Dictionnaire philosophique portatif 1764

Das philosophische Wörterbuch ist Voltaires Kampfansage an die christliche Religion und ihre Kirche, es ist die Schrift, in der man Voltaires lebendige Art zu denken am direktesten erleben kann. 

Philosophisches Taschenwörterbuch
Umschlagseite der Reclamausgabe (2020).

Stets die Fragestellung auf Beobachtung und unmittelbare Erfahrung beziehend, daraus zu erfrischend moralinfreien Schlussfolgerungen kommend und wo es geht, die herrschende Ideologie demaskierend, sind viele Artikel des philosophischen Wörterbuches noch so aktuell wie vor 250 Jahren: über die Liebe, die Schönheit, den Fanatismus, die Toleranz, die Eigenliebe und zahlreiche andere Themen. Das Buch wurde noch im Erscheinungsjahr in Genf und am 19.3.1765 in Paris verbrannt.
Wir haben die Erstausgabe, erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt, bei Reclam 2020 herausgegeben. Zu den Artikeln dieser Ausgabe bieten wir hier (siehe Tabelle) ergänzende Informationen. Außerdem haben wir – zunächst exemplarisch mit einigen Artikeln – damit begonnen, zum Philosophischen Taschenwörterbuch ein Diskussionsforum aufzubauen (unter www.traumdenken.de).

Inhalt des Dictionnaire portatif von 1764.

Bei hellgelb hinterlegten Stichwörtern kann man sich eine Inhaltsangabe und den französischen Originaltext anzeigen lassen. Bei hellrot hinterlegten Stichwörtern bieten wir zusätzlich ausführliche Kommentare zur Reclamausgabe von 2020 (deutsche Ausgabe) an. Falls es zu dem Artikel auch noch ein Diskussionsforum gibt, ist der Hintergrund hellgrün:

A B C D G L S
Abraham Baptême (Taufe) Caractère (Charakter) Destin (Schicksal) Gloire (Ehre) Luxe (Luxus) Salomon
Âme (Seele) Beau, beauté (Schön, Schönheit) Catéchisme chinois (Chinesischer Katechismus) Dieu (Gott) Grâce (Gnade) M Songes (Traumbild)
Amitié
(Freundschaft)
Bêtes (Tiere) Catéchisme du curé (Katechismus des Landpfarrers) Guerre (Krieg) Matière (Materie) Superstition (Aberglaube)
Amour (Liebe) Bien,souverain bien (Das höchste
Gut)
Catéchisme du japonais (Katechismus des Japaners)

E

H

Méchant (Böse)

T

Amour nommé socratique
(Sokratische Liebe, Homosexualität)

Bien, tout est bien (Alles ist
gut)
Certain, certitude (Gewißheit) Égalité (Gleichheit) Histoire de rois juifs (Geschichte der jüdischen Könige) Messie (Messias) Tolérance
Amour propre (Eigenliebe) Bornes de l’esprit humain
(Grenzen des menschlichen Geistes)
Chaine des êtres crées (Kette der geschaffenen Lebewesen) Enfer (Hölle)

I

Métamorphose, Métempsychose (Verwandlung, Seelenwanderung) Tirannie
(Tyrannei)
Ange (Engel)   Chaine des événements (Kette der Ereignisse)

États, Gouvernements (Staatsformen)

Idole
(Götzenbild)
Miracles (Wunder)

V

Anthropohages (Menschenfresser)   De la Chine
(Über China)
D’Ézéchiel (Über Hesekiel) Inondation (Überflutung) Moïse (Mose) Vertu (Tugend)
Apis und Ägypten   Christianisme

F

J

P

 
Apocalypse   Ciel des anciens
(Der Himmel in der Antike)
Fables (Fabeln) Jephté (Jephta) Patrie (Vaterland)  
Athée, athéisme (Atheismus)   Circoncision (Beschneidung) Fanatisme Joseph Pierre (Petrus)  
    Convulsions (Zuckungen) Faussetés des vertus humaines
(Die Falschheit der menschlichen Tugenden)
L Préjugés (Vorurteile)  
    Corps (Körper)
Fin, causes finales
(Zweckursachen)
De la Liberté (Über die Freiheit)

R

 
    Critique (Kritik) Folie (Verücktheit) Des Lois (Über die Gesetze) Religion  
      Fraude (Betrug) Lois civiles et ecclésiastiques
(Zivile und kirchliche Gesetze)
Résurrection (Auferstehung)  

Fanatismus

Fanatismus verhält sich zum Aberglauben wie Fieberwahn zum Fieber, wie der Wutanfall zum Zorn. Wer Ekstasen hat, Erscheinungen, wer Traumbilder für Realität nimmt und seine Einbildungen für Prophezeiungen, ist ein Enthusiast, wer seinen Irrsinn durch Mord umsetzt, ein Fanatiker.

Jean Diaz, zurückgezogen in Nürnberg lebend und fest davon überzeugt, dass der Papst der Antichrist der Apokalypse sei und einen Pferdefuß habe, war nur ein Enthusiast; sein Bruder, Bartholomäus Diaz, der Rom verlassen hatte, um seinen Bruder heiligerweise zu ermorden und ihn auch tatsächlich aus Gottesliebe ermordete, war einer der nichtswürdigsten Fanatiker, den der Aberglaube jemals hatte erzeugen können.
Polyeuktes1, der an einem Festtag zum Tempel geht, um Statuen und Schmuckwerk umzustoßen und zu zerschlagen, ist ein minder schrecklicher Fanatiker als Diaz, aber nicht minder närrisch.

Die Mörder des Herzogs François de Guise, von Willhelm, Prinz von Oranien, von Heinrich III. und des Königs Henri IV und von so vielen weiteren waren Kranke, besessen von der gleichen Raserei wie Diaz. Das verachtungswürdigste Beispiel von Fanatismus ist das der Bürger von Paris, die zusammenliefen um jene ihrer Mitbürger umzubringen, zu erwürgen, aus den Fenstern zu stürzen, in Stücke zu reißen, die nie zur Messen gingen2.

Es gibt kaltblütige Fanatiker: dies sind die Juristen, die jene zum Tode verurteilen, die kein anderes Verbrechen begangen haben, als nicht so zu denken wie sie selbst und derartige Juristen sind um so mehr verurteilenswert, verdienen um so mehr aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, als sie sich nicht in einem Anfall von Raserei wie Clément, Châtel, Ravaillac, Gérard, Damiens3 befanden, sondern allem Anschein nach der Vernunft hätten folgen können.
Wenn der Fanatismus erst einmal ein Gehirn vergiftet hat, ist die Krankheit nahezu unheilbar. Ich habe Verzückte gesehen, die, während sie von den Wundern des heiligen Paris4 sprachen, sich hochgradig unbeherrscht erregten: ihre Augen Feuer sprühend, mit zitternden Gliedmaßen, verzerrte die Raserei ihr Gesicht und sie hätten jeden, der ihnen widersprochen hätte, umgebracht.

Es gibt gegen diese Epidemie kein anderes Mittel als die Aufklärung, die, von Mund zu Mund weitergegeben, die Sitten der Menschen mildert und das Eindringen des Übels verhindert; denn, sobald das Übel vorankommt, bleibt einem nur die Flucht und abzuwarten, bis die Luft wieder rein ist.
Die Gesetze und die Religion erreichen gegen die Seelenpest nichts. Die Religion, weit davon entfernt, ein Heilmittel zu sein, verwandelt sich in einem infizierten Hirn zu Gift. Diese Elenden haben ohne Unterlass das Beispiel von Aod vor Augen, der König Eglon ermordete (Bibel, Richter, 3), von Judith, die Holofernes den Kopf abschnitt (bibel AT Judith, 3), während sie mit ihm schlief, von Samuel, der König Agag in Stücke hackte5(Bibel 1 samuel 15). Sie sehen nur solche Beispiele, die in der Antike achtbar waren, jedoch heute verachtungswürdig sind. Sie speisen ihre Raserei selbst aus jener Religion, die sie verurteilt. Die Gesetze sind noch sehr viel unwirksamer gegen diese Auswüchse von Raserei, es ist, als lese man einem Tobsüchtigen einen Ratsbeschluss vor.

Luxe – Luxus

Gegen den Luxus predigt man seit 2000 Jahren in Versen und in Prosa und hat andauernd an ihm Gefallen gefunden. Was hat man nicht alles über die frühen Römer gesagt? Als diese Straßenräuber die Ernte ihrer Nachbarvölker geraubt und vernichtet, als sie, um ihre armseligen Dörfer voranzubringen, die armseligen Dörfer der Volsker1 und der Samniter2zerstört haben, galten sie als verdienstvolle und bescheidene Leute, denn sie stahlen weder Gold noch Silber, noch Edelsteine, weil es nämlich dergleichen in den Flecken, die sie überfielen, gar nicht gab. Ihre Wälder und ihre Sümpfe brachten weder Fasanen noch Rebhühner hervor: man lobte ihre maßvolle Lebensweise.
Als sie gut und gerne alles geplündert hatten, alles gestohlen vom Adriatischen Golf bis zum Euphrat und genug Geist besaßen, um sich an den Früchten ihrer Raubzüge sieben bis achthundert Jahre lang zu erfreuen, als sie die Künste förderten und von allen Vergnügungen kosteten, sogar die Besiegten davon kosten ließen, da – sagt man – hörten sie auf, brave und anständige Leute zu sein.
All diese Predigten reduzieren sich darauf, zu zeigen, dass ein Dieb niemals das Abendessen, das er nahm, essen dürfe, noch die geraubte Kleidung  tragen, noch sich mit dem gestohlenen Ring schmücken dürfe. Man soll – sagt man – alles in den Fluss werfen, wenn man als ehrlicher Mensch leben will – sagt doch lieber, dass man nicht stehlen soll!  Verurteilt die Straßenräuber, wenn sie rauben, aber behandelt sie nicht als Dummköpfe, wenn sie genießen. Einmal ehrlich: als eine große Zahl der englischen Seeleute sich bei der Einnahme von Pondichéry3 und von La Havana4 bereicherten, taten sie Unrecht, als sie sich in London als Entschädigung für die Strapazen vergnügten, die sie im fernen Asien und in Amerika ausgestanden hatten?
Die Prediger hätten gerne, dass man den Reichtum verscharrt, den man durch Waffenglück, Landwirtschaft, Handel und durch die Industrie angehäuft hat. Sie führen Lakedämonien5 an, warum nicht auch die Republik von San Marino? Was gab Sparta Griechenland an Gutem? Hatte es jemals einen Demosthenes, einen Sophokles, einen Appelles, einen Phidias6? Der Luxus Athens hat große Menschen in allen Bereichen hervorgebracht, Sparta hatte einige Armeeführer und auch die in geringerer Zahl als die anderen Städte. Doch bewahre meinetwegen eine so kleine Republik wie Lakädemonien seine Armut. Man erreicht die Schwelle des Todes als jemand, dem es an allem fehlt ebenso wie jemand, der die Dinge, die das Leben angenehm machen, genießt. Der kanadische Wilde lebt vor sich hin und erreicht ebenso ein hohes Alter wie der englische Bürger mit Einkünften von fünfzigtausend Guineen. Aber wer wollte jemals das Land der Irokesen mit England vergleichen? Wenn die Republik von Ragusa und der Kanton Zug Gesetze gegen den Luxus machen, haben sie recht, denn der Arme soll nicht über seine Verhältnisse leben , so habe ich irgendwo gelesen:

Wisset vor allem: der Luxus bereichert den großen Staat
und richtet den kleinen zugrunde 7.

Wenn Sie unter Luxus Übermaß verstehen, so ist bekannt, dass Maßlosigkeit jeder Art schädlich ist, in der Enthaltsamkeit wie in der Völlerei, in der Sparsamkeit wie in der Freigiebigkeit. 
Ich weiß nicht, wie es kam, dass in meinen Dörfern, wo die Erde karg, die Steuern hoch, das Verbot, selbst gesäten Weizen zu exportieren, unerträglich ist, dennoch fast jeder Bauer einen Anzug aus gutem Stoff besitzt und gut beschuht und genährt ist. Pflügte dieser Bauer mit seinem guten Anzug aus weißem Stoff, die Haare frisiert und gepudert, den Acker, wäre das sicher größter Luxus und größte Unverfrorenheit, aber wenn ein Pariser oder Londoner Bürger, wie dieser Bauer angezogen, im Theater erschiene: da hätten wir die schändlichste und lächerlichste Knauserei.

