, was wahr oder falsch, richtig und gut, schön oder hässlich ist. Was daran liegen soll, daß Gott ihnen und nur ihnen seine Worte (‚die Wahrheit’) übermittelt hat – die soooo schwierig zu interpretieren sind, daß außerhalb der Kirche dieses Geschäft niemand beherrscht. Voltaire kritisierte die Anmaßung, die in allen monotheistischen Offenbarungsreligionen steckt und er erkannte, dass, wer solches glaubt und behauptet, Andersdenkende immer verfolgen wird, wenn er nur erst die Macht dazu besitzt, denn jeder Abweichler ist eine lebende Widerlegung ihres Gründungsmythos mit integriertem Alleinvertretungsanspruch.

Voltaire hat infolgedessen auch das Judentum an vielen Stellen kritisiert: – bei seiner Kritik am Alten Testament und am historischen Judentum, – wenn er nachweist, daß die Behauptung von der Offenbarung den Glauben vom auserwählten Volk Gottes nach sich zog und daraus, ähnlich wie später beim Christentum, Verfolgungsaktionen gegen Andersgläubige hervorgingen, – wenn er das Judentum seiner Zeit als Bastion des Aberglaubens, damit als Gegner der Aufklärung ansieht. Außerdem gibt es (wenige) Briefstellen, die vermuten lassen, daß es bei Voltaire auch Überbleibsel des christlichen Antisemitismus gegeben hat, die auf den alten Vorwurf der ‚Käuflichkeit’ und den der ‚Organisation jüdischer Seilschaften’ zurückgehen. Dagegen hat Voltaire das Judentum immer gegen die Verfolgung durch die katholische Inquisition verteidigt, in seiner bisher noch nie ins Deutsche übersetzten Schrift Sermon du Rabbin Akib (2) hat er alle Argumente zu einer Verteidigungsrede zusammengefasst, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchen können.

Voltaires Kampf für religiöse Toleranz, also für die Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften war ein Kampf gegen den Hauptfeind, gegen die mörderische katholische Kirche und ihre Inquisitionsgerichte. Er bekämpfte sie, die er unter dem Begriff der ‚Infâme’ zusammenfasste, an vielen Fronten. Bekannt geworden sind vor allem die drei spektakulären Kampagnen, in denen Voltaire gegen die Verurteilung Andersdenkender zum Tode für deren Rehabilitation kämpfte. Es handelt sich um das Todesurteil gegen Jean Calas in Toulouse 1762, den die Kirche und ihre Helfershelfer unter fadenscheinigen Anschuldigungen in Toulouse aufs Rad hatte flechten lassen (3), 1764 gegen Jean Paul Sirven, den man, wiederum in Toulouse, wie Jean Calas rädern lassen wollte – Voltaire erreichte seinen Freispruch – und gegen den Chevalier de la Barre, den man am 1.Juli 1766 in Abbéville hingerichtet hat, weil er eine Prozession nicht ehrerbietig gegrüßt hatte. In vielen seiner Theaterstücke zeigte er die Menschenfeindlichkeit der Kirche und ihrer Vertreter, nicht zuletzt deshalb werden sie heute nicht mehr aufgeführt. Er forderte religiöse Toleranz und kritisierte in zahlreichen Schriften, vor allem in seinem Philosophischen Wörterbuch, den christlichen Glauben selbst.

Das war allerdings nur unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen möglich, daher versteckte Voltaire sich selbst in Ferney, der äußersten Ecke Frankreichs und er versteckte seine Kritik, indem er zum Beispiel eine Diskussion um Religionsfragen in China stattfinden ließ, ein Theaterstück zum Fanatismus unter dem Titel Mahomet und nicht etwa unter ‚Paulus’ veröffentlichte und indem er sich das alte Testament, also die Grundlage, das Fundament des Christentums, unter dem Vorwand, die jüdische Religion zu kritisieren, vornahm. Adressat dieser Kritik ist nicht ein zu Voltaires Zeit gar nicht vorhandenes jüdisches Volk, er wendet sich an das Christentum selbst und an seine Vertreter, ihnen weist er nach, wie das Volk Gottes war, dessen göttlich legitimierter Nachfolger sie zu sein behaupten. Gerade daraus versuchen ihm aber heutige Gegner der Aufklärung einen Strick zu drehen. Wer die jüdische Religion – Adressat hin oder her – polemisch und satirisch ins Visier nimmt, hat sich nach diesen heutigen Hofpredigern mitschuldig am Holocaust gemacht. Es ist absurd: gerade Voltaire, dem wir die klare Idee persönlicher Unabhängigkeit, die Forderung der religiösen Toleranz und eine Vorstellung davon, was es heißt, sich für diese Ziele einzusetzen, verdanken, soll ein Antisemit gewesen sein, er, der die entscheidende Schwächung der Inquisition bewirkte? Credo quia absurdum est!

