Préjuges – Vorurteile

Das Vorurteil ist eine Meinung ohne Urteil. So werden Kindern auf der ganzen Welt, bevor sie zu einem Urteil fähig wären, alle beliebigen Meinungen eingeflösst.
Es gibt universelle, notwendige und solche Vorurteile, die die Tugend selbst sind. In jedem Land bringt man den Kindern bei, Gott als Belohner und Bestrafenden zu ehren, Vater und Mutter zu lieben, Diebstahl als Verbrechen anzusehen, die absichtliche Lüge als böse –  und zwar bevor sie noch erraten können, was Laster und was Tugend wäre. 
Es gibt also sehr gute Vorurteile, nämlich diejenigen, die die Urteilskraft bestätigt, wenn man nachdenkt. Gefühle sind nicht einfach Vorurteile, sie sind etwas sehr viel stärkeres. Eine Mutter liebt ihren Sohn nicht deshalb, weil man ihr gesagt hätte, sie solle ihn lieben: sie hängt gegen ihren eigenen Willen an ihm. Man folgt nicht einem Vorurteil, wenn man einem Kind zu Hilfe eilt, das droht, in den Abgrund zu fallen, oder von einem wilden Tier gebissen zu werden. Aber es geschieht aus Vorurteil, wenn Sie einem gut gekleideten, würdig einher schreitenden und ebenso sprechenden  Mann mit Respekt begegnen. Ihre Eltern haben Sie gelehrt, dass Sie sich vor diesem Mann verneigen sollen – Sie respektieren ihn noch bevor Sie wissen, ob er Ihren Respekt verdient. Sie werden älter in Jahren und Erfahrung, Sie bemerken, dass dieser Mensch ein Scharlatan ist, voller Hochmut, Eigennutz und Arglist, Sie werden das, was Sie überprüft haben, gering schätzen und das Vorurteil weicht dem Urteil. Sie haben aus Vorurteil den Märchen geglaubt, mit denen man Ihre Kindheit ausgefüllt hat, man hat Ihnen erzählt, dass die Titanen gegen die Götter Krieg führten und Venus Adonis liebte, mit 12 haben Sie diese Märchen für Wahrheit genommen, mit 20 haben Sie sie für gut gemachte Allegorien angesehen.
Untersuchen wir ein wenig die Begriffe der verschiedenen Arten von Vorurteilen, um in unsere Angelegenheiten etwas Ordnung zu bringen. Es wird uns dabei vielleicht am Ende ergehen wie jenen, die zur Zeit der Lawschen Systeme1 bemerkten, dass sie mit eingebildeten Reichtümern gehandelt haben.

Vorurteil der Sinne
Ist es nicht eine komische Sache, dass, obwohl wir sehr gut sehen, uns unsere Augen laufend täuschen, während uns unsere Ohren nicht täuschen? Wenn Ihr richtig ausgerichtetes Ohr vernimmt: „Sie sind schön, ich liebe Sie“ ist es ziemlich gewiss, dass man nicht: „Ich hasse Sie, Sie sind hässlich“ zu Ihnen gesagt hat. Aber betrachten Sie die glatte Oberfläche eines Spiegels – man kann zeigen, dass Sie sich  täuschen, denn sie ist uneben. Sie sehen die Sonne mit ungefähr zwei Fuß Durchmesser, man kann zeigen, dass sie eine Million mal größer ist als die Erde. Es scheint, dass Gott die Wahrheit in unsere Ohren gelegt hat und die Täuschung in unsere Augen.

Studieren Sie jedoch die Gesetze der Optik, werden Sie erkennen, dass Gott 
sich nicht getäuscht hat und dass Ihnen die Gegenstände unmöglich anders als in ihrem gegenwärtigen Zustand erscheinen können.

Physikalische Vorurteile
Die Sonne geht auf, der Mond ebenfalls, die Erde bewegt sich nicht: da haben wir physikalische Vorurteile aus der Natur. Aber dass Krustentiere gut für das Blut sind, weil sie gekocht ebenso rot sind, dass der Zitteraal Lähmungen heilt, weil er zappelt, dass der Mond unsere Krankheiten beeinflusst, weil man eines Tages beobachtet hat, dass ein Kranker doppelt so hohes Fieber hatte, als der Mond abnahm: diese Vorurteile und tausend andere gehen auf Fehler von Scharlatanen in der Vergangenheit zurück, die urteilten ohne nachzudenken und die, selbst Getäuschte, Andere täuschten.