Est modus in rebus, sunt certi denique fines
Quos ultra citaque nequit consitere rectum
(Horaz, Satiren, 1.Buch, Vers 106-107)8

Als man  die Schere erfand, und das war gewiss nicht im finstersten Altertum, was sagte man da nicht alles gegen die ersten, die sich die Nägel schnitten und den Teil der Haare, der ihnen bis über die Nase hingen? Man behandelte sie zweifellos als Angeber und Aufschneider, die sich für viel Geld  einen Gegenstand der Sünde kauften, um das Werk des Schöpfers herabzusetzen. Welch ungeheure Sünde, die Nägel zu kürzen, die Gott am Ende der Finger wachsen lässt. Das war Gotteslästerung. Noch schlimmer war es, als man Hemden und Socken erfand. Man weiß, mit welchem Hass die Räte, die solches nie getragen hatten, gegen junge Magistrate hetzten, die sich in diesem verderblichen Luxus zeigten.


1 Volsker – in einem 13jährigen Krieg (389 – 377) besiegte Rom den Volksstamm der V., der im Süden Latiums lebte.

Samniter – in 3 Kriegen (von 340 bis 290) wurden die S., die ganz Unteritalien besiedelten (Hauptstadt Capua), unterworfen. Rom konfiszierte den größten Teil des fruchtbaren Bodens – siehe hierzu Th. Mommsen, Römische Geschichte I, S 352 ff.

Pondicherry – Hafenstadt an der Ostküste Südindiens, von 1673 bis 1954 französische Kolonie, jedoch am 16. Januar 1761  im britisch-französischen Krieg um die Vorherrschaft in Indien von den Briten dem Erdboden gleichgemacht, erst nach dem Pariser Frieden 1763 (beendet den siebenjährigen Krieg) baute die französisch-indische Kompanie Pondicherry wieder als Handelszentrum auf.

La Havana – Hauptstadt Kubas, 1762 durch britisches Militär den Spaniern abgenommen, jedoch ein Jahr später, im Rahmen des Pariser Friedens  im Tausch gegen Florida zurückgegeben..

Lakädemonien – Sparta, dessen Sparsamkeit und Askese sprichwörtlich wurde.

6  Demosthenes – bedeutendster griechischer Rhetoriker, lebte von 384 – 322 in Athen, Sophokles – griechischer Dramatiker, lebte von 496 – 406 in Athen;  Appelles – bedeutendster Maler der Antike, war Hofmaler Alexander d. Gr. lebte im 4.Jhdt vuZ in Athen;; Phidias – auch Pheidias, war der bedeutendste Bildhauer der Antike, lebte in der 2. Hälfte des 5.Jhdts vuZ in Athen

7 zit. Voltaire, Le Mondain

8  Es ist allen Dingen eigen, nur in bestimmten Grenzen zu gelten
    jenseits derer sie ihre Bedeutung verlieren
(in der versmaßgerechten Übersetzung von Johann Heinrich Voß:
    Maß ist allem bestimmt und eigene scharfe Begrenzung
    Jenseits der so wenig, wie diesseits Rechtes bestehn kann.

Miracles – Wunder

Folgt man dem Wortsinn, ist ein Wunder eine bestaunenswerte Sache. In diesem Falle ist alles ein Wunder. Die bewundernswerte Ordnung der Natur, die Rotation von 100 Millionen Erden um 1 Million Sonnen, die Aktivität des Lichts, das Leben der Tiere – alles sind fortwährende Wunder. Folgt man den überlieferten Ansichten, nennen wir Wunder die Verletzung der göttlichen und ewigen Gesetze. Wenn es bei Vollmond eine Sonnenfinsternis gibt 1, ein Toter zwei Meilen Weges geht, dabei seinen Kopf in seinen Armen trägt, nennen wir das ein Wunder. Mehrere Physiker behaupten, dass es Wunder in diesem Sinne nicht gibt – und hier sind ihre Argumente: Ein Wunder ist die Verletzung von mathematischen, göttlichen, unveränderlichen und ewigen Gesetzen. Allein, nach dieser Feststellung ist das Wunder ein Widerspruch in sich. Ein Gesetz kann nicht zugleich unveränderlich und verletzt sein. Jedoch, erwidert man ihnen, kann nicht ein von Gott selbst geschaffenes Gesetz durch seinen Schöpfer auch aufgehoben werden? Sie antworten mutig mit Nein und dass das Unendlich-Weise-Wesen unmöglich Gesetze geschaffen haben könne, um sie zu verletzen. Gott hätte seine Maschine nur angehalten, um sie zu verbessern und er hat diese unermesslich große Maschine als Gott klarerweise so gut er es konnte geschaffen – sollte er eine aus der Natur der Sache folgende Unvollkommenheit bemerkt haben, hätte er sich schon von Anfang an darum gekümmert – daher wird er sie auch zukünftig nicht mehr ändern. Außerdem kann Gott nichts grundlos tun – und welcher Grund sollte ihn dazu verleitet haben, sein eigenes Werk für einige Zeit zu verschandeln? Er tut es den Menschen zu Gefallen, sagt man ihnen. Sie antworten, dass es dann wenigstens allen Menschen zu Gefallen sein müsse, denn man könne sich unmöglich vorstellen, dass die göttliche Natur für einige Menschen gesondert arbeite. Mehr noch, die menschliche Art sei nur ein kleines Etwas, sie sei, verglichen mit all den Wesen, die das Universum ausfüllen, viel weniger als ein kleiner Ameisenhaufen. Wäre es also nicht eine der absurdesten Verrücktheiten, sich vorzustellen, dass das unendliche Wesen zu Gunsten von 3 bis 400 Ameisen auf diesem kleinen Misthaufen das ewige Spiel der unermesslichen Kräfte umkehrte, die das ganze Universum in Bewegung halten? Aber nehmen wir an, dass Gott eine kleine Anzahl Menschen durch besondere Vergünstigungen herausheben wollte, war es dafür nötig, das zu verändern, was er für alle Zeiten und alle Orte geschaffen hat? Um seine Geschöpfe zu bevorzugen, gibt es gewiss keinerlei Notwendigkeit zu solcher Veränderung, solcher Unbeständigkeit – seine Vergünstigungen bestehen in seinen Gesetzen selbst. Er hat alles vorhergesehen, alles für sie gerichtet, alles gehorcht unumkehrbar der Kraft, die er der Natur für immer eingeprägt hat. Warum sollte Gott ein Wunder geschehen lassen? Um einen bestimmten Entwurf für einige Lebewesen fertig zu stellen! Er sagte demnach: „Ich habe es mit der Herstellung des Universums, mit meinen göttlichen Erlassen, meinen ewigen Gesetzen nicht geschafft, einen bestimmten Entwurf zu Ende zu bringen – ich werde meine ewigen Vorstellungen, meine unveränderlichen Gesetze ändern, um das zu erreichen, was ich durch sie nicht geschafft habe.“ Das wäre ein Eingeständnis seiner Schwäche und nicht seiner Macht. Das wäre, scheint es, in ihm der unvorstellbarste Widerspruch. Es ist also folgendermaßen:: indem man es wagt, Gott Wunder zu unterstellen, beleidigt man ihn in Wirklichkeit (wenn Menschen Gott beleidigen können): es ist, als sagte man ihm: „Sie sind ein schwaches und inkonsequentes Wesen“.