Antisemitismus IV: Ecrasez l’Infâme!


Den Zeitgenossen Voltaires dürfte die Zielrichtung seiner Kritik am Judentum klar gewesen sein, denn sie kannten Stellen wie die folgenden, an denen, tauscht man nur das Wort christlich gegen jüdisch aus, die Mechanik der Maskerade vieler anderer, angeblich ‚antijüdischer’ Stellen klar und deutlich hervortritt: „Ihre unverträgliche, intolerante Sekte wartete [zur Zeit des römischen Reiches] nur darauf, die unumschränkte Freiheit zu besitzen, um dann der übrigen Menschheit die Freiheit zu rauben.“ (319); „Zum Schluß stelle ich fest, daß jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muß.“(Lord Bolingbroke, S. 370); „Möge unser großer Gott, der mich hört, dieser Gott, der gewiß nicht von einer Jungfrau geboren sein kann, noch an einem Kreuz gestorben ist, noch in einem Stück Brot gegessen werden kann, noch die Bücher voll von Widersprüchen und Schrecknissen inspiriert haben kann, möge dieser Gott, der Schöpfer der Welten, Erbarmen haben mit dieser Sekte der Christen, die ihn lästern“ (Sermon des Cinquante).

Voltaires Forderung nach Toleranz für alle Religionen ist in seinem Werk derart präsent, daß die Behauptung des Gegenteils von der finsteren Absicht der Voltairekritiker selbst zeugt. Hierzu nur zwei Textstellen als Beleg: „Ich sage euch, daß man alle Menschen als unsere Brüder anzusehen hat. Was? Mein Bruder der Türke? Mein Bruder der Chinese? Der Jude? Der Siamese? Ja, zweifellos; sind wir nicht alle Kinder desselben Vaters, Wesen desselben Gottes?“ (Traité de la Tolérance); „Es sollten doch die Wortverdreher, die in ihrem eigenen Bereich so viel Nachsicht nötig haben, endlich aufhören diejenigen zu verfolgen und auszulöschen, die als Menschen ihre Brüder und als Juden ihre Väter sind. Jeder diene Gott in der Religion, in die er hineingeboren wurde, ohne seinem Nachbarn das Herz herausreißen zu wollen, durch Streitereien, bei denen niemand den anderen versteht.“ (Sermon du Rabbin Akib).

Und wie lautet die Schlussfolgerung aus alledem? Mit der eigentlich leicht durchschaubaren Antisemitismus-Finte will das Christentum, wollen seine Nachfolger, Voltaire, einen ihrer entschiedensten Kritiker erledigen (dass Islamisten wie Tareq Ramadan beim Erledigen keineswegs abseits stehen, zeigte er 1993 in Genf), um der Aufklärung, um dem selbst denkenden, antiautoritären Menschen den Garaus zu machen.

Die Dreckschleudern gegen die Aufklärung stehen niemals still, haben niemals stillgestanden, und werden nicht stillstehen, jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, an dem Voltaires Schlachtruf, den man heute etwas umfassender, nicht nur im antikirchlichen Sinne verstehen sollte, verwirklicht ist: „Ecrasez l’Infâme“!

*Rainer Neuhaus ist verantwortlicher Redakteur der Voltaire-Internetseiten www.correspondance-voltaire.de, die er im Namen der Voltaire-Stiftung herausgibt.
(1) Die Welt, 27.7.2012.
(2) Die Übersetzung findet man als Anhang des weiterführenden Seiten Voltaire – Juden, Antisemitismus?
(3) Siehe ausführlich zur Affaire Calas

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Canfora, Luciano, Europa, der Westen und die Sklaverei des Kapitals, Köln: PapyRossa, 2018, 107 S.

Canfora

Der italienische Historiker Canfora beschäftigt sich in diesem kleinen Büchlein, das auf Italienisch ‚La sciavitú del capitale’ heißt, mit dem Blick des Westens auf den Rest der Welt, genauer gesagt, unternimmt er einen kleinen Ausflug in die Begriffsgeschichte der Rede von ‚dem Westen’. Wen das Gerede von ‚dem Westen’, der dies oder jenes so oder so sehe, auch schon gestört hat, wird sich aus diesem Text Aufklärung erhoffen und ihn mit Interesse lesen. Allerdings ist es aus unserer Sicht irritierend, daß Canfora ausgerechnet Voltaire an den Beginn eines Kapitels stellt, das sich mit den Anfängen des sogenannten westlichen Blicks beschäftigt, den er mit Rassismus, Kolonialismus und eben auch schiavitú‚ Sklaverei, verknüpft.

