Der Fall de la Barre

Das Terrorurteil von Abbéville vom 1. Juli 1766

Der Chevalier de la Barre gehörte in Abbéville zu einem kleinen Kreis von jungen Leuten, die sich an den Gedanken der Aufklärung orientierten und damit in klarer Opposition zu dem herrschenden klerikal-totalitären Klima ihrer Umgebung standen. Sie lasen die Werke der Aufklärung, tauschten erotische Literatur untereinander und provozierten von Zeit zu Zeit die Bürger der Stadt. Sie waren mehr als nur die übliche aufbegehrende Jugend, dieses Mehr bestand eben in ihrem gemeinsamen Interesse an der Aufklärung und ihrer antiklerikalen Haltung.

de la Barre

Die weiteren Ereignisse sollten zeigen, dass solches Freidenkertum auch für Adlige – denn der Kreis um den Chevalier de la Barre und seinen Freund d’Etallonde setzte sich ausnahmslos aus jungen Adligen zusammen –  mit höchsten Gefahren verbunden war. Vor allem dann, wenn ihre Beziehungen, denn Beziehungen waren damals (wie heute) alles, nicht hoch genug hinaufreichten, um im Notfall schützende Hilfe mobilisieren zu können.

Der Chevalier und seine Freunde waren keine Hippies, man müsste sie, wollte man sie in die heutige Zeit ‚übersetzen’ mit jungen Leuten, sagen wir in Saudi Arabien, vergleichen, die dort westliche Musik hören und die Werke der Aufklärung lesen, sich über die Mullahs lustig machen, sich also ersichtlich deren Befehlsgewalt entziehen. Der Kreis um den Chevalier de la Barre tat sogar mehr, die jungen Leute missachteten die Kirche demonstrativ – als sie nämlich an einer Prozession vorbeigingen, zogen sie nicht – wie ‚es sich gehörte’ den Hut und beugten nicht ehrerbietig ihre Knie, sondern gingen einfach eilig vorüber, weil, wie sie später erklärten, sie zum Essen erwartet wurden.

Das war der Moment, auf den Kirchenleute und bigotte Spießer gewartet hatten. Aus dieser Lappalie sollten sie innerhalb eines halben Jahres einen Strick gedreht haben, dem sich die Freunde nicht mehr entwinden konnten und die Verurteilung des Chevalier de la Barres zur Folter und zum Tode zur Folge hatte. 

Am 1.Juli 1766 wurde in Abbéville der erst 20 jährige François Jean Lefebvre, Chevalier de la Barre, zunächst gefoltert, mit Schildern behangen, die die Aufschrift trugen: „Gottloser, Lästerer, abscheulicher und verdammenswerter Frevler“, so einer fanatisierten Menge im Büßerhemd zur Schau gestellt und gezwungen, vor der Kirche niederzuknien. Hier wurde ihm die Zunge herausgeschnitten*, man führte ihn zum Richtplatz, wo ihm vom Henker der Kopf abgeschlagen wurde. Seinen Körper verbrannte man auf dem Scheiterhaufen und mit ihm das philosophische Wörterbuch Voltaires, denn es war nicht das geringste Verbrechen des Chevalier de la Barres, dieses Buch besessen und darin gelesen zu haben.
Dem Chevalier de la Barre war zur Last gelegt worden  „absichtlich am heiligsten Sakrament vorbeigegangen zu sein, ohne den Hut zu ziehen oder niederzuknien“, gotteslästerliche Lieder gesungen und infame Bücher gelesen zu haben. Außerdem habe er das Kreuzeszeichen, die Verwandlung in Wein und den kirchlichen Segen profaniert. Den ersten Vorwurf, vor einer Prozession nicht wie vorgeschrieben den Hut gezogen zu haben, hatte Chevalier de la Barre zugegeben und ebenfalls eingeräumt, in betrunkenem Zustand einmal blasphemische Lieder gesungen zu haben. Auch den Besitz des philosophischen Wörterbuches hatte er nicht bestritten.
Die bösartige Kirche im Verein mit einer willfährigen Justiz ließ ihm keine Chance. Während erstere mit Massenaufläufen und Bittprozessionen für die nötige Pogromstimmung sorgte und ein Moratorium verfügte, das ist ein allgemeiner Aufruf an die Bevölkerung zur Denunziation, erledigte die königliche Justiz ihre dreckige Arbeit, die darin bestand, wider jeglicher Beweislage ein Exempel zu statuieren und mit der Hinrichtung des Chevaliers die Vertreter der Aufklärung, allen voran Voltaire, in Angst und Schrecken zu versetzen. Aus diesem Grunde musste der Chevalier de la Barre sterben und das Urteil war keineswegs nur das Urteil eines verblendeten Provinzrichters: es wurde in einer Art Revisionsverfahren vom obersten Gerichtshof, dem Pariser Parlament, vor das der Chevalier de la Barre als bereits zum Tode Verurteilter geladen wurde und schließlich vom König Ludwig XV. selbst, bestätigt.