Es ist also absurd, an Wunder zu glauben und in gewisser Hinsicht bedeutet es, die Göttlichkeit zu entehren. Man bedrängt jene Philosophen und sagt ihnen: „Ihr habt gut die Unwandelbarkeit des höchsten Wesens zu rühmen, die Ewigkeit seiner Gesetze, die Gleichförmigkeit seiner unendlichen Welten – unser kleiner Dreckhaufen war von Wundern ganz und gar bedeckt, die Geschichten sind genauso voll von Wundern wie von natürlichen Ereignissen“. Die Töchter des großen Priesters Anius 2 verwandelten alles was sie wollten zu Weizen, zu Wein oder zu Öl; Athalide3 Tochter des Merkur, erstand mehrere Male auf; Äskulap4 erweckte Hippolyte zum Leben; Herkules entriss Alceste dem Tod5, Hera kehrte zur Erde zurück, nachdem sie 15 Tage in der Hölle zugebracht hatte; Romulus und Remus wurden als Kinder eines Gottes und einer Vestalin geboren, das Palladium fiel vom Himmel in die Stadt Troya6; an den Haare der Berenike wurden die Sterne festgehalten7; die Hütte von Philemon und Baucis wurde in einen phantastischen Tempel verwandelt8, der Kopf des Orpheus sprach Orakel auch nach dessen Tod9; die Mauern Thebens erbauten sich in Anwesenheit der Griechen von selbst nach dem Ton einer Flöte10; die Heilungen im Tempel des Äskulap waren unzählbar und wir haben noch immer Denkmäler, die die Namen von Augenzeugen der Wunder Äskulaps tragen.“ Nennen Sie mir ein Volk bei dem sich nicht unglaubliche Wunder zugetragen hätten, vor allem in den Zeiten, wo man kaum Lesen und Schreiben konnte. Die Philosophen der Aufklärung antworten auf diese Einwürfe mit Gelächter und mit Schulterzucken, aber christliche Philosophen meinen: „Wir glauben an die Wunder, die sich in unserer heiligen Religion zugetragen habe. wir glauben an sie aus unserem Glauben heraus und nicht nach unserem Verstand den zu hören wir wohl vermeiden, denn, wenn der Glaube spricht, das weiß man gründlich, darf der Verstand nicht ein einziges Wort sagen. Wir haben einen festen und vollkommenen Glauben in die Wunder Jesu Christus und der Apostel, aber erlauben Sie uns an zahlreichen anderen ein wenig zu zweifeln, duldet etwa, dass wir uns einem Urteil über die Geschichte eines einfachen Mannes enthalten, dem man den Beinahmen der Große gab: er versichert, dass ein einfacher Mönch sich so sehr an das Wunder tun gewöhnt hatte, dass ihm der Prior schließlich verbot, sein Talent auszuüben. Der Mönch gehorchte – aber als er sah, dass ein armer Dachdecker von einem Dach fiel, schwankte er zwischen dem Wunsch ihn zu retten und der heiligen Gehorsamkeit. Er befahl also dem Dachdecker bloß, in der Luft zu bleiben, bis er einen neuen Befehl erhalte und lief schnell, um seinem Prior den Sachverhalt zu berichten. Der Prior erteilte ihm die Absolution von der Sünde, ohne Erlaubnis mit einem Wunder begonnen zu haben und erlaubte ihm es zu vollenden, vorausgesetzt, dass er es dabei belasse und nicht wieder damit anfange. Wir gestehen den Aufklärern zu, dass man an dieser Geschichte ein wenig zweifeln sollte“. Aber wie wagt ihr zu leugnen, sagt man ihnen, dass der heilige Gervasius und der heilige Protasius dem heiligen Ambosius als Engel erschienen sind und ihm den Platz wiesen, an dem sich ihre Reliquien befanden?, dass der heilige Ambrosius sie ausgegraben hat und damit einen Blinden heilte? Der heilige Augustinus war damals in Mailand, er erzählte dieses Wunder: „Immenso populo teste‘, sagt er in seinem ‚Gotteststaat‘, Buch XXII. Da hätten wir ein bestens bezeugtes Wunder. Die Aufklärer sagen, sie glaubten nichts davon, Gervasius und Protasius seien niemandem erschienen, dass es für das Menschengeschlecht ziemlich gleichgültig sei, wo sich ihre Gerippe befinden, dass sie an diesen Blinden nicht mehr glaubten als an den des Vespasian, dass es ein unnützes Wunder sei, dass aber Gott nichts Unnützes mache und sie halten an ihren Grundsätzen fest. Meine Hochachtung für den heiligen Gervasius und den heiligen Protasius 11 erlaubt mir nicht , mich der Ansicht dieser Aufklärer anzuschließen, ich berichte lediglich von ihrem Unglauben. Sie machen großes Aufheben über eine Textstelle bei Lukian, die sich im ‚Tod des Peregrinus‘12 befindet: „Wenn nun irgendein durchtriebener Schwindler zu ihnen kommt, der die Verhältnisse zu nutzen versteht, so wird er gleich in Kurzem ein reicher Mann“. Aber da Lukian ein weltlicher Autor ist, kommt ihm unter uns keinerlei Autorität zu. Diese Aufklärer können sich nicht entschließen, an die Wunder aus dem 2. Jahrhundert zu glauben. Die Augenzeugen können noch so sehr beschreiben, wie sie, als der heilige Polykarpus, Bischof von Smyrna, zum Feuertod verurteilt, in die Flammen geworfen wurde, eine Stimme vom Himmel herabrufen hörten: „Mut, Polycarpe! Sei stark, sei ein Mann“ – während die Flammen des Scheiterhaufen sich von seinem Körper entfernten und einen Feuerpavillion um seinen Kopf bildeten und aus der Mitte des Scheiterhaufens eine Taube hervorflog, so dass man gezwungen war, Polykarpus den Kopf abzutrennen. „Wozu soll dieses Wunder gut sein?“, sagen die Ungläubigen, „wieso haben die Flammen ihre Natur verloren und warum tat dies nicht das Beil des Scharfrichters? Woher kommt es, dass so viele Märtyrer gesund und unverletzt dem kochenden Wasser entsteigen und nicht der trennenden Klinge widerstehen konnten?“ Man antwortet, dies sei der Wille Gottes. Aber die Aufklärer würden das alles gerne mit ihren eigenen Augen gesehen haben, bevor sie es glauben13. Jene, die sich für ihre Überlegungen mit der Wissenschaft wappnen, werden euch sagen, dass die Kirchenväter selbst oft zugegeben haben, dass zu ihrer Zeit keine Wunder mehr getan werden. Der heilige Chrysostomus sagt ausdrücklich: „die außergewöhnlichen Begabungen des Geistes waren selbst Unwürdigen gegeben worden, weil damals die Kirche Wunder brauchte, heute jedoch gibt man sie nicht einmal mehr Würdigen, weil die Kirche sie nicht mehr benötigt“. Dann gesteht er, dass es niemanden mehr gibt, der Tote wieder auferweckt und auch niemanden, der Kranke heilt. Der heilige Augustinus selbst, trotz des Wunders von Gervasius und Protasius, sagt in seinem Gottesstaat: „Warum gibt es die Wunder, die früher getan wurden, heute nicht mehr?“ Und gibt dafür den gleichen Grund: Cur, inquissunt, illa miracula quae praedicatis facta esse non fiunt? Possem quidem dicere nec esssaia prius fuisse quam crederet mundus, ad hoc ut crederet mundus.“14 Man entgegnet den Aufklärern, dass der heilige Augustinus trotz dieses Bekenntnisses von einem alten Flickschuster aus Hippo spricht, der als er seine Wohnung verlor, in die Kapelle der 20 Märtyrer beten ging, als er zurückkam, fand er in einen Fisch in dessen Körper ein goldener Ring war und der Koch, der den Fisch gekocht hatte, sagte zum Flickschuster: „das haben euch die 20 Märtyrer gegeben“. Daraufhin antworten die Aufklärer, dass es in dieser Geschichte nichts gebe, das den Gesetzen der Natur widerspreche, dass die Physik, dadurch, dass ein Fisch einen goldenen Ring verschluckt und ein Koch diesen Ring einem Flickschuster serviert, keinesfalls verletzt sei, dass darin keinerlei Wunder liege. Wenn man diese Aufklärer daran erinnert, dass nach dem ‚Leben des Eremiten Paul‘ des heiligen Hieronymus15 jener Eremit mehrere Unterhaltungen mit Satyren und Faunen hatte, dass ihm ein Rabe 30 Jahre lang ein halbes Brot zu seinem Mittagessen brachte, und ein vollkommen ganzes Brot am Tag, als der heilige Antonius ihn besuchen kam, könnten sie antworten, dass solches nicht absolut gegen die Regeln der Physik verstoße, dass Satyren und Faune existieren könnten und jedenfalls, wenn dieses Märchen auch kindlich sei, so hätte es doch nichts gemeinsam mit den Wundern, die der Heiland und seine Apostel vollbracht haben. Mehrere gute Christen haben die Geschichte vom heiligen Stylites des Théodoret bekämpft16. Viele Wunder. die in der griechischen Kirche als authentisch gelten, wurden von der römischen als zweifelhaft zurückgezogen, ebenso wie Wunder der römischen Kirche der griechischen suspekt sind; schließlich kamen die Protestanten und haben die Wunder der einen wie der anderen Kirche stark misshandelt. Ein jesuitischer Wissenschaftler (Ospinian) der lange in Indien gepredigt hat, beschwert sich, dass weder seine Brüder noch er selbst je ein Wunder bewirkt hätten. Xavier bedauert in mehreren seiner Briefe, dass er nicht sprachbegabt sei, er sagt, er sei unter den Japanern wie eine stumme Statue. Dennoch haben die Jesuiten geschrieben, er hätte 8 Tote wiedererweckt, was viel ist, aber man muss auch bedenken, dass er sie 6000 Meilen von hier wiedererweckte. Man hat Leute gefunden, die behauptet haben, dass die Abschaffung des Jesuitenordens in Frankreich ein viel größeres Wunder sei als die von Xavier und Ignatius17. Wie dem auch sei, alle Christen gestehen zu, dass die Wunder Jesu Christi und der Apostel von unbezweifelbarer Wahrheit sind, aber dass man mit aller Entschiedenheit an einigen Wundern zweifeln kann, die in letzter Zeit vollbracht wurden und nicht sicher belegt worden sind. Man wünschte beispielsweise, damit man ein Wunder gut belegen hätte können, dass die Akademie der Wissenschaften von Paris zugegen gewesen wäre oder die Royal Society von London und die medizinischen Fakultät, assistiert von einem Garderegiment, um die Volksmassen in Schach zu halten, die sonst durch ihre Indiskretion die Ausführung des Wunders hätten verhindern können. Man fragte eines Tages einen Aufklärer, was er sagen würde, wenn die Sonne anhielte, das heißt, wenn die Erde aufhörte, sich um diesen Stern zu drehen, wenn alle Toten wiederauferstünden und wenn sich alle Berge gemeinsam ins Meer stürzten, dies alles um irgendeine bedeutende Wahrheit zu beweisen wie etwa die der wechselhaften Gnade. „Was ich da sagen würde? antwortete der Aufklärer, ich machte mich zum Manichäer18 , ich würde sagen, es gebe ein Prinzip, das zerstört, was das andere aufgebaut hat“.


Vollmond-Sonnenfinsternis: bei Vollmond liegen sich, von der Erde aus gesehen, Sonne und Mond gegenüber, es kann also bei Vollmond nie eine Sonnenfinsternis, wohl aber eine Mondfinsternis geben (wenn der Mond so steht, dass er vom Erdschatten bedeckt wird).

2Anius, in der griechischen Religion Sohn von Apoll und Rhöo, der Tochter Bacchus‘. Anius hatte 3 Töchter Oeno, Spermo und Elais, denen von Bacchus die Gabe verliehen worden war, was auch immer in Wein, Weizen und Öl zu verwandeln – was Wunder, dass ihnen die Aufgabe zufiel, das griechische Heer vor Troja zu versorgen.

Athalide, Merkur, der Götterbote und Gott des Handels (= Hermes), soll seinen Sohn Aethalides befähigt haben, aus der Unterwelt immer wieder aufzutauchen, um für kurze Zeit bei den Menschen zu leben (nach Appolonius v. Rhodos, Die Argonauten, I,V.). Voltaire hat dieses Wunder an anderen Stellen auch so wiedergegeben, nur hier hat er ihn  zur Frau gemacht (aber fille und fils sind im Französischen nahe beieinander und Hermes und Hermaphrodit ebenfalls).

4Äskulap (Asklepios), griechischer Gott der Heilkunst, erweckte Hippolytos wieder zum Leben, den Poseidon an einem Fels zerschmettern lies.

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5Alceste, in der griechischen Religion starb sie, um Admetos, ihren Mann, zu retten. Herkules holte sie jedoch aus der Unterwelt zurück (s. Euripides Tragödie Alceste).

6Palladium, ist ein Schutzschild, mit der Abbildung der Göttin Pallas Athena versehen. Er soll angeblich auf die Stadt Troja herabgefallen sein und soll sie vor ihren Feinden geschützt haben.

7Berenike, ägyptische Königin (270 – 221 vuZ), opferte, ihrem Gelübde entsprechend, ihr prachtvolles Haar, als Ptolemaios III., ihr Mann, unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt war. Schon am Tag nach dem Opfer war das Haar aus dem Tempel verschwunden. Die Götter waren so entzückt von ihrem Opfer, dass sie daran die Sterne am Himmel aufhängten. Nach dieser Sage wurde das Sternbild ‚Haar der Berenike‘ benannt.

8Philemon und Baucis, in der griechischen Religion waren sie die Einzigen, die den inkognito reisenden Göttern Zeus und Hermes Gastfreundschaft gewährten – dafür wurden sie belohnt, indem ihre ärmliche Hütte in einen Tempel verwandelt wurde, zu dessen Priestern man sie auch gleich ernannte.

9Kopf des Orpheus, Orpheus, der Sänger, wurde in Stücke gerissen, Kopf mit Leier in einen Fluss geworfen, wo er nach der Sage weitersang, bis ihm, als er in Lesbos an Land gespült wurde, der Gott Apollo gebot, zu schweigen.

10die Mauern Thebens, Amphion, König von Theben, soll die Steine durch das Spiel seiner Leier dazu gebracht haben, sich zu den mächtigen Mauern des siebentorigen Thebens zusammenzufügen.

11Gervasius, Protasius, Zwillinge und Märtyrer zur Zeit Neros – erschienen am 17. Juni 386 dem heiligen Ambrosius von Mailand im Traum, um ihm die Grabstätte ihrer Gebeine zu weisen. Dieser benutzte diese ebenso zur Blindenheilung wie Vesapsian seinen Speichel. Man findet die Gebeine der Zwillinge heute angeblich in der Kirche San Ambrogio in Mailand, deren Schutzpatrone die beiden sind.

12Tod des Peregrinus, Lukian, Zitat übersetzt nach Lukian, Tod des Peregrinus, S.5 erschienen bei Ernst Heimeran München, 1925, 24. S (griechisch-dt). Peregrinus war eine äußerst dubiose Gestalt des Frühchristentums. Er verbrannte sich im Stadion zu Olympia selbst bei lebendigem Leib, um seine Anhängerschar zu beeindrucken. Nach etlichen Straftaten (unter anderem hatte er seinen Vater erdrosselt), hatte er sich christlichen Gemeinden angeschlossen und war eine Art christlicher Wanderprediger geworden. Dabei hatte er großen Erfolg und kam durch das Geld seiner Anhänger schnell zu Reichtum. Darauf bezieht sich das Zitat Voltaires aus dem Text Lukians. Lukian von Samosata (120 – ca. 200), war ein bedeutender griechischer Schriftsteller, der die Sitten seiner Zeit, besonders aber auch die Religion, kritisierte. ‚Über den Tod des Peregrinus‘ ist eines seiner ca 80 überlieferten Werke. Die Kirche ließ aus seinen Büchern – wo sie ihrer habhaft werden konnte – den Bericht über den Tod des Peregrinus herausschneiden, da sie sein Leben im Dienste des Christentums gerne verklärt hätte. Auf Deutsch ist die letzte Übersetzung 1925 erschienen.

13Polykarbus,  Heiliger (lebte um 100), Bischof von Smyrna – das heute Izmir heißt, starb den Märtyrertod um 150.

14Augustinus,  Heiliger: Vom Gottesstaat XXII, 8,566: „Ich würde antworten, dass sie nötig waren bevor die Welt glaubte, um zum Glauben zu führen.“

15 Eremit Paul, Paul der Eremit, genannt ‚von Theben‘ , Heiliger der ersten Stunde (von 229 bis 342!), verbrachte sein Leben in der Wüste – sein Leben beschrieb der heilige Hieronymus „Vie de Saint Paul Ermite“, das Werk kann man sich im Internet sogar bei jesusmarie.com herunterladen.