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Voltaires Einfluss auf die Musik

Voltaire kannte Rameau bestens und vertrat ganz in seinem Sinne zum Thema ‚Oper‘ den Standpunkt, dass das Theaterstück mit seinem Inhalt im Vordergrund der Oper stehen solle und nicht die Musik, der er eine eher ergänzende Funktion zuschrieb. Voltaire nahm das offenbar nicht allzu streng, denn 1757 ließ er als Zwischenspiel einer Theateraufführung die Opéra buffa ,Die Magd als Herrin‘ von Pergolesi aufführen.

Von Voltaire stammen mehrere Libretti, das erste, Tanis et Zélide, schrieb er 1733 für Brassac von Moncif, es handelt von bösartigen Priestern, die im ägyptischen Memphis die Macht ergreifen und die legitime Monarchie stürzen. Nur durch das Eingreifen von Isis und Osiris können sie aufgehalten werden. Die Vorlage wurde nie vertont, sie scheint Brassac nicht inspiriert zu haben.

Das zweite Libretto, Samson, war im selben Jahr von Rameau bestellt worden und handelt vom aufrechten Samson, der sich gegen die betrügerischen Priester der Philister durchsetzt. Samson wurde von Rameau vertont, man hat die Oper jedoch – die Angriffe gegen Voltaire verhinderten dies – nie aufgeführt. Fast sämtliche Arien verwendete Rameau später in seiner Oper ‚Zoroastre‘. 

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Das Marquisat

Das Marquisat

Skizze des Bauplans (Aquarell nach J.A. Euler 1749)

Das nach dem Marquis d'Argens benannte Marquisat war eine kleine Gartenvilla mit grossem, parkähnlichen Garten vor dem Brandenburger Tor Potsdams.  Das heute nicht mehr existierende Marquisat hatte Prinz Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt (1714-1744), vermutlich nach Plänen von Knobelsdorffs, zwischen 1740 und 1744 errichten lassen. Ein Jahr nach Fertigstellung von Schloss Sanssouci erwarb es Friedrich II und schenkte es seinem Freund, dem Marquis d'Argens. Das Gebäude war einstöckig, hatte nach dem Grundriss einen Eingangssalon und davon abgehend, 2 Zimmer. Man konnte von innen über eine Wendeltreppe auf das Dach gelangen und den wunderschönen Blick über die Havellandschaft geniessen.

Von März bis August 1751 wohnte Voltaire im Marquisat. Er hatte sich mit Friedrich in der Staatsanleihen-Affäre überworfen und nutzte das Marquisat als Rückzugsort, fussläufig zu den königlichen Schlössern.

Hier die Lage des Marquisats (roter Pfeil) an der Havel, neben dem Dampfhaus im türkischen Stil ('Moschee') auf dem zugegeben unscharfen Stadtplan von Potsdam - in Luftlinie zum Schloss dürften es ca. 1,5 km sein:

Links/Sekundärliteratur zum Marquisat

(wir bedanken uns bei Frau Gabriele Fairon für die wertvollen Hinweise zur Geschichte des Marquisat)

o Seligo, Das Marquisat in der Brandenburger Vorstadt von Potsdam, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, Nr.89 LXXXIX (1866), S.80-- 91

o Ausstellungskatalog Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff : 1699 – 1753, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Berlin-Brandenburg 1999, S. 107ff

o Hohenstein, Erhart, 3 teilige Artikelserie zum Marquisat 1994 Potsdamer neue Nachrichten, 23.12.,31.12.1994, 6.1.1995 und ders., 'Lessing ist sieben Wochen in Potsdam gewesen',

o Wernicke, Thomas, 'Marquisat' an der Havelbucht, Märkische Volksstimme, 21.11.1987

Kurze Geschichte des Marquisat

Ausschnitt aus einem Ölgemälde von Dubois 1747, Schloss Sanssouci. Links außen sieht man das Marquisat

Die Brandenburger Vorstadt, wo das Marquisat lag, war im 18. Jahrhundert eine idyllische Gartenlandschaft, bis dann Ende des Jahrhunderts das Gelände durch seine Nähe zur Havel für Manufakturen und Industrieunternehmen interessant wurde. Aus Urkunden diverser Kaufverträge erhält man zu den Anfängen des Marquisats folgende Daten (Seligo,Mitteilungen)

19.September 1748 Markgraf Karl tauscht seinen Garten mit Friedrich II gegen einen Zug preußischer Pferde, 1.Oktober 1748 Friedrich II schenkt den Garten dem Marqis d'Argens zur freien Verfügung, 26.September 1749 verschenkt d'Argens einen Teil des Grundstücks an den Windmüller Stolpe ,27.Mai 1750 Baurechnung deutet auf Umbaumaßnahmen am Marquisat hin, vielleicht die zweiflügelige Erweiterung, über d'Argens in einem Brief berichtet, 9.Juni 1752 Marquis d'Argens verkauft das restliche Grundstück an den Kabinettsrat Eichel, 25.März.1768 Leinwandfabrikant Fischer erwirbt von Kabinettsrat Eichel den Garten mit Wohnhaus für 4500 Thaler.