Historische Vorurteile
Die meisten Geschichten hat man ohne Überprüfung geglaubt und dieses Zutrauen war ein Vorurteil. Fabius Pictor2 erzählt, dass einige Jahrhunderte vor seiner Zeit eine Vestalin der Stadt Alba vergewaltigt wurde, als sie Wasser in ihren Krug schöpfen wollte und dann mit Romulus und Remus niederkam, die von einer Wölfin gesäugt wurden usw. Das römische Volk glaubte dieses Märchen, es untersuchte nicht, ob es zu diesem Zeitpunkt im Latium Vestalinnen gab, ob es glaubhaft ist, dass die Tochter eines Königs ihr Kloster mit einem Krug verließ, ob es wahrscheinlich war, dass eine Wölfin 2 Kinder, statt sie zu verspeisen, säugte. Das Vorurteil verfestigte sich.
Ein Mönch schrieb, dass Clovis, als er während der Schlacht von Tolbiac in große Gefahr geriet, schwur, Christ zu werden, wenn er heil herauskäme.3 Aber ist es normal, sich in einer derartigen Situation an einen fremden Gott zu wenden? Ist es nicht vielmehr so, dass die Religion, in die man geboren wurde, die größte Wirkung ausübt? Welcher Christ hätte sich in einer Schlacht gegen die Türken eher an Mohammed und nicht an die Jungfrau Maria gewandt? Es wird hinzugesetzt, dass, um Clovis zu salben, eine Taube in ihrem Schnabel die heilige Ampulle brachte und ein Engel das Lilienbanner trug, um ihn zu führen. Das Vorurteil glaubt alle derartigen Histörchen. Wer die menschliche Natur kennt, weiß sehr gut, dass der Besetzer Clovis ebenso wie die Besetzer Rolon oder Rol4  Christen wurden, um Christen besser beherrschen zu können, ebenso wie die türkischen Besatzer zum Islam konvertierten, um Moslems besser zu regieren.

Religiöse Vorurteile
Wenn Ihnen Ihre Amme erzählt hat, dass Ceres dem Getreide befiehlt, oder dass  Vichnu und Xaca mehrere Male zu Menschen wurden, oder dass Sammonocodom einen ganzen Wald abholzen kann, oder dass Odin Sie in seiner Halle zu Jütland erwartet5, oder dass Mohammed oder irgend ein anderer eine Reise in den Himmel getan hat, wenn schließlich Ihr Erzieher das einmeißelt, was Ihre Amme in Ihr Hirn eingravierte, werden Sie Ihr ganzes Leben daran tragen. Fall sich Ihr Urteilsvermögen gegen diese Vorurteile erheben wollte, werden Ihre Nachbarn, vor allem Ihre Nachbarn, Gotteslästerung schreien und sich fürchten. Euer Derwisch, in voller Angst, sein Einkommen zu verlieren, zeigt Sie bei Gericht an und der Richter wird Sie pfählen lassen, wenn er kann. Denn er will Dummköpfe regieren und glaubt, dass Dummköpfe besser gehorchen als andere. Und das wird so lange dauern, bis Ihre Nachbarn, oder der Derwisch und der Richter zu verstehen beginnen, dass die Dummheit zu nichts führt und dass der Verfolgungswahn verabscheuenswert ist. 


1 – Lawsches System,  der Schotte John Law (1671-1729), Ökonom, Bankier, kam unter der Regentschaft Phillippe d’Orléans ab 1715 zu Einfluss. Er  gab mit staatlicher Genehmigung Banknoten und Anteilsscheine auf seine Bank aus, die in barer Münze bezahlt werden mussten, als Sicherheit dienten Goldreserven und Staatsgarantien. Doch verbreitete sich nach anfänglich großem Erfolg das Gerücht mangelnder Deckung und als die Aktionäre in Panik 1720 ihre Banknoten und Aktientitel einlösen wollten, brach das Lawsche System zusammen und riss zahlreiche Teilhaber in den Ruin, einige im Verlauf der ausbrechenden Unruhen auch in den Tod. Voltaire war es gelungen, seine Anteile rechtzeitig abzustoßen..

2 – Fabius Pictor, Quintus Fabius Pictor, römischer Historiker (254 – 201 vuZ), schrieb die Annalen Roms, die wohl auch den bekannten Mythos von der Gründung Roms enthielten. 

3 – Clovis I. (dt. ‚Chlodwig I.‘, 466 – 511), erster christlicher König Frankreichs, besiegte 496 in der Schlacht bei Tolbiac (heute Zülpich) im Süden Kölns ein alemannisches Heer. Nach dem Sieg bekehrte sich Clovis zum Christentum.

4 – Rolon/Rol – Rollo (860 – 932), bedeutender Anführer der Wikinger, fiel 911 in Nordfrankreich ein und bekehrte sich zum Christentum, um die Herrschaft über die Grafschaft Rouen und das umgebende Gebiet, etwa mit der heutigen Normandie identisch, zu erlangen.

5 – Ceres, römische Göttin des Getreides, der Kultur überhaupt – nach ihr heißen Feldfrüchte ‚Cerealien‘; Vichnu, im Hinduismus Gott der Erhaltung; Xaca, Sammonocolus (Samano Khodom) Synonyme für Buddha; Odin (=Wotan), germanischer Hauptgott