16Stylites, Heiliger (390 – 459), Simeon von Stylites war der Begründer eines Ordens von Säulenheiligen, also von Leuten, die sich zum Ziel setzen, es möglichst lange auf einer Säule lebend auszuhalten. Thédoret lebte von 393 – 460 in Syrien, war Kirchenhistoriker und hat das Leben des Simeon von Stylites beschrieben.

17Xavier, Ignatius, Francisco de Xavier (1506-1552), jesuitischer Missionar in Indien, Ignatius von Loyola (1491 – 1556), Gründer des Jesuitenordens.

18 Manichäer, eine Glaubenslehre die auf den den persischen Stifter Mani (216 – 276) zurückgeht und in Asien bis ins 14. Jahrhundert stark verbreitet war. In Europa wurden die manichäischen Glaubensgemeinschaften von der Kirche verfolgt und im 5. Jahrhundert endgültig zerstört. Der Manichäismus ist eine streng dualistisch angelegte Religion: dem Reich des Lichtes steht das Reich der Finsternis entgegen. Dieses zerstört, was jenes aufgebaut hat (-> guter Artikel in wikipedia.org ‚Manichäismus‘).


Préjuges – Vorurteile

Das Vorurteil ist eine Meinung ohne Urteil. So werden Kindern auf der ganzen Welt, bevor sie zu einem Urteil fähig wären, alle beliebigen Meinungen eingeflösst.
Es gibt universelle, notwendige und solche Vorurteile, die die Tugend selbst sind. In jedem Land bringt man den Kindern bei, Gott als Belohner und Bestrafenden zu ehren, Vater und Mutter zu lieben, Diebstahl als Verbrechen anzusehen, die absichtliche Lüge als böse –  und zwar bevor sie noch erraten können, was Laster und was Tugend wäre. 
Es gibt also sehr gute Vorurteile, nämlich diejenigen, die die Urteilskraft bestätigt, wenn man nachdenkt. Gefühle sind nicht einfach Vorurteile, sie sind etwas sehr viel stärkeres. Eine Mutter liebt ihren Sohn nicht deshalb, weil man ihr gesagt hätte, sie solle ihn lieben: sie hängt gegen ihren eigenen Willen an ihm. Man folgt nicht einem Vorurteil, wenn man einem Kind zu Hilfe eilt, das droht, in den Abgrund zu fallen, oder von einem wilden Tier gebissen zu werden. Aber es geschieht aus Vorurteil, wenn Sie einem gut gekleideten, würdig einher schreitenden und ebenso sprechenden  Mann mit Respekt begegnen. Ihre Eltern haben Sie gelehrt, dass Sie sich vor diesem Mann verneigen sollen – Sie respektieren ihn noch bevor Sie wissen, ob er Ihren Respekt verdient. Sie werden älter in Jahren und Erfahrung, Sie bemerken, dass dieser Mensch ein Scharlatan ist, voller Hochmut, Eigennutz und Arglist, Sie werden das, was Sie überprüft haben, gering schätzen und das Vorurteil weicht dem Urteil. Sie haben aus Vorurteil den Märchen geglaubt, mit denen man Ihre Kindheit ausgefüllt hat, man hat Ihnen erzählt, dass die Titanen gegen die Götter Krieg führten und Venus Adonis liebte, mit 12 haben Sie diese Märchen für Wahrheit genommen, mit 20 haben Sie sie für gut gemachte Allegorien angesehen.
Untersuchen wir ein wenig die Begriffe der verschiedenen Arten von Vorurteilen, um in unsere Angelegenheiten etwas Ordnung zu bringen. Es wird uns dabei vielleicht am Ende ergehen wie jenen, die zur Zeit der Lawschen Systeme1 bemerkten, dass sie mit eingebildeten Reichtümern gehandelt haben.

Vorurteil der Sinne
Ist es nicht eine komische Sache, dass, obwohl wir sehr gut sehen, uns unsere Augen laufend täuschen, während uns unsere Ohren nicht täuschen? Wenn Ihr richtig ausgerichtetes Ohr vernimmt: „Sie sind schön, ich liebe Sie“ ist es ziemlich gewiss, dass man nicht: „Ich hasse Sie, Sie sind hässlich“ zu Ihnen gesagt hat. Aber betrachten Sie die glatte Oberfläche eines Spiegels – man kann zeigen, dass Sie sich  täuschen, denn sie ist uneben. Sie sehen die Sonne mit ungefähr zwei Fuß Durchmesser, man kann zeigen, dass sie eine Million mal größer ist als die Erde. Es scheint, dass Gott die Wahrheit in unsere Ohren gelegt hat und die Täuschung in unsere Augen.

Studieren Sie jedoch die Gesetze der Optik, werden Sie erkennen, dass Gott 
sich nicht getäuscht hat und dass Ihnen die Gegenstände unmöglich anders als in ihrem gegenwärtigen Zustand erscheinen können.

Physikalische Vorurteile
Die Sonne geht auf, der Mond ebenfalls, die Erde bewegt sich nicht: da haben wir physikalische Vorurteile aus der Natur. Aber dass Krustentiere gut für das Blut sind, weil sie gekocht ebenso rot sind, dass der Zitteraal Lähmungen heilt, weil er zappelt, dass der Mond unsere Krankheiten beeinflusst, weil man eines Tages beobachtet hat, dass ein Kranker doppelt so hohes Fieber hatte, als der Mond abnahm: diese Vorurteile und tausend andere gehen auf Fehler von Scharlatanen in der Vergangenheit zurück, die urteilten ohne nachzudenken und die, selbst Getäuschte, Andere täuschten.

Historische Vorurteile
Die meisten Geschichten hat man ohne Überprüfung geglaubt und dieses Zutrauen war ein Vorurteil. Fabius Pictor2 erzählt, dass einige Jahrhunderte vor seiner Zeit eine Vestalin der Stadt Alba vergewaltigt wurde, als sie Wasser in ihren Krug schöpfen wollte und dann mit Romulus und Remus niederkam, die von einer Wölfin gesäugt wurden usw. Das römische Volk glaubte dieses Märchen, es untersuchte nicht, ob es zu diesem Zeitpunkt im Latium Vestalinnen gab, ob es glaubhaft ist, dass die Tochter eines Königs ihr Kloster mit einem Krug verließ, ob es wahrscheinlich war, dass eine Wölfin 2 Kinder, statt sie zu verspeisen, säugte. Das Vorurteil verfestigte sich.
Ein Mönch schrieb, dass Clovis, als er während der Schlacht von Tolbiac in große Gefahr geriet, schwur, Christ zu werden, wenn er heil herauskäme.3 Aber ist es normal, sich in einer derartigen Situation an einen fremden Gott zu wenden? Ist es nicht vielmehr so, dass die Religion, in die man geboren wurde, die größte Wirkung ausübt? Welcher Christ hätte sich in einer Schlacht gegen die Türken eher an Mohammed und nicht an die Jungfrau Maria gewandt? Es wird hinzugesetzt, dass, um Clovis zu salben, eine Taube in ihrem Schnabel die heilige Ampulle brachte und ein Engel das Lilienbanner trug, um ihn zu führen. Das Vorurteil glaubt alle derartigen Histörchen. Wer die menschliche Natur kennt, weiß sehr gut, dass der Besetzer Clovis ebenso wie die Besetzer Rolon oder Rol4  Christen wurden, um Christen besser beherrschen zu können, ebenso wie die türkischen Besatzer zum Islam konvertierten, um Moslems besser zu regieren.

Religiöse Vorurteile
Wenn Ihnen Ihre Amme erzählt hat, dass Ceres dem Getreide befiehlt, oder dass  Vichnu und Xaca mehrere Male zu Menschen wurden, oder dass Sammonocodom einen ganzen Wald abholzen kann, oder dass Odin Sie in seiner Halle zu Jütland erwartet5, oder dass Mohammed oder irgend ein anderer eine Reise in den Himmel getan hat, wenn schließlich Ihr Erzieher das einmeißelt, was Ihre Amme in Ihr Hirn eingravierte, werden Sie Ihr ganzes Leben daran tragen. Fall sich Ihr Urteilsvermögen gegen diese Vorurteile erheben wollte, werden Ihre Nachbarn, vor allem Ihre Nachbarn, Gotteslästerung schreien und sich fürchten. Euer Derwisch, in voller Angst, sein Einkommen zu verlieren, zeigt Sie bei Gericht an und der Richter wird Sie pfählen lassen, wenn er kann. Denn er will Dummköpfe regieren und glaubt, dass Dummköpfe besser gehorchen als andere. Und das wird so lange dauern, bis Ihre Nachbarn, oder der Derwisch und der Richter zu verstehen beginnen, dass die Dummheit zu nichts führt und dass der Verfolgungswahn verabscheuenswert ist. 


1 – Lawsches System,  der Schotte John Law (1671-1729), Ökonom, Bankier, kam unter der Regentschaft Phillippe d’Orléans ab 1715 zu Einfluss. Er  gab mit staatlicher Genehmigung Banknoten und Anteilsscheine auf seine Bank aus, die in barer Münze bezahlt werden mussten, als Sicherheit dienten Goldreserven und Staatsgarantien. Doch verbreitete sich nach anfänglich großem Erfolg das Gerücht mangelnder Deckung und als die Aktionäre in Panik 1720 ihre Banknoten und Aktientitel einlösen wollten, brach das Lawsche System zusammen und riss zahlreiche Teilhaber in den Ruin, einige im Verlauf der ausbrechenden Unruhen auch in den Tod. Voltaire war es gelungen, seine Anteile rechtzeitig abzustoßen..

2 – Fabius Pictor, Quintus Fabius Pictor, römischer Historiker (254 – 201 vuZ), schrieb die Annalen Roms, die wohl auch den bekannten Mythos von der Gründung Roms enthielten. 

3 – Clovis I. (dt. ‚Chlodwig I.‘, 466 – 511), erster christlicher König Frankreichs, besiegte 496 in der Schlacht bei Tolbiac (heute Zülpich) im Süden Kölns ein alemannisches Heer. Nach dem Sieg bekehrte sich Clovis zum Christentum.

4 – Rolon/Rol – Rollo (860 – 932), bedeutender Anführer der Wikinger, fiel 911 in Nordfrankreich ein und bekehrte sich zum Christentum, um die Herrschaft über die Grafschaft Rouen und das umgebende Gebiet, etwa mit der heutigen Normandie identisch, zu erlangen.

5 – Ceres, römische Göttin des Getreides, der Kultur überhaupt – nach ihr heißen Feldfrüchte ‚Cerealien‘; Vichnu, im Hinduismus Gott der Erhaltung; Xaca, Sammonocolus (Samano Khodom) Synonyme für Buddha; Odin (=Wotan), germanischer Hauptgott

Peter Hacks Blick auf Voltaire

Voltaire: Ein konservativer Umstürzler.

Peter Hacks: Über Voltaires Dramen (Ödipus Königsmörder)

Von Rainer Neuhaus*

veröffenlicht in: ARGOS Mitteilungen zu Leben, Werk und Nachwelt des Dichters Peter Hacks (1928-2003), Heft 5, November 2009: VAT-Verlag, 230 S.

Einen eigenartigen Text hat uns Peter Hacks mit seiner Analyse der Dramen Voltaires hinterlassen, so fremd, dass ihn bisher noch niemand gewürdigt hat und dass sich gewiss noch mancher Zeitgenosse daran die Zähne ausbeißen wird. Wer sich aber damit befasst, kommt nicht umhin, das sei vorangestellt, sich an der Gleichung Voltaire = Hacks  zu orientieren.
Es wäre aber zu billig, sich von dieser ausgehend direkt ins Interpretieren von biographischen Bezügen zu stürzen, obwohl man dazu durch mancherlei Hinweise im Text verführt wird – zu billig deshalb, weil Peter Hacks über Voltaire schreibt und nicht über Hacks und auch an diesem Gegenstand gemessen zu werden verdient. Der Gegenstand ist groß: Voltaire, der ein ganzes Jahrhundert verkörpert – und schwierig, denn es geht dabei um einen großen Vergessenen, den Dramatiker Voltaire – zu Unrecht vergessen, wirft Peter Hacks ein: „Ein Land, das seine Stücke nicht auf dem Spielplan hat, hat keinen Spielplan“ und in Deutschland gibt es außer den recht freien Übersetzungen des Tancrède und des Mahomet von Goethe, die ohnehin, Mahomet angeblich aus Furcht vor islamistischen Terroranschlägen, nicht gespielt werden, keine einzige brauchbare und verfügbare Ausgabe der wichtigsten Theaterstücke Voltaires.