Marquis d'Argens hat das Gebäude also schon 4 Jahre nach der Schenkung wieder abgegeben. Er schreibt in seinen Memoiren, die eine Veröffentlichung in deutscher Sprache mindestens ebenso verdient hätten, wie die Casanovas, dass Friedrich die Wände in den Räumen vor der Übergabe an d'Argens mit Szenen aus dessen Leben dekorieren liess, um ihn zu verspotten. Vielleicht hat d'Argens das Gebäude deshalb schon nach vier Jahren wieder verkauft - wahrscheinlicher ist, daß es an der insgesamt problematischen Beziehung zu Friedrich lag, von dem d'Argens finanziell vollkommen abhängig war.

Über den Aufenthalt Voltaires vom 6. März 1751 bis Ende Juli wissen wir einiges aus seinen Briefen. Ihm scheint es dort einerseits ganz gut gefallen zu haben, denn die Abgeschiedenheit lässt ihm Raum für die Arbeit an seinem Werk Le siècle de Louis XIV und für ein wenig Privatleben. Andererseits ist ihm klar, daß die Lage gefährlich werden könnte, wenn er Friedrichs Gunst nicht wiedererlangte. Deshalb gibt es aus dieser Zeit äußerst unwürdige und kriecherische Briefe von Voltaire an den König. Ansonsten kümmert sich Voltaire um die Angelegenheiten der Comtesse de Bentinck, die man nach ihrer Scheidung um Hab und Gut gebracht hat.

Das Marquisat nach 1945

Nach 1945 stand an der Stelle des Marquisats ein großes Wohnhaus und zu DDR Zeiten erinnerten, zumindest bis zum Abriss des Gebäudes, zwei Gedenktafeln an die berühmten Bewohner, Lessing und Voltaire. Man kann die Tafeln auf dem Photo hier ganz gut erkennen (Märkische Volksstimme,1987):

Im April 1975 wird das Gelände am Havelufer einer umfangreichen Neugestaltung unterzogen. Das Haus mit den beiden Gedenktafeln wird abgerissen, an die Stelle der alten Bebauung soll ein Park und eine große Wohnanlage an der Leninallee/Werner Külzstrasse kommen. 1978 war die Neugestaltung abgeschlossen. Bis das fertig geplante Marquisat-Denkmal aufgestellt wurde, dauerte es bis 1991, nur die Strassen hiessen jetzt Zeppelinstrasse und Breite Strasse.

In einer hübsch angelegten Ecke des Parks erinnerten jetzt zwei Säulen mit zwei darauf montierten Bronzetafeln (man sieht sie gut auf dem Photo, das uns der Potsdamer Künstler Rainer Sperl freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat) an das früher hier stehende Marquisat und an die beiden berühmten Bewohner.

Kurze Zeit später wurde das Denkmal von Unbekannten beschmiert und verwüstet. Seitdem warten die beiden Säulen und der verwaiste Platz auf die gesäuberten oder erneuerten Tafeln. 20 Jahre danach hat es beim Kulturamt der Stadt noch niemand für nötig befunden, hier zumindest den früheren Zustand wieder herzustellen. Ein Zeitungsartikel in den Potsdamer Neuesten Nachrichten zu diesem Thema aus dem Jahr 1995 wies bereits auf den Missstand hin und zeigte ein Photo des geschändeten Denkmals:

Marquisat Denkmal zerstörtDie abgerissenen Bronzetafeln müsse man wohl in der Havelbucht suchen, meint der Autor Ehrhart Hohenstein am Ende seiner informativen 4 teiligen Artikelserie über die Geschichte des Marquisat und seiner Bewohner. Und: "Das Andenken Voltaires wird in seinem einstigen Aufenthaltsort immer noch recht stiefmütterlich behandelt". Daran hat sich bis heute (2015) nichts geändert.

Frühjahr 2023
Durch Zufall haben wir entdeckt, dass das Denkmal beim Marquisat restauriert und wieder hergestellt wurde. Zwar ist es Lessing-lastig (Miss Sara Sampson als Hardcopy liegt auf einer Bank, für Voltaire sollen Tintenfass und Feder stehen), aber trotzdem: Es ist ein Grund zur Freude, die beiden Widersacher der Aufklärung jetzt wieder am Havelstrand vereint zu sehen:
Und schon hat sich auf Lessings Sampson ein Schmutzfink verewigt.....