* Zu diesem Punkt gibt es eine Debatte: ob nicht, ob doch – aber es ist noch keinem gelungen, die überlieferte Rechnung des Henkers, auf der er das Zungeherausschneiden berechnet, wegzudiskutieren.

Literatur

  • Voltaire, Relation de la Mort du Chevalier de La Barre,1766, 24 p.
  • Voltaire, Le cri du sang innocent, 1775 In diesem an Louis XVI gerichteten Text setzt sich Voltaire im Namen des Herrn von Etallonde, den man wie den Chevalier de la Barre in Abbéville zum Tode verurteilt hatte, für die Aufhebung des Urteils ein. Etallonde war seit 9 Jahren im preußischen Exil, wo er auf Vermittlung Voltaires Offizier geworden war. D’Etallonde  verfolgte jedoch nicht das Ziel Voltaires zur Aufhebung des Urteils, sondern wollte, gleich wie, zurück nach Frankreich und verfasste ein Gnadengesuch, das ihm schließlich auch gewährt wurde.
  • Max Gallo, Que passe la justice du Roi, Paris 1987 Editions Robert Laffont, dt Ausgabe, übersetzt von Peter Hahlbrock: Im Namen des Königs Frankfurt/M 1989, 351 S. Gallo arbeitet die Vorgänge um den letzten französischen Inquisitionsprozess in Abbéville  akribisch auf, vernachlässigt jedoch erstaunlicherweise die Rolle der Kirche. Dies treibt er sogar so weit, dass er das kurz vor der Hinrichtung geschriebene Ersuchen des örtlichen Bischofs um Milde für den Chevaliers de la Barre für bare Münze ausgibt. Dies obwohl er dessen Denunziationsaufruf von der Kanzel, die Hassprozessionen, die  Hetze der Kirchenleute durchaus erwähnt, aber offenbar nicht als elementaren Bestandteil der Inquisition, die in scheinheiliger Regelmäßigkeit noch bei jedem Terrorprozess  den weltlichen Arm zur Milde aufforderte, begreift. Stattdessen stellt er die subjektiven Rachegedanken des Richters, die dieser vermutlich auch gehabt haben wird, in den Vordergrund. Dies ist um so sträflicher, weil Gallo dadurch den Prozess von Abbéville individualisiert, wo er das bösartig-systematische Vorgehen und die Zusammenarbeit der weltlichen und klerikalen Verfolger hätte herausarbeiten müssen.

Internet:

  • www.atheisme.org/statue.html auf dieser Seite wird ein kleiner interessanter Streit anlässlich der Wiedererrichtung der Statue de la Barres am 24.2.2001 (siehe die Abbildungen auf dieser Seite) auf dem Place Nadar, Montmartre, dokumentiert.
  • www.laicite1905.com die  Seiten der ‚Association le Chevalier de la Barre‘ – etwas lasch und nicht richtig gepflegt.

Die Statue des Chevalier de la Barre befand sich seit 1885 direkt vor dem Eingang der Kirche Sacre Coeur. 1927 verbannte man sie in einen kleinen Park neben der Kirche, um sie 1941 für Kanonenkugeln einzuschmelzen. 2001 hat man die Statue wieder errichtet, ‚vergaß‘ dabei aber das philosophische Wörterbuch Voltaires und den Scheiterhaufen, die ursprünglich am Fuß der Statue zu sehen waren.

Erinnerungstafel der Stadt Paris am Platz Nadar, unweit Sacre Coeur