Die Dramen Voltaires.

Sie handeln nach Peter Hacks von hochpolitischen Dingen, mit dem Zeug zu Klassikern ihres Genres und ihres Zeitalters – des Absolutismus – der zu Voltaires Lebzeiten bereits im Niedergang begriffen war. Voltaire: Klassiker also einer Epoche in der Zeit ihres Untergangs – in dieser Beschreibung erkennt sich Hacks in Voltaire sogleich wieder und benennt die Parallele in einer erstaunlichen Passage:

„Wie stellt sich Voltaire zur Wende? Was ist Genie? Genie ist die Neigung zu der Annahme, dass der Weg, den die Allgemeinheit einschlägt, wahrscheinlich der falsche ist. Genie ist die Eigenart, sich durch das Schicksal der Nation stärker beeindrucken zu lassen als durchs eigene Wohlergehen….Er empfand, was alle als Eintreten der Freiheit sahen, als Beginn der Sklaverei, er durchschaute den Scheinfortschritt als Verrat an Frankreich.“(455/456).

Doch auf diese Parallele wollen wir, wie schon  gesagt, erst später eingehen.
Alle Dramen Voltaires haben, Hacks zufolge, ein einziges Leitthema: sie betrauern den Untergang des großen Zeitalters Ludwig XIV. Das tun sie, indem sie die Schwächen, die Liederlichkeit und Verkommenheit der nachfolgenden Herrscher vor Augen führen, Schwächlinge oder Bösewichte, denen Voltaire einen wiederauferstandenen Louis XIV gegenüberstellt, als Geist in Shakespeares Manier (in Sémiramis), als legitimer Beherrscher Mekkas (Mahomet), als Laios im Drama Ödipus, oder als aus 20jähriger Gefangenschaft auftauchender Christenkönig Lusignan (Zaire).

Folgendermaßen haben wir den Inhalt der Tragödie ‚Ödipus’ nach Voltaire auf unseren Internetseiten (www.correspondance-voltaire.de) wiedergegeben:

Die Familie bringt Ödipus bekanntlich von A bis Z Verderben und Unglück, er tötet, ohne zu wissen, um wen es sich handelt, seinen Vater Laios im Kampf und heiratet Ioakaste, seine Mutter. Das Drama endet ‚klassisch‘ mit der Selbstblendung des verzweifelten Ödipus und dem Freitod Iokastes. In Voltaires Theaterstück war jedoch Iokaste vor ihrer Heirat mit Laios, – abweichend vom klassischen Vorbild des Sophokles – leidenschaftlich in Philoktet verliebt. Sie heiratete trotzdem Laios – aus Staatsraison. Und, als nach Laios Tod eine Heirat mit Philoktet erneut möglich gewesen wäre, folgt sie wieder der Staatsraison und gibt Ödipus das Jawort. Zweimal hätte Iokaste, wäre sie nur der Stimme ihres Herzens gefolgt, das Schicksal abwenden können. Durch die Einführung der Liebesbeziehung Philoktet – Iokaste als Parallelhandlung erscheint bei Voltaire das göttliche Urteil über Ödipus und Iokaste bedeutend weniger schicksalhaft und unabwendbar als in der klassischen Vorlage. Diese obrigkeitskritische Tendenz gipfelt in Aussagen wie der des Araspe mit dem zentralen Grundsatz der Aufklärung: „Ne nous fions qu’à nous, voyons tous par nos yeux, ce sont là nos trépieds, nos oracles, nos dieux“ (Vertrauen wir nur uns selbst, sehen wir alles mit unseren eigenen Augen. sie sind unsere heiligen Gefäße, unsere Orakel, unsere Götter“).

Sicher, wir haben die politische Symbolik sehr vernachlässigt – Peter Hacks würde uns das bestimmt ärgerlich vorhalten, stellt er doch den Inhalt des Ödipus folgendermaßen vor:
„Lajos, der sehr große und sehr alte König von Theben, ist von einem Verwandten zweifelhafter Herkunft, dem Ödipus, totgeschlagen worden; dieser hat die Nachfolge angetreten und des Vorgängers Leitungs-Cadres verbannt. Unermessliches Elend verbreitet sich über das Königreich Theben. Alles geht zu Grunde, und Hoffnung bleibt am Ende nur auf des toten Königs Sohn, den kleinen Prinzen“.(456)
Im weiteren Verlauf seiner Analyse vergleicht Hacks die für den Ödipusstoff zentrale Schuldthematik bei Voltaire, Corneille, Sophokles: 
– bei Voltaire sei Laios im Recht, Ödipus aber ein Gauner („Schubiak“), seine Regentschaft ein Rückschritt, seine Schuld folglich nicht tragisch, sondern wirklich, während bei Corneille Ödipus’ Regentschaft gesellschaftlichen Fortschritt bedeute, dem sich die Schuld tragisch widersetze,
– bei Sophokles liege die Schuld Ödipus’ ganz anders in der Einführung des Vaterrechts, der patriarchalischen Revolution, die Tragödie bestehe dort aus der Idee, „dass ein Mann über genug Stolz und Trotz verfügt, die Wahrheit über sich herausbringen zu wollen“(458)
Hacks sieht darin seinen Schluss bestätigt, dass Voltaires Ödipus den Niedergang Frankreichs nach dem Tod Louis XIV. widerspiegle, das Stück sei unvermittelt Gegenwartsdrama (und nichts anderes), es werde von Personen der damaligen Zeitgeschichte bevölkert, die nur andere Namen tragen: dem Inzest treibenden Regenten Philippe d’Orléans, von Bischöfen, von aus Staatsraison heiratenden Königinnen, es habe keine darüber hinaus weisende Bedeutung. Er betont damit eine wichtige Dimension zum Verständnis des Stücks, eben den politischen Rahmen, auf den es sich bezieht, bleibt aber der nicht weniger zentralen psychologisch-biographischen Ebene, auch schon in seiner Bemerkung zu Sophokles, fremd, so als wolle er um jeden Preis zum Beispiel einen psychoanalytischen Zugang vermeiden.** Ein weiterer, noch entscheidenderer Mangel ist aber die fehlende Berücksichtigung der religionskritischen und antiklerikalen Tendenz des Werkes, womit sich Hacks einer eingehenden Analyse der Tragödie entzieht.

Ohne Zweifel hat Voltaire Louis XIV sehr verehrt, er schätzte in ihm den Förderer der Künste, des Handwerks und der Wissenschaft, denjenigen, der der Kleingeisterei des Feudalismus in Europa ein Ende gesetzt hat und er verachtete dessen Nachfolger, betrachtete deren Regierungszeit als Rückschritt. Er kritisierte jedoch auch die Aufhebung des Edikts von Nantes unter Ludwig XIV. und die Ruinierung der Staatsfinanzen durch seine übermäßige Prunksucht und überflüssigen Kriege. Voltaire als politischer Schriftsteller hat den von fanatischen Kirchenkreisen angeleiteten Mächtigen immer wieder in die Speichen gegriffen, Speichen eines Rades, durch die noch zu seiner Zeit Menschen lebendigen Leibes geflochten wurden. Aber gerade diese antiklerikalen Schriften gewinnen seltsamerweise Hacks Aufmerksamkeit nicht, im Gegenteil, er sieht in ihnen Nebensächliches: „.er (Voltaire) verrennt sich in einen Kampf mit dem Christentum ….der Kampf der Aufklärung gegen den Aberglauben ist ein Rückzug aus der vorhandenen Welt ins Geisterreich“(401). Damit aber lässt Hacks mindestens den halben Voltaire beiseite. Nehmen wir an, er interessiere sich eben als Dramatiker für die andere Hälfte, die vergessene, für Voltaire, den Dramatiker, so haben wir damit nicht gerade viel gewonnen, denn bei der Interpretation der Dramen tritt uns dieselbe Problematik erneut entgegen, da nicht wenige eine klare religionskritische Stoßrichtung haben und ohne sie kaum verstanden werden können. Auch beschränkt sich Hacks nach seiner eigenen Aussage nicht einfach auf einen Teil von Voltaire, den Dramatiker, er meint durchaus den ganzen Voltaire, denn der ist ihm zufolge Dramatiker durch und durch, selbst die Erzählungen und Romane seien nichts als Dramen nach dem Untergang des Dramas: „Die Menschheit, sagen die Romane, ist die Hölle des Menschen. Die Hölle ist das Chaos, und das Chaos ist dumm. Das durchaus Vernunftlose kann kein dramatischer Entwurf sein. Der Umgang mit dem Grässlichen ist so gepflegt, dass Fühllose die Romane für Humoresken halten und Rohheit sie zur Unterhaltung liest“. (501) Hacks, soviel steht fest, hat das für sich Wesentliche bei Voltaire jenseits der Religionskritik gesucht – und gefunden.

Sehen wir uns als Nächstes Peter Hacks‘ Interpretation des Dramas an, mit dem Voltaire seinen Ruhm in Paris gefestigt hat, der „Zaire“. Hier wiederum zunächst den Inhalt, wie wir ihn auf den Internetseiten wiedergeben:

Zaire, christlich geboren, lebt seit früher Kindheit im Serail des Sultans. Orosman, sein Sohn, und Zaire lieben sich und Orosman, nach dem Tod des Vaters selbst Sultan, will Zaire heiraten. In den Verliesen des Serails schmachten seit vielen Jahren einige hundert Christen, deren Kreuzzug zur Eroberung Jerusalems auf diese Weise endete. Zwei von ihnen beschwören Zaire, von der Heirat Orosmans abzusehen, die sie als Verrat am Christentum und – denn sie erweisen sich als Zaires Vater und Bruder – an der Familientradition ansehen. Orosman vermutet im Bruder Zaires aber ihren heimlichen Liebhaber, glaubt  deren Flucht zu entdecken und ersticht Zaire als vermeintliche Verräterin. Als er die Wahrheit erfährt, entlässt der verzweifelte Orosman großmütig alle Christen aus der Gefangenschaft und tötet sich schließlich selbst.  Orosmans Tat ist von Eifersucht gesteuert, aber Zaire hat ihren Tod heraufbeschworen, weil sie, indem sie zum Christentum übergeht, der Stimme des Blutes folgt und ihre Liebe verrät.  Wenn es eine Moral in Voltaires Zaire gibt, so ist es diese: die Herkunft, die Familie, das Blut, sind Steine am Hals der Freiheit. Frei sein kann nur, wer sich von solchen Banden losmacht und seiner inneren Stimme, den eigenen Wünschen, folgt. Eine Fähigkeit, die sich Voltaire selbst lebenslang bewahrt hat.
Voltaire zeigt in Zaire, dass die Umgebung, in die man zufällig gerät, darüber entscheidet, welche Religion man annimmt, keine kann auf den einzig wahren Glauben Anspruch erheben. Die Spannung der Tragödie lebt vom Hin- und Hergerissensein Zaires zwischen ihrem schlechten Gewissen, ihrem Pflichtgefühl gegenüber Vater, Bruder und christlicher Religion und der Stimme ihrer Liebe zu Orosman. Ihr Vater, Lusignan, ist schwach und stirbt alsbald. Der Bruder Zaires, Nerestan, fällt durch seinen abstrakten Dogmatismus auf, den das Glück Zaires, seiner Schwester, kalt lässt. Bei der Gestaltung von Vater und Bruder hat Voltaire unverkennbar biographische Elemente eingearbeitet: Voltaires Vater und auch sein Bruder Armand waren gläubige Jansenisten, die ihn soweit es ging vom Erbe ausschlossen. Die Tragödie enthält keine adelskritischen Elemente außer einem Appell an alle Herrscher der Welt, sich am Großmut Orosmans ein Beispiel zu nehmen. Die Sprengkraft der Zaire liegt nicht hier, sondern in der Kritik am christlichen Fanatismus, der das Glück des Einzelnen kirchlichen Dogmen opfert und dabei ohne Gewissensbisse über Leichen geht.