Vaux

Voltaire in Vaux-le-Vicomte

Madame de Villars, Ausschnitt Gemälde in Vaux-le-Vicomte

Vaux-le-Vicomte war - und ist - eines der schönsten Schlösser Frankreichs. Es liegt in Melun, ganz in der Nähe von Paris und wurde vom Architekten Le Vau, dem Dekorateur Le Brun und dem Landschaftgärtner Le Nôtre, jeder ein Meister seines Fachs, für Fouquet, Finanzminister, damals der zweitmächtigste Mann  Frankreichs, erbaut (1641).
Fouquet schöpfte aus dem Vollen - seine Phantasien von Macht und Schönheit, Natur und Eleganz, Luxus und Geometrie - hier in Vaux hat er sie verewigt.
Am 17.8.1661 feierte Fouquet (1615 1680) ein Einweihungsfest mit 600 Gästen, zu Ehren Ludwigs XIV. natürlich. Die Einweihungsfeiern stellten die Feste des Königs weit in den Schatten - ein grober Fehler Fouquets. Kurz danach wurde er verhaftet. Der Prozess wegen Veruntreuung von Staatsgeldern dauerte 3 Jahre und endete mit Fouquets Verurteilung zu lebenslanger Verbannung . Ludwig XIV intervenierte - es war das einzige Mal in der Geschichte der französischen Monarchie - um das Urteil zu lebenslanger Haft zu verschärfen. Das Urteil wurde vollstreckt und Fouquet blieb bis zu seinem Tode in Pignerol eingekerkert.

Für Voltaire war Vaux-le-Vicomte der Ort einer großen Liebe. Hier lebte und liebte nämlich Madame de Villars, eine lebenslustige und hochgebildete, dazu attraktive, sich ihrer Reize sehr bewusste Frau des Hochadels. Sie erkannte in Voltaire, vielleicht als erste, den großen Dichter - aber nicht den sie begehrenden jungen Mann.

 

Vaux-Villars - große Liebe

1719
Madame de Villars, Jeanne Angélique Roque de Varengeville (1682 - 1763) stammte aus einer begüterten Diplomatenfamilie, heiratete 1702 einen der ranghöchsten Militärs Frankreichs, den Maréchal und späteren Grafen von Villars. Sie war reich, gebildet und schön. Die erste Tugend interessierte vor allem ihren um 30 Jahre älteren Gatten, die zweite schätzte er, die dritte war ihm weniger wichtig, er interessierte sich, ebenso wie sie, eher für Männer.

Die 37 jährige Mareschallin wickelte den jungen Voltaire jedenfalls mit Leichtigkeit um den Finger, ohne ihn an sich herankommen zu lassen. Folglich war er unglücklich verliebt. Und trotzdem hat ihn in dieser misslichen Lage sein Humor, wie das folgende Gedicht zu Ehren der Frau von Villars zeigt, nicht verlassen:

Divinité que le ciel fit pour plaire,
Vous qu’il orna des charmes les plus doux,
Vous que l’Amour prend toujours pour sa mère,
Quoiqu’il sait bien que Mars est votre époux;
Qu’avec regret je me vois loin de vous!
Et quand Sully quittera ce rivage,
Où je devrais, solitaire et sauvage,
Loin de vos yeux vivre jusqu’au cercueil,
Qu’avec plaisir, peut-être trop peu sage,
J’irai chez vous, sur les bords de l’Arcueil,
Vous adresser mes voeux et mon hommage!

C’est là que je dirai tout ce que vos beautés
Inspirent de tendresse à ma muse éperdue:
Les arbres de Villars en seront enchantés,
Mais vous n’en serez point émue.
N’importe: c’est assez pour moi de votre vue,
Et je suis trop heureux si jamais l’univers
Peut apprendre un jour dans mes vers
Combien pour vos amis vous êtes adorable,
Combien vous haïssez les manèges des cours,
Vos bontés, vos vertus, ce charme inexprimable
Qui, comme dans vos yeux, règne en tous vos discours
L’avenir quelque jour, en lisant cet ouvrage,
Puisqu’il est fait pour vous, en chérira les traits:
Cet auteur, dira-t-on, qui peignit tant d’attraits,
N’eut jamais d’eux pour son partage
Que de petits soupers où l’on buvait très frais;
Mais il mérita davantage.

 
Göttliche, vom Himmel geschaffen, um zu gefallen
Ihr, die er mit zartester Anmut bekränzt,
Ihr, die Amor stets zur Mutter erwählte,
Obwohl er wohl weiß, daß Mars Ihr Gemahl ist;
Mit Bedauern sehe ich mich so weit von Ihnen,
Und wenn Sully diese Gestaden verlassen wird,
An denen ich leben muß, einsam und verlassen,
Weit von Euren Blicken, bis hin zum Grab,
Mit Vergnügen werde ich, vielleicht sehr unklug,
Zu Euch kommen, an die Ufer der Arcueil,
Um Euch meine Wünsche und meine Huldigung zu entbieten!
Da werde ich erklären, wie sehr Eure Schönheit
Meine entfesselte Muse mit Zärtlichkeit erfüllt:
Das wird die Bäume von Villars entzücken,
Ihr aber werdet empfindungslos sein.
Was soll's: mir soll es genügen, Euch zu sehen;
Und ich bin überglücklich wenn die Welt
Eines Tages durch meine Verse erfährt,
Wie sehr Ihre Freunde Sie bewundert haben,
Wie sehr Ihr die Manege des Hofes hasstet,
Wie Eure Wohtaten, Eure Tugenden, diese Unausprechliche Anmut, Eure Blicke wie
Eure Worte bestimmten.
Liest man in der Zukunft dieses Werk, wird man,
Da für Euch gemacht. jene Wesenszüge lieben:
Hat dieser Autor, wird man sagen, nun so viele Vorzüge beschrieben,
Doch niemals hatte er mehr davon für sich als
Nette Soupers wo man sehr kalte Getränke trank;
Aber verdient hätte er mehr.

 

Ein Besuch in Vaux (2006)

Heute ist die riesige Schlossanlage ein Tourismusmagnet - mit allen Vor- und Nachteilen. Von Paris aus recht einfach zu erreichen, man fährt nur 30 Minuten bis nach Melun, zieht es vor allem am Wochenende zahlreiche Besucher hierher. Außer den sehr gut erhaltenen Schlossräumen und dem Park gibt es ein Kutschenmuseum mit Exemplaren aus drei Jahrhunderten, hier kann man den technischen Fortschritt auf dem Gebiet des Transportes sehr gut nachvollziehen - so hatte man zum Beispiel erst Ende des 17. Jahrhundert entdeckt, dass Gespanne besser um die Kurven kommen, wenn die Vorderräder kleiner als die Hinterräder sind und weitere 100 Jahre mussten vergehen, bevor man eine einigermaßen brauchbare Federung besaß- armer Voltaire! Auch der unheimlichen Geschichte des Mannes mit der eisernen Maske (-> A.Dumas) wird Referenz erwiesen, denn es geht das Gerücht, dass es Fouquet, der Erbauer von Vaux-le-Vicomte, war, der in dunklen Verliesen, eine eiserne Maske fest um den Kopf geschmiedet, die letzten Jahre seines Lebens zubringen musste.

Bildergalerie

 

Zugang Schloss

Brücke

Königszimmer 1

Königszimmer 2

Königszimmer 3

Speisezimmer

Schloss Toilette

Schloss Terrasse

Park 1

Park 2

Park 3

Kutsche 1

Kutsche 2

Kutsche 3

nach oben

Sully

Voltaire im Château de Sully

Das Chateau de Sully, 1102 erstmals erwähnt, war der zu Beginn des 17. Jahrhunderts prunkvoll im Stil der Renaissance erweiterte Landsitz des calvinistischen Adelsgeschlechts der Grafen von Sully. Der erste Graf, Maximilian de Bethune, genannt 'der große Sully' (1560-1641) war Weggefährte Heinrichs IV, zu dessen Ehren Voltaire sein berühmtes Epos, die Henriade, schrieb, in der natürlich auch von Sully die Rede war. Mit seinem Nachfahren in 4.Generation, Maximilian Henri de Bethune, Duc de Sully, war Voltaire befreundet, er gehörte wie Voltaire zum Kreis des Temple, war literarisch interessiert und ausschweifenden Festen sehr zugeneigt. So war es für Voltaire eigentlich eine geringe Strafe, als er 1716 nach Sully ins Exil verbannt wurde. Er schrieb in einem Brief:

Das Schloss liegt in einer der schönsten Landschaften der Welt. Da ist ein herrlicher Wald, in dem alle Bäume verstümmelt sind durch Schelme und Liebesleute, die sich damit vergnügt haben, ihre Namen in die Rinde zu schneiden....Sie werden vielleicht erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, dass wir in diesem schönen Wald weiße Nächte wie in Sceaux feiern (...)  Mme de La Vrillière war sehr überrascht, sich hier in einem großen Ulmensaal zu finden, erleuchtet von unzähligen Lampions und zum Klang der Instrumente großartige Leckerbissen serviert zu bekommen, gefolgt von einem Ball, auf dem mehr als hundert Masken in prächtigen Kostümen auftraten.

Sully- süße Verbannung

Mai 1716 - Oktober 1716
Voltaire lebte als aus Paris Verbannter ein knappes halbes Jahr in einem Turmzimmer des Schlosses von Sully.

Er hatte sich den Zorn des Regenten Philippe d`Orléans zugezogen, der ihn verdächtigte, ein satirisches Epigramm ("J'ai vu") herausgebracht zu haben, das Madame la Duchesse du Berry, Tochter des Regenten, des Inzests mit ihrem Vater bezichtigte:

Enfin votre esprit est guéri  
Des craintes du vulgaire;  
Belle Duchesse de Berry,  
Achevez le mystère.  
Un nouveau Lot vous sert d’époux,  
Mère des Moabites  
Puisse bientôt naître de vous  
Un peuple d’Ammonites!
 