Einer anderen Interpretation*** zufolge geht es Voltaire darum, Christentum und Islam, mit dem er sich in dieser Zeit intensiv zu beschäftigen begann, miteinander zu konfrontieren und dabei zu zeigen, dass die gefährlichen, den Fanatismus fördernden Überlegenheitsansprüche des Christentums unbegründet sind. So sagt Zaire vom Muslimen Orosman:
„Généreux, bienfaisant, juste, plein de vertus,
s’il était né chrétien, que serait-il de plus? (IV,1)
(Großzügig, wohltätig, gerecht, voller Tugend,
wäre er christlich geboren, was wäre er dann mehr?“)

Hacks dagegen setzt Orosman mit Philppe d’Orléans gleich, also mit einem unrechtmäßigen Herrscher und Gauner. Unrechtmäßig ist Orosman im Stück jedoch nur in den Augen von Lusignan, dem Christenkönig, an keiner Stelle aber ein Gauner. In Lusignan sieht Hacks Ludwig XIV, der im Kampf um Zaire, die für Frankreich stehe, den Sieg davon trägt und sie zum rechten Glauben, dem des Absolutismus, zurückführe. In einer Nebenlinie seiner Argumentation identifiziert Hacks Zaire dann noch mit einer Maitresse, gar mit der Pompadour, die jedoch, gesteht Hacks selbst ein, erst zwölf Jahre nach Mahomet an den Hof kam. Doch weist er diesen Einwand humorvoll zurück: „Dichter haben ihre Nasen einmal in der Zukunft stecken“(468)  und lässt sein Interpretationsschema unberührt.
Hatte Hacks bei Ödipus die religionskritische Tendenz nur übersehen, so muss er nun bei Zaire, um sein Interpretationsschema aufrecht zu erhalten, schon beide Augen schließen und außerdem die Figur des Orosman, den man getrost als Vorbild für Lessings Nathan ansehen kann, ins Gegenteil verkehren.

Sehen wir uns, um den Sachverhalt weiter zu klären, Hacks Interpretation eines der bedeutendsten Theaterstücke Voltaires, des Mahomet an. Bekanntlich stellt Voltaire im Mahomet die These der Religionsstiftung durch Priesterbetrug in den Mittelpunkt. Ist Mahomet nur ein machtbesessener Betrüger (er erfindet eine göttliche Eingebung, um seinen kühl berechneten Strategien zur Eroberung Mekkas und zur Beseitigung des alten Statthalters eine höhere Weihe zu verleihen), sind seine Anhänger bereits überzeugte Fanatiker, die vor einem Meuchelmord am Statthalter Mekkas nicht zurückschrecken. Dass sie dabei, ohne es zu wissen, ihren eigenen Vater ermorden, verstärkt die Dramatik der Handlung und denunziert gleichzeitig den Fanatismus als fremd geleiteten Irrsinn, ein immer wiederkehrendes Thema bei Voltaire.
Hacks erklärt, Mahomet sei „die Tragödie des französischen Königtums“; beim alten Statthalter Mekkas handle es sich um niemand anderen als um den alten König Louis XIV, der durch die Fronde, also Hochadel und verbündetes Bürgertum in Form der bigotten Jansenisten, beseitigt werde. Indem er die Attentäter als heimtückisch, verlogen, fanatisch, meuchelmörderisch charakterisiere, meine Voltaire den Feudaladel, der in Frankreich nach der Macht greife. Dies alles habe Voltaire in der Mahomet-Fabel bloß versteckt und damit aber einen Fehler begangen, weil die Zensur dadurch ein Verbot des als religionskritisch ausgegebenen Stücks sehr leicht durchsetzen konnte. 

Wie konnte Peter Hacks übersehen, dass Mahomet einen vorläufigen Höhepunkt in Voltaires religionskritischem Schaffen darstellt und den Auftakt für eine ganze Reihe weiterer antiklerikaler Werke bildet, derart klassisch in dieser Hinsicht, dass ihn unser bedeutendster Klassiker, Goethe, Wert genug fand, ihn selbst ins Deutsche zu übersetzen? Wie konnte Peter Hacks diese Kampfschrift gegen allen Fanatismus als bloßen Abgesang auf Louis XIV reduzieren?

Zunächst muss gesagt werden, dass Hacks Beharren auf dem gesellschaftspolitischen Bezug des Mahomet sowie auch der anderen Stücke keine geringe Leistung darstellt. Wenn er mit Voltaire im Absolutismus eine Errungenschaft und im Feudalklüngel, der Fronde, eine Gefahr, eine rückwärtsgerichtete Kraft sieht, verteidigt er den politischen Voltaire gegen seine selbsternannten humanistisch-toleranzduseligen Freunde und trägt damit möglicherweise heute mehr zur Neubelebung der Stücke bei, als durch das Wiederholen der gängigen Interpretationen. Dadurch befreit er Voltaire aus der Umarmung ziemlich verschlafener Kreise, die dessen Stücke, ihres politischen Kerns entledigt, der Langeweile und schließlich auch dem Vergessen ausgeliefert haben. Ein Drama, soll es Bestand haben, lebt nämlich, so Hacks, nicht davon, dass es die Religion kritisiert, auch nicht den Fanatismus. Ein Drama lebt davon, dass es im Kampf um die Macht Position bezieht. Wenn auch für Voltaire die Religionskritik große Bedeutung hatte und sie mit dem ‚Kampf um die Macht’ untrennbar verbunden war, so scheint auf der Grundlage der Interpretation Hacks, die Voltaire stärker in die Nähe Shakespeares rückt und seinen politischen Charakter hervorhebt, eine Wiederbelebung der Stücke heute, wo der Religion mancher Flügel gestutzt wurde, am ehesten möglich, etwa nach folgender sehr ernst gemeinten Empfehlung zur Aufführung von Voltaires ‚Sémiramis’: „Die Sémiramis“,.. ist ein empfehlenswertes Stück, und ein überaus anwendbares, falls Sie einen König haben, der nicht recht weiß, was er will“(474) – wir werden auf diese Empfehlung später noch einmal zurückkommen.


Andererseits ist das Bestreben Hacks, den antiklerikalen Kampf Voltaires auf einen Nebenkriegsschauplatz zu verbannen, ja, ihn sogar als Ergebnis der Isolierung und Emigration Voltaires in Ferney zu interpretieren, so auffällig, dass, wer das verstehen will, sich auf die zweite Ebene des Essays, nämlich seine Funktion als Positionsbestimmung Peter Hacks, einlassen muss, denn dahinter, hinter der Religionskritik, vermutet Hacks den politischen Voltaire, mit dem er sich verbunden weiß. Dieser Voltaire sei, positiv verstanden, konservativ, in der Vergangenheit das Gute sehend, das aber zunehmend zerfalle, er verteidige den Absolutismus gegen die nachfolgenden monarchischen Herrschaftsformen und Friedrich Engels täusche sich, wenn er sage, dass für Voltaire die Geschichte immer die Geschichte des Fortschritts sei. Hacks wäre zu entgegnen, dass sich Engels vielleicht täusche, was Voltaires Einschätzung der Herrschaftsformen seiner Zeit angeht, dass sich aber Hacks täuscht, wenn es um Voltaires Einschätzung der Entwicklung von Wissenschaft und Kunst, sowie industriell-handwerklicher Fertigkeiten geht. Hier steht Voltaire klar und deutlich für den ungebrochenen Fortschrittsglauben der Aufklärung, an dessen Umsetzung in die Realität er zeitlebens aktiv gearbeitet hat, etwa durch die Popularisierung der Werke Newtons, zahlreiche Artikel in seinem bahnbrechenden Philosophischen Wörterbuch und die Bekämpfung der klerikalen Bevormundung der Wissenschaft. Voltaire war im besten Sinne antiautoritär, dies nicht nur im Sinn der Religions- und Kirchenkritik, sondern auch charakterlich, was sich leicht aus seiner Biographie erschließen lässt und was unbedingt in eine Analyse seiner Dramen hineingehört, eine Unterlassung bei Peter Hacks, die, wie schon mehrfach erwähnt, mit seiner eigenen Situation im Deutschland der Wendezeit zu tun hat. Dieser Thematik wollen wir uns nun zuwenden,

Ist Hacks Voltaire?

Gilt nach Peter Hacks für die Lebenszeit Voltaires das Ablaufschema: Große Zeit des Absolutismus (Louis XIV) – Zwischenzeit (Régence) – Verfall (Louis XV).- schmählicher Untergang (Louis XVI), so für die Lebenszeit Peter Hacks das nämliche: Große Oktoberrevolution – Zwischenzeit (Ulbricht) – Verfall (Honecker) – schmählicher Untergang (Gorbatschow & Co.). Den Niedergang des Absolutismus förderte und betrieb der kleingeistige Feudaladel, den Niedergang der Sowjetunion und der DDR aber betrieben die verbürgerlichten Funktionäre der kommunistischen Parteien. War für Voltaire in seinen Dramen der Kampf gegen Engstirnigkeit und Kleingeistigkeit der rückwärtsgewandten Adelskreise bedeutend, so für Hacks der Kampf gegen die sich dem kapitalistischen Westen anpassenden ‚Entspannungspolitiker’ der kommunistischen Parteien.
Mit dieser Interpretation beleuchtet man eine schmerzhaft eingestandene Parallele, die Hacks im Schicksal Voltaires wiederfindet und ihn dem antiklerikalen, wissenschaftsfreundlichen und antiautoritären Voltaire entfremdet. Auf diesem Wege finden wir eine Positionsbestimmung des Dramatikers Peter Hacks und mit ihr den Grund für die Einschränkung seiner Voltaire-Analyse auf das Louis XIV Schema, das, je weiter die Entstehungszeit eines analysierten Stückes vom Tod Ludwigs XIV. entfernt ist, desto künstlicher wirkt. Zwar stimmt das Schema: ‚Alter König wird von jungen Nachfolgern, oft seinen eigenen Kindern, ermordet’ oft genug, jedoch ist es mehr und mehr biographisch motiviert, denn Voltaire hat im Kampf mit seinem Vater genug auszustehen gehabt, um sich als Dramatiker – nicht ganz ohne Schuldgefühle – die Freiheit zu nehmen, sich dessen Tod vorzustellen. Einer politischen Analyse wäre eine biographisch fundierte an die Seite zu stellen, ohne diese bleibt jene abstrakt, zumindest, was Voltaire betrifft.

Hacks sieht sich, wie Voltaire, als Dramatiker des Übergangs, und zwar eines Übergangs zum Schlechteren, er lebt wie dieser in einer Zeit des Rückschritts und sieht, wie er es von Voltaire behauptet, in der Zeit, aus der er kommt, einen Höhepunkt der Geschichte, von dem aus es immer nur noch bergab geht. Deshalb gilt auch für ihn, er sagt es selbst:
„Über Politik, lohnt nicht mehr zu denken… Es ist schlimm für einen politischen Dramatiker (und gibt es denn einen Dramatiker der nicht, und zwar zuvörderst, ein politischer Dramatiker wäre?), wenn über Politik nicht mehr zu denken lohnt. Heute, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, wo über Politik ebenfalls nicht mehr zu denken lohnt,, kennen ganz folgerichtig mehr Leute den Namen Calas als den einer einzigen Voltaireschen Bühnenrolle“ (492) – was Hacks ärgerlich darauf zurückführt, dass man den angeblich unpolitischen, den antiklerikalen Voltaire mehr schätzt als den konservativen Umstürzler der Tragödien. Zahlreiche Äußerungen zeigen, wie stark sich Hacks in Voltaire wiederfindet:
„Vom Endzeitdramatiker wird gefordert, dass er die Menschheit aufgibt, ohne die dramatische Gattung und damit sich selbst aufzugeben. Er muss im Untergang Haltung bewahren und trachten, kein anderer Seneca zu werden. Das Unbeschreibliche ist das Unbeschreibliche, aber wer für einen dramatischen Schriftsteller genommen werden will, sollte es doch zu beschreiben versucht haben….Nicht jedes Drama, das von Verfall handelt ist ein Verfallsdrama“.

„Was ist, wenn einer für eine Herrschaftsform einsteht, aber nicht für deren Vertreter? Was, wenn er einer Weltrichtung beistimmt und aber den Mann tadeln muss, der die Richtung bestimmt? (…) Das ist nicht die Art Zwiespalt, aus der Dramatiker entstehen. Falls einer nicht an dem Zwiespalt zerbricht, bildet sich in ihm ein dialektischer Sinn, ein Vermögen zur gerechten Einschätzung der Dinge. Aber es ist eine entsagende Objektivität und eine Dialektik des Verzichts.“(516)

„In der Regel wird ein Klassiker ungefähr mit fünfzig Jahren aus seiner Hauptstadt geworfen…“ (517)

Hacks verschwand Mitte der 70er Jahre in Deutschland in der Versenkung, Opfer der Nichtbeachtung, die nicht nur Honeckers Politik der friedlichen Koexistenz geschuldet war, sondern auch dem sozialdemokratischen Boykott, die in ihm zu Recht den unerbittlichen Gegner witterten.

„Ein Klassiker hat einen König, der meint, die Zukunft beginnt in der Gegenwart. Ein Nachklassiker hat einen toten König. Die Vergangenheit, meint das, will die Zukunft sein“ (518) Auch Hacks war Nachklassiker in diesem Sinn und konservativ zugleich: 
„Voltaire war, wie alle anderen Klassiker auch, ein konservativer Umstürzler und ein konservativer Fortschrittler. Mich wundert immer wieder, wie schwer es diese Welthaltung hat, sich Gehör zu verschaffen…. Worauf es doch ankommt, ist, beim Lauf nach dem Glück nicht das Gute, das man schon hat oder hatte, aus dem Korb zu verlieren.“(521)

Peter Hacks, so lautet daraus unsere Schlussfolgerung, interpretiert Voltaire vor dem Hintergrund seiner eigenen, deprimierenden Situation in Zeiten des Niedergangs. Dieses Interpretationsschema trägt ihn ein ganzes Stück, fast bis zu Mahomet, Wo es nicht hinreicht, baut er sich reichlich Brücken, oder ein eigenes Stück: in seiner Tragödie ‚Jona’ sorgt Hacks dafür, dass die Königin Semiramis, die er bei Voltaire etwas mutwillig auf Ludwig XV. reduziert, seinem Ablaufschema voll und ganz entspricht, denn Semiramis meint hier niemand anderen als den wankelmütigen Erich Honecker. Wir erinnern uns an seine Empfehlung: „Die Sémiramis… ist ein empfehlenswertes Stück, und ein überaus anwendbares, falls Sie einen König haben, der nicht recht weiß, was er will“(474). 
 
Hacks zieht für sich selbst aus der unbestechlichen Haltung Voltaires Stärke, dem Verständnis der Tragödien Voltaires dient er, in dem er ihren politisch kämpferischen Charakter unterstreicht, allerdings in so starken Strichen, dass daneben die für Voltaire zentrale antiklerikale Stoßrichtung und die biographisch-psychologische Dimension seiner Dramen sehr verblassen. Diese starken Striche zeichnen am Ende weniger das Porträt des großen Franzosen, als jenes des großen sozialistischen Klassikers Peter Hacks. Möglich, dass die von ihm beschworene Parallele Hacks=Voltaire 11 Jahre nach seinem Tod zu ähnlichen Ereignissen führen wird wie bei Voltaire:, 11 Jahre nach dessen Ableben schrieb man bekanntlich das Jahr 1789. Hoffen wir also auf Hacks, denn: „Dichter haben ihre Nasen einmal in der Zukunft stecken“.

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* Rainer Neuhaus ist Sozialwissenschaftler und gibt für die Voltaire-Stiftung die Internetseiten zu Voltaire www.correspondance-voltaire.de heraus
** eine psychoanalytische Analyse des Ödipus gibt José-Michel Moureaux, L`Oedipe de Voltaire, introduction à une psycholecture, Paris: Lettres modernes, 1973
*** René Pomeau, Voltaire en son temps, Paris: Fayard, 1985, 1. Bd.


Voltaire, Abbé Beichtkind Cartesianer Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Rudolf Noack, übersetzt von Erich Salewski

Leipzig Philipp Reclam jun. 1964 (DDR) deutsche Erstveröffentlichung nach 200 Jahren! Ein Auszug aus der vierbändigen Originalausgabe von 1764, wobei man sich über die Auswahl der Artikel wundern muss. Jedoch allein schon wegen des hervorragenden Anmerkungsapparates zu empfehlen. …mehr auf der Extraseite. noch gut antiquarisch erhältlich

Voltaire, Aus dem Philosophischen Wörterbuch, herausgegeben und eingeleitet von Karlheinz Stierle

Frankfurt/Main 1967 folgt exakt der deutschen Erstveröffentlichung von Rudolf Noack und ergänzt sie mit der Schrift Voltaires ‚Nachricht vom Tod des Chevalier de la Barre‘. Das Vorwort hätte man sich sparen können und stattdessen den Platz für den Anmerkungsapparat nutzen sollen, der fast vollständig gestrichen wurde.

Rousseau und Voltaire – Ein Verräter im inneren Kreis der Aufklärer – Entwurf 2011

(nach Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 15, I)

Nach einer schweren Kindheit und Jugend kam Rousseau im Alter von 30 Jahren aus Genf über Lyon nach Paris, er brauchte dringend eine Arbeit und noch wichtiger: Anerkennung. Die suchte und fand er schnell im Kreis der Philosophen um Diderot, Grimm, Madame d’Épinay, die seine Freunde wurden und ihm halfen. Während seine ersten Schriften noch der Aufklärung verbunden waren, spürte er die Chance, einen literarischen Wettbewerb zur Frage: „Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu verderben oder zu reinigen?“, zu gewinnen und 300 Francs zu verdienen, indem er eine zur Aufklärung extrem abweichende Position vertrat. 

Rousseau war nahezu mittellos nach Frankreich gekommen und nur durch die Förderung und finanzielle Unterstützung seiner Freunde konnte er als Musiker und Schriftsteller überleben. Durch sie wurde er in die der Aufklärung wohlgesonnenen Salons der ’besseren’ Kreise in Paris aufgenommen. Vor diesem Hintergrund reichte er seinen Wettbewerbsbeitrag ein. Darin, getreu seinem romantischen, sehr empfindlichen Charakter, verklärte er die Natur, machte die Zivilisation, die ihm selbst so wenig gebracht hatte, für alles Schlechte verantwortlich und fiel damit allem, was der Aufklärung lieb und teuer war, in den Rücken. Rousseau hatte zu diesem Zeitpunkt über die Herkunft des Unrechts und der Ungleichheit nur recht verschwommene Gedanken, er fühlte aber deutlich, dass es etwas mit der Ungleichverteilung des Eigentums und der mit diesem verbundenen Macht zu tun haben musste. Er versteifte sich jedoch in eine antikulturelle Haltung, mit dem Vorteil, dass sie ihm erhebliche Aufmerksamkeit und Zustimmung einbrachte – und aus dem Wettbewerb die 300 Francs. Dies geschah im Jahr 1749, als Voltaire bereits als großer Autor anerkannt war und sich entschieden hatte, nach Berlin abzureisen (26.6.1750). 

Aus Sicht der Aufklärer war Rousseau entweder ein geschickter Komödiant, der die Akademie um 300 Francs erleichtert hatte, oder ein Verräter. Sie entschieden sich zu diesem Zeitpunkt dafür, in ihm einen Komödianten zu sehen, niemand konnte sich vorstellen, dass einer aus ihrer Mitte, den sie jahrelang gefördert hatten, der ihnen so viel verdankte, der an ihren Tischen speiste, wie sie sprach und schrieb, zum Verräter werden konnte, und doch war es so. 

In seinen weiteren Schriften begrüßte Rousseau die Verbrennung der Bibliothek von Alexandria, verdammte die Wissenschaft, lobte die Religion (um sie aber später wieder zu verdammen) und er ließ an seinen Freunden keinen Verrat, auch nicht auf äußerst privater, persönlicher Ebene, aus. Von Voltaire sprach Rousseau zunächst nur mit höchster Bewunderung, denn Voltaire war ja einer der Großen der Aufklärung, in deren Kreise er sich bewegte. Voltaire dürfte Rousseau zunächst auch kaum wahrgenommen haben, erst als dieser ihn um seine Meinung zu der 300 Francs-Preisschrift bat, bedankte sich Voltaire bei ihm für die Zusendung seiner ‚Schrift gegen die Menschheit’ und fuhr fort: 

Vous plairez aux hommes, à qui vous dites leurs vérités, mais vous ne les corrigerez pas. On ne peut peindre avec des couleurs plus fortes les horreurs de la société humaine, dont notre ignorance et notre faiblesse se promettent tant de consolations. On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes; il prend envie de marcher à quatre pattes, quand on lit votre ouvrage. Cependant, comme il y a plus de soixante ans que j’en ai perdu l’habitude, je sens malheureusement qu’il m’est impossible de la reprendre, et je laisse cette allure naturelle à ceux qui en sont plus dignes que vous et moi. Je ne peux non plus m’embarquer pour aller trouver les sauvages du Canada: premièrement, parce que les maladies sont je suis accablé me retiennent auprès du plus grand médecin de l’Europe, et que je ne trouverais pas les mêmes secours chez les Missouris; secondement, parce que la guerre est portée dans ces pays-là, et que les exemples de nos nations ont rendu les sauvages presque aussi méchants que nous. Je me borne à être un sauvage paisible dans la solitude que j’ai choisie auprès de votre patrie où vous devriez être. 

(Sie finden bei den Menschen Anklang, indem Sie ihnen Wahrheiten sagen, aber keine Hinweise für Verbesserungen geben. Die schrecklichen Zustände der menschlichen Gesellschaft kann man kaum in stärkeren Farben darstellen, Zustände, in denen unsere Unwissenheit und unsere Schwächen sich so viele Tröstungen verschaffen. Man hat noch nie so viel Geist aufgewendet, um uns zurück zu den Tieren zu schicken, man bekommt Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk liest. Jedoch, es sind mittlerweile mehr als 60 Jahre, daß ich diese Gewohnheit aufgegeben habe, und ich fühle unglücklicherweise, daß es mir unmöglich ist, sie wieder anzunehmen und überlasse diese natürliche Haltung denen, die ihr mehr entsprechen als Sie und ich. Ich kann mich auch nicht einschiffen, um die Wilden in Kanada aufzusuchen. Erstens, weil mich die Krankheiten unter denen ich leide, zwingen, in der Nähe des größten Arztes Europas zu bleiben, denn ich werde bei den Bewohner Missouris nicht die gleichen Hilfen finden; zweitens, weil man jetzt den Krieg dorthin gebracht hat und das Beispiel, das unsere Nationen den Wilden gegeben haben, sie fast genauso bösartig gemacht hat wie uns selbst. Ich beschränke mich darauf, ein friedlicher Wilder in der einsamen Gegend zu sein, die ich mir ganz in der Nähe Ihres Heimatlandes ausgesucht habe, dort, wo auch Sie sein sollten.) 

Rousseau wird sich geärgert haben, seine Rache fiel aber wiederum verräterisch aus (psychologisch gesehen verständlich: er musste diejenigen verfolgen, denen er etwas zu verdanken hatte, denn sie hatten einen Unwürdigen gefördert, ihre Freundschaft musste in Hass verwandelt werden): zu dem Zeitpunkt, als der Genfer Senat Voltaire wegen seiner Theateraufführungen in Les Délices öffentlich angriff und eine Untersuchung einleitete, brachte Rousseau als Sohn Genfs (denn er war in Genf geboren), eine Schrift heraus, in der er das Theaterspielen als schädlich für die guten Sitten, die Charakterbildung etc. verurteilte. Die Schrift erleichterte es dem Senat, Voltaires Theater schließen zu lassen. Für Voltaire bestand die Gefahr einer existentiellen Bedrohung, er erkannte das Vorgehen der Inquisition. 1760 verkaufte er deshalb sein Anwesen in Les Délices und erwarb dafür in Frankreich die Grafschaft Ferney, einen heruntergekommenen Herrensitz an der Schweizer Grenze, wo er hoffte, endlich in Ruhe gelassen zu werden. 

1762 erschien Rousseaus berühmte Schrift ‚Le Contrat Social‘, in der er den Staat als abgeleitet vom allgemeinen Willen des Volkes, also diesem gegenüber nachrangig, vorstellt. Der ’Contrat’ ist ein revolutionärer Text, der nicht wenig zur Legitimation der französischen Revolution beigetragen hat. Voltaire nahm die darin enthaltenen Widersprüche auseinander und machte sich über den Verfasser lustig, bei dem es sich um einen Menschen niedriger Herkunft handle, der sich anmaße, Vorschläge für Staatsverfassungen zu veröffentlichen (die Kritik ist in Voltaires ‚Idées républicaines‘ XXIX – XXXIX nachzulesen und gehört zu den wenigen peinlichen Schriften aus seiner Feder. Sie geht am Wesentlichen vorbei und konzentriert sich auf offensichtliche Ungereimtheiten). 

In seinen 1764 an den Genfer Rat gesandten Briefen ,de la Montagne’ fiel Rousseau Voltaire erneut an, indem er ihn als Autor des ‚sermon des cinquante’, einer scharf antiklerikalen Schrift, denunzierte. Diesmal schlug Voltaire mit seinen anonym erschienenen ‚sentiments des citoyens’ zurück, auch, um sich gegen die drohende Verfolgung zu schützen. Im Wesentlichen schildert er dort Rousseau als gewissenlosen, unzuverlässigen Menschen mit abstrusen Ideen, der sich an Gott, Religion und der Welt versündigt habe. Damit war die Trennung der Aufklärung von Rousseau endgültig besiegelt.

Rousseau zog aus dem Verrat nur geringen Vorteil: er verlor fast alle seine Freunde und noch nicht einmal die Kirche dankte ihm seine Übeltaten, ganz im Gegenteil, sie stürzte sich jetzt erst recht auf den Einzelgänger, der, jeglicher Unterstützung beraubt, zunächst in das preußische Mandatsgebiet Neuenburg in der Schweiz flüchten musste. Als man ihn auch dort mehr und mehr angriff, wich er auf Einladung seines Gönners Boswell zunächst einmal nach England aus. Nach einem guten Jahr kehrte er nach Frankreich zurück, wo er teils unter falschem Namen reiste, teils aber auch geduldet wurde.

Viel stärker als Voltaire sah Rousseau das Unrecht und das Elend, das man der nichtadligen Bevölkerung antat. Auch griff er, ebenfalls anders als Voltaire, das Privateigentum an und sah in seiner Modellverfassung für Korsika eine starke Wirtschafts- und Eigentumskontrolle durch den Staat vor, den er als Instanz des allgemeinen Willens betrachtete. Da er selbst stets von Armut bedroht war und die Unterstützung von adligen Gönnern und Freunden, auf die er angewiesen war, als Demütigung empfand, stand Rousseau dem Leiden des Volkes deutlich näher als Voltaire.

Das französische Volk hat ihm sein gefühlvolles Engagement gedankt. 11 Jahre nach seinem Tod (1778 in Ermenonville) ließ man seine sterblichen Überreste ins Pantheon überführen.
Rousseau war, in seiner Kindheit zum Verrat konditioniert, zu Minderwertigkeitsgefühlen und, als Gegenpol, zu übersteigertem Geltungsdrang disponiert, ein schwieriger Mensch, vor dem man sich normalerweise besser fernhalten sollte. Durch diesen Charakter und sein Unabhängigkeitsstreben konnte er sich, anders als Voltaire, der herrschenden Klasse nie anschließen. In seiner Analyse von subjektiven Gefühlen und zwischenmenschlichen Beziehungen erweist er sich als ein Geschöpf der Aufklärung, das in sich deren Feind, die christliche Religion, nicht überwunden hatte.
In seinen Schriften zur Gesellschaftsordnung jedoch entwickelt er, radikaler als die Philosophes selbst, die Grundlagen einer zukünftigen, egalitären Gesellschaft.

Anhang

SENTIMENT DES CITOYENS.

Après les Lettres de la campagne sont venues celles de la montagne. Voici les sentiments de la ville:

On a pitié d’un fou; mais quand la démence devient fureur, on le lie. La tolérance, qui est une vertu, serait alors un vice. Nous avons plaint Jean-Jacques Rousseau, ci-devant citoyen de notre ville, tant qu’il s’est borné dans Paris au malheureux métier d’un bouffon qui recevait des nasardes à l’Opéra, et qu’on prostituait marchant à quatre pattes sur le théâtre de la Comédie. A la vérité, ces opprobres retombaient en quelque façon sur nous: il était triste pour un Genevois arrivant à Parisde se voir humilié par la honte d’un compatriote. Quelques-uns de nous l’avertirent, et ne le corrigèrent pas. Nous avons pardonné à ses romans, dans lesquels la décence et la pudeur sont aussi peu ménagées que le bon sens; notre ville n’était connue auparavant que par des moeurs pures et par des ouvrages solides qui attiraient les étrangers à notre Académie: c’est pour la première fois qu’un de nos citoyens l’a fait connaître par des livres qui alarment les moeurs, que les honnêtes gens méprisent, et que la piété condamne. Lorsqu’il mêla l’irréligion à ses romans, nos magistrats furent indispensablement obligés d’imiter ceux de Paris et de Berne, dont les uns le décrétèrent et les autres le chassèrent. Mais le conseil de Genève, écoutant encore sa compassion dans sa justice, laissait une porte ouverte au repentir d’un coupable égaré qui pouvait revenir dans sa patrie et y mériter sa grâce.Aujourd’hui la patience n’est-elle pas lassée quand il ose publier un nouveau libelle dans lequel il outrage avec fureur la religion chrétienne, la réformation qu’il professe, tous les ministres du saint Évangile, et tous les corps de l’État? La démence ne peut plus servir d’excuse quand elle fait commettre des crimes. Il aurait beau dire à présent: Reconnaissez ma maladie du cerveau à mes inconséquences et à mes contradictions, il n’en demeurera pas moins vrai que cette folie l’a poussé jusqu’à insulter à Jésus-Christ, jusqu’à imprimer que « l’Évangile est un livre scandaleux  téméraire, impie, dont la morale est d’apprendre aux enfants à renier leur mère et leurs frères, etc. » Je ne répéterai pas les autres paroles, elles font frémir. Il croit en déguiser l’horreur en les mettant dans la bouche d’un contradicteur; mais il ne répond point à ce contradicteur imaginaire. Il n’y en a jamais eu d’assez abandonné pour faire ces infâmes objections et pour tordre si méchamment le sens naturel et divin des paraboles de notre Sauveur. Figurons-nous, ajoute-t-il, une âme infernale analysant ainsi l’Évangile. Eh! qui l’a jamais ainsi analysé? Où est cette âme infernale? La Métrie, dans son Homme-machine, dit qu’il a connu un dangereux athée dont il rapporte les raisonnements sans les réfuter. On voit assez qui était cet athée: il n’est pas permis assurément d’étaler de tels poisons sans présenter l’antidote. Il est vrai que Rousseau, dans cet endroit même, se compare à Jésus-Christ avec la même humilité qu’il a dit que nous lui devions dresser une statue. On sait que cette comparaison est un des accès de sa folie. Mais une folie qui blasphème à ce point peut-elle avoir d’autre médecin que la même main qui a fait justice de ses autres scandales? S’il a cru préparer dans son style obscur une excuse à ses blasphèmes, en les attribuant à un délateur imaginaire, il n’en peut avoir aucune pour la manière dont il parle des miracles de notre Sauveur. Il dit nettement, sous son propre nom. « Il y a des miracles dans l’Évangile qu’il n’est pas possible de prendre au pied de la lettre sans renoncer au bon sens; » il tourne en ridicule tous les prodiges que Jésus daigna opérer pour établir la religion. Nous avouons encore ici la démence qu’il a de se dire chrétien quand il sape le premier fondement du christianisme; mais cette folie ne le rend que plus criminel. Être chrétien et vouloir détruire le christianisme n’est pas seulement d’un blasphémateur, mais d’un traître. Après avoir insulté Jésus-Christ, il n’est pas surprenant qu’il outrage les ministres de son saint Évangile. Il traite une de leurs professions de foi d’amphigouri, terme bas et de jargon qui signifie déraison. Il compare leur déclaration aux plaidoyers de Rabelais. Ils ne savent, dit-il, ni ce qu’ils croient, ni ce qu’ils veulent, ni ce qu’ils disent. « On ne sait, dit-il ailleurs ni ce qu’ils croient, ni ce qu’ils ne croient pas, ni ce qu’ils font semblant de croire. » Le voilà donc qui les accuse de la plus noire hypocrisie sans la moindre preuve, sans le moindre prétexte. C’est ainsi qu’il traite ceux qui lui ont pardonné sa première apostasie, et qui n’ont pas eu la moindre part à la punition de la seconde, quand ses blasphèmes, répandus dans un mauvais roman, ont été livrés au bourreau. Y a-t-il un seul citoyen parmi nous qui, en pesant de sang-froid cette conduite, ne soit indigné contre le calomniateur? Est-il permis à un homme né dans notre ville d’offenser à ce point nos pasteurs, dont la plupart sont nos parents et nos amis, et qui sont quelquefois nos consolateurs? Considérons qui les traite ainsi: est-ce un savant qui dispute contre des savants? Non, c’est l’auteur d’un opéra et de deux comédies sifflées. Est-ce un homme de bien qui, trompé par un faux zèle, fait des reproches indiscrets à des hommes vertueux? Nous avouons avec douleur et en rougissant que c’est un homme qui porte encore les marques funestes de ses débauches, et qui, déguisé en saltimbanque, traîne avec lui de village en village, et de montagne en montagne, la malheureuse dont il fit mourir la mère, et dont il a exposé les enfants à la porte d’un hôpital en rejetant les soins qu’une personne charitable voulait avoir d’eux, et en abjurant tous les sentiments de la nature comme il dépouille ceux de l’honneur et de la religion

C’est donc là celui qui ose donner des conseils à nos concitoyens (nous verrons bientôt quels conseils)! C’est donc là celui qui parle des devoirs de la société! Certes il ne remplit pas ces devoirs quand, dans le même libelle; trahissant la confiance d’un ami;il fait imprimer une de ses lettres pour brouiller ensemble trois pasteurs. C’est ici qu’on peut dire, avec un des premiers hommes de l’Europe, de ce même écrivain, auteur d’un roman d’éducation, que, pour élever un jeune homme, il faut commencer par avoir été bien élevé: Venons à ce qui nous regarde particulièrement, à notre ville, qu’il voudrait bouleverser parce qu’il y a été repris de justice. Dans quel esprit rapporte-t-il nos troubles assoupis? Pourquoi réveille-t-il nos anciennes querelles et nous parle-t-il de nos malheurs? Veut-il que nous nous égorgions parce qu’on a brûlé un mauvais livre à Paris et à Genève? Quand notre liberté et nos droits seront en danger, nous les défendrons bien sans lui. Il est ridicule qu’un homme de sa sorte, qui n’est plus notre concitoyen, nous dise: « Vous n’êtes ni des Spartiates, ni des Athéniens; vous êtes des marchands, des artisans, des bourgeois, occupés de vos intérêts privés et de votre gain. » Nous n’étions pas autre chose quand nous résistâmes à Philippe II et au duc de Savoie. nous avons acquis notre liberté par notre courage et au prix de notre sang, et nous la maintiendrons de même. Qu’il cesse de nous appeler esclaves, nous ne le serons jamais. Il traite de tyrans les magistrats de notre république, dont les premiers sont élus par nous-mêmes. « On a toujours vu, dit-il; dans le conseil des deux-cents, peu de lumières, et encore moins de courage. » Il cherche par des mensonges accumulés à exciter les deux-cents contre le petit conseil; les pasteurs contre ces deux corps, et enfin tous contre tous, pour nous exposer au mépris et à la risée de nos voisins. Veut-il nous animer en nous outrageant? veut-il renverser notre constitution en la défigurant, comme il veut renverser le christianisme, dont il ose faire profession? Il suffit d’avertir que la ville qu’il veut troubler le désavoue avec horreur. S’il a cru que nous tirerions l’épée pour le roman d’Émile, il peut mettre cette idée dans le nombre de ses ridicules et de ses folies. Mais il faut lui apprendre que si on châtie légèrement un romancier impie, on punit