Endlich ist Ihr Geist geheilt
Von der Furcht vor dem Vulgären;
Schöne Duchesse de Berry,
Vollenden Sie das Mysterium. 
Ein neuer Lot dient Ihnen als Gemahl
Mutter der Moabiter
Möge bald aus Ihnen hervorgehen
Ein Volk von Ammoniter !*

*Für Bibelkenner sonnenklar, für andere reichlich verschlüsselt, hier die Auflösung:  Lot flüchtete mit seinen beiden Töchtern vor dem Zorn Gottes in eine Höhle. Weil weit und breit kein Mann war, der ihnen hätte Kinder machen können, legten sich die beiden Töchter - eine nach der anderen! - zu ihrem alten Vater und jede gebar - oh Wunder! - einen Sohn, die eine Moab, aus dem das Geschlecht der Moabiter, die andere Ammi, aus dem das Geschlecht der Ammoniter hervorging.
Voltaire erklärte, das Gedicht könne nicht von ihm sein, denn in einem Gedicht von ihm, bei den Jesuiten erzogen, würden niemals Moabiter oder Ammoniter, sondern höchstens "Sodomiter" verkommen. Humor gefiel dem Regenten gut und Voltaire durfte sich nach 5 Monaten Exil wieder in Paris aufhalten. 
Der Duc de Sully erwies sich später als schlechter Freund. Als Voltaire vor dem Hause Sullys verprügelt wurde, verweigerte er ihm seine Unterstützung. Voltaire eliminierte daraufhin das Geschlecht der Sullys fast vollständig aus seiner Henriade.
Und noch etwas geschah in Sully: Voltaire verliebte sich in Suzanne de Livry, mit der er Theaterstücke einübte und die er schließlich im Oktober 1716 als seine Geliebte nach Paris entführte - um ihr dort später (1719) als Jocaste in seinem Theaterstück 'Ödipus' zu einer ersten bedeutenden Rolle zu verhelfen.
Voltaire kehrte in Paris nicht mehr in das Haus des Vaters zurück, sondern quartierte sich im Gasthof 'Au Panier Vert' in die Rue de la Calandre ein, oder erholte sich in Saint-Ange, dem Landsitz der Caumartins. Ein halbes Jahr später wurde er wegen kritischer Äußerungen denunziert, verhaftet und für 11 Monate in die Bastille gesteckt.  Die Liebe blieb dabei allerdings auf der Strecke, Suzanne vergnügte sich derweil mit einem anderen, mit seinem Freund Génonville.
1719 kommt Voltaire im Frühsommer für kurze Zeit nach Sully, wahrscheinlich um sein Theaterstück Artemire zu verfassen, reist von dort ins nahe gelegenen Schloß Bruel, dann nach Villars und ist im Oktober wieder in Sully anzutreffen ("Mein Leben verläuft von Schloß zu Schloß") und auch im Jahr 1721 scheint er sich in Sully (und in Bruel) aufgehalten zu haben. 

Ein Besuch in Sully  (2005)

 

Obwohl das Schloss Sully auch heute noch in einer der schönsten Umgebungen der Welt, dem Tal der Loire, liegt, scheint es nicht gerade ein Besuchermagnet zu sein. Sicher, es kann dort sehr zugig und kalt sein und die riesigen Mauern verströmen keine romantische Atmosphäre. Gleichwohl ist es einen Besuch wert:
Das Schloss, seit 1962 in staatlichem Besitz, bietet mit seinen sorgfältig restaurierten Räumen und interessanten Führungen vielfältige Eindrücke. Außerdem werden Sonderausstellungen, Feste, Jahrmärkte veranstaltet. Ein traumhaftes Hinterland, ein wunderschöner Park laden zu Spaziergängen oder zu Fahrradtouren ein. Wer aus Deutschland nach Sully kommt, kann hier übernachten - Sully ist ein kleines Städtchen mit einigen Hotel-Restaurants und Pensionen, die Menschen sind hilfsbereit, freundlich - wir empfehlen jedoch, nach der Besichtigung Richtung Orléans weiterzufahren und sich unterwegs ein kleines Hotel auszusuchen, meist sind sie Inhabergeführt, mit phantastischer Küche und einer temperamentvollen Wirtin - wie etwa das Hotel-Restaurant Cheval Blanc in Patay.

 

Senones

Voltaire in Senones

Senones, Das Benediktinerkloster

1754 arbeitet Voltaire im Benediktinerkloster von Senones in der berühmten Bibliothek des Klosters an seinem Essai sur les moeurs. Seine Entgegnung auf Vorwürfe, daß er sich durch den Aufenthalt in einem Kloster mit dem Feind einlasse:

Es ist eine recht gute Kriegslist, zu seinen Feinden zu gehen, um sich mit Geschützen gegen sie zu versehen.

Der Prior Dom Calmet (1672 - 1757) war Humanist, Historiker Lothringens, großer Büchersammler (jährlich kamen 1000 Bücher nach Senones) und mit der Familie du Chatelet, deren Familiengenealogie er erstellt hatte, freundschaftlich verbunden, dadurch Voltaire seit langem bekannt und von ihm geschätzt.

Senones war zu dieser Zeit Hauptstadt eines seit 1751 unabhängigen Staates, des Fürstentums von Salm-Salm, das sich zwischen Frankreich und Deutschland, selbst in viele Kleinstaaten zersplittert, geschoben hatte. Seine Herrscher, die Grafen von Salm, hatten dem Kloster die Besitzrechte und die Rechtsprechung nach und nach entrissen und sich von dem, was dieses kleine Ländchen hergab, Schlösser, Bildersammlungen und ein luxuriöses Leben verschafft.

Senones, Studien

1754 9. Juni
Voltaire kommt aus Colmar über St. Dié ins Benediktinerkloster nach Senones und arbeitet dort in der berühmten Bibliothek des Klosters an dem  Essai sur les moeurs.

1754, 2. Juli
 
Abreise in den Kurort Plombières les Bains

Nach seinem Aufenthalt in Senones schreibt Voltaire diesen Dankesbrief an den Abbé Dom Calmet

A Plombières, le 16 juillet. 

Monsieur,

den Brief, mit dem sie mich ehren, vermehrt noch mein Bedauern, ihre ehrwürdige und liebenswerte Einsamkeit verlassen zu haben. Ich fand bei Ihnen obendrein mehr Hilfe für meine Seele als ich sie in Plombières für meinen Körper finde. Ihre Werke und Ihre Bibliothek haben mehr zu meiner Bildung beigetragen als die Wasser von Plombières zu meiner Gesundheit. Man führt hier übrigens ein etwas bewegtes Leben, was mir die glückliche Ruhe noch wertvoller macht, die ich mit Ihnen genossen habe. Ich habe mir die Freiheit genommen, einige Bücher von englischen Wissenschaftlern für Ihre Bibliothek reservieren zu lassen; aber man hat Debure nur Bücher in englischer Sprache gesandt. Ich habe angewiesen, daß man ihnen lateinische Übersetzungen beigibt. Es sind wenigstens seltene Bücher, die in einer Bibliothek wie der Ihren sehr viel besser aufgehoben sein werden als bei einem Privatmann. Sie können in der schönen Sammlung, die sie haben, ja alles gebrauchen. Ich wünsche Ihnen eine bessere Gesundheit als die meine, daß die Zahl Ihrer Tage denen Ihres Ruhmes entsprechen möge und den Diensten, die Sie all denen zukommen ließen, die gekommen waren, um sich bei Ihnen zu informieren. Ich bleibe mein ganzes Leben  in der achtungsvollsten und zärtlichsten Verbundenheit, Monsieur, Ihr 
Voltaire.

Senones, zwei Besuche (2001, 2017)

Senones ist heute ein von allen Hauptverkehrswegen abgeschnittener, liebenswert-romantisch im frühen 20. Jahrhundert stehengebliebener Ort. Sein Kloster kennt nur noch wenig von der alten, glorreichen Zeit, wo die Mönche über Tod und Leben entscheiden durften. Die Revolution hat mit dem Kirchenbesitz und der Mönchsherrschaft Schluß gemacht. Noch 2001 war eine Fabrik in dem Gebäude untergebracht, die Bibliothek war und ist längst verlassen,  die Bücher sind lange schon in das nahe Épinal gebracht worden. Die Restaurierungsarbeiten haben die Bauschäden (2017) beseitigt, einige kleinere Firmen sind eingezogen und ein Veranstaltungsraum wurde eingerichtet. In der großen Klosterkirche hatte noch 2001 irgendein in der Tradition Dom Calmets stehender Geistlicher als Andenken an den Besuch Voltaires das Faksimile seines handschriftlichen Briefes an Dom Calmet ausgehängt, 2017 ist er nicht mehr vorhanden. Die Erinnerung an die von den deutschen Besatzern ermordeten Einwohner wahrt nach wie vor eine Gedenktafel am Eingang des Klosters.

In den Mauern dieses Klosters wurden
Am 5. Oktober 1944
384 Einwohner von Senones,
Vieux-Moulins und Ménil
Auf Befehl der Gestapo festgehalten
Ihren Familien entrissen
Angeklagt des Widerstandes
Einige erlitten grausame Folterungen
Bewundernswert durch ihre stolze Haltung
Und ihren Mut wurden sie alle deportiert
am 6. Oktober 
In die deutschen Vernichtungslager 
245 von ihnen kamen nicht zurück
Vergessen wir nicht
Ihr langes und schmerzensreiches Martyrium
Und vereinigen wir uns in unserem
Sie ehrendenen Angedenken.

6. Oktober